Vom Bord der Titanic 2.0: Friedensverhandlungen oder ab an den Dnipro? Über die Wahl, die wir im Ukraine-Krieg haben

Telepolis veröffentlichte kürzlich eine Besprechung eines Artikels zu den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Frühling 2022. Dieser erschien jüngst in Foreign Affairs (Bezahlschranke). Die Reaktionen auf den Telepolis-Artikel waren überwiegend negativ, fast zu erwarten, ist doch die Geschichte dieser Verhandlungen, wie der Guardian formulierte, „schlecht verstanden“.

In Foreign Affairs verfuhren die Autoren auch ein bisschen demagogisch. Sie präsentierten ihr Arbeitsergebnis so, als hätten sie einen Volltreffer gelandet. Im ersten Teil des Untertitels bezeichneten sie ihr Stück als „A hidden history of Diplomacy“ – eine verborgene Geschichte der Diplomatie.

Tatsächlich war das Geschehen für Interessierte längst transparent. Den Aufschlag machte Kiew, die Umgebung von Präsident Selenskyj, am 5. Mai 2022. Diese hatte die Verbindung zwischen dem Besuch von Boris Johnson in Kiew im April 2022 und dem Scheitern der Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 hergestellt. Aber im Westen, in Politik und Medien erschien es so, als wäre die „Beinahe-Einigung“ zwischen der Ukraine und Russland im Frühling 2022 – man kann es auch die verspielte Chance auf Frieden nennen – nicht geschehen. Darüber wurde nicht gesprochen. Gesprochen und geschrieben wurde allein über den „Sieg-Frieden“, so als wäre der militärische Sieg der Ukraine über Russland, das Ziel der bedingungslosen russischen Kapitulation, seit dem Tag der Aggression allgemeine politische Strategie gewesen.

Die Berliner Zeitung veröffentlichte zwar zur Arbeit von Funke, Kujat und von Schulenburg über diese Verhandlungen, aber vorsichtshalber gab es dort auch den Link zur Gegenposition. Danach war es Putin, der den Krieg in die Länge ziehen wollte.

Am 14. September 2022 berichtete Reuters, gestützt auf drei Quellen, Putin habe im Frühjahr 2022 keinen Deal gewollt. Er hätte die „volle Invasion der Ukraine“ bevorzugt. Der Kreml kommentierte, diese Meldung sei unwahr und entbehre jeder faktischen Grundlage. Alle späteren Äußerungen der direkt an den Verhandlungen Beteiligten und die neue Veröffentlichung in Foreign Policy belegen, dass Reuters falsch berichtete.

Der Spiegel wiederum kommentierte am 24.04. 2024 das Gerichtsurteil im Fall Ulrike Guerot. Dort hieß es, sie habe sich seit Kriegsbeginn für Friedensverhandlungen eingesetzt. Kritiker hätten ihr vorgeworfen, damit „das Verhältnis von Angreifer und Angegriffenem… teilweise umzukehren.“

Guerot in bester Gesellschaft

Tatsächlich setzten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine drei Tage nach Kriegsbeginn ein. Auch der Bundeskanzler sprach sich zunächst für einen schnellen verhandelten Frieden aus. Wenn das damals auch Frau Ulrike Guerot gefordert haben sollte, so war sie in bester Gesellschaft. Nur wer das alles nicht wahrhaben will oder nicht verstanden hat, wie der Hase lief, kommt auf die abstruse Idee, Verhandlungen als Schuldverschleierung anzusehen. Aber Emotionen und sich darauf gründende Propaganda sind nicht notwendigerweise logisch.

Mit diesem Problem hatten auch die Foreign Affairs-Autoren zu kämpfen. Denn mit ihrem Artikel wollten sie darlegen, wie nahe sich beide Verhandlungsparteien damals kamen. Sie glauben, daraus leite sich hinreichend Stoff für etwaige künftige Verhandlungen ab. So ist auch der Rest des Untertitels formuliert. Aber wie macht man das, wenn man dabei gleichzeitig sofort die unwahre Behauptung des anlasslosen Kriegs und der naturhaften Aggressivität Russlands ans Licht bringt und die Mär vom Vernichtungskrieg gegen die Ukraine beerdigt?

Bundeskanzler will sich nicht erinnern

Es ist ein unlösbares Problem, das dazu führte, dass diese Verhandlungen bisher im Mainstream keine Rolle spielten. Auch der Bundeskanzler will sich nicht erinnern, bei diesen Verhandlungen irgendeine Rolle gespielt zu haben. Denn wer verhandelt, Forderungen aufstellt, Kompromisse eingeht, hat Interessen und Ziele. Das russische Hauptinteresse war die Neutralität der Ukraine. Alle ukrainischen Beteiligten an den Verhandlungen stimmten in ihren Aussagen über die Verhandlungen darin überein. Dafür war Russland zu weitgehenden Zugeständnissen bereit: Über die Krim sollten Gespräche geführt werden, und – aber darüber schrieben die Autoren in Foreign Affairs nicht – Russland hätte sich wieder aus dem Donbass zurückgezogen. Das notierte die Expertin Fiona Hill im September 2022, ebenfalls in Foreign Affairs. Sie schrieb damals allerdings auch, Lawrow hätte im Juli 2022 gesagt, dass dieser Kompromiss keine Option mehr wäre.

Ein weiterer Grund lag darin, dass sich der Westen im März 2022 noch nicht völlig einig war, wie auf den Krieg geantwortet werden sollte – mit einer Alles-oder-Nichts-Strategie oder auch mit einem Element von Verhandlungen, um den militärischen Teil des Konflikts aus der Welt zu schaffen? Denn die Wirtschaftssanktionen enthalten keine Bindung an ein Kriegsende.

Für ein verhandeltes Kriegsende plädierten damals zunächst Deutschland und Frankreich, die USA schwankte, nur die Briten waren entschlossen, Russland über die Sanktionen hinaus nun auch eine militärische Niederlage zu verpassen, die sich gewaschen hatte. Das geht aus den Berichten des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennet hervor, der den Stand der Verhandlungen mit allen vier genannten Staaten regelmäßig besprach. Als Frau Baerbock am 25. Februar 2022 hinausposaunte, die westlichen Wirtschaftssanktionen würden Russland „ruinieren“, waren noch nicht alle Karten aufs Militärische gesetzt. Laut Bidens Auftritt in Warschau am 26.03. 2024 kämen die westlichen Sanktionen in ihrer Wirkung der Anwendung militärischer Mittel gleich. Aber in dieser Rede ging Biden darüber hinaus. Die USA hatten entschieden: Russland sollte für den völkerrechtswidrigen Akt gegen die Ukraine schwer büßen, wirtschaftlich zerstört werden. Zudem sei es Zeit für einen regime change und für eine „heilige“ Schlacht, die in der unumkehrbaren militärischen Schwächung Russlands mündet. In unterschiedlichen Variationen wabern diese Ziele bis heute durch den politischen Raum. Frankreich und Deutschland sprangen auf diesen Zug auf.

Das könnte sich als wichtig für die Zukunft erweisen

Aber zurück zur Veröffentlichung in Foreign Affairs zum Beinahe-Frieden 2022. Warum erfolgte sie gerade jetzt? Den Autoren ging es darum zu demonstrieren, dass sowohl Putin als auch Selenskyj 2022 eine beeindruckende Kompromissfähigkeit in diesen Verhandlungen zeigten, die parallel zu den Kriegshandlungen stattgefunden hatten. Beinahe wären sie sogar geglückt. Das könnte sich als wichtig für die Zukunft erweisen, glauben sie. Falls es wieder zu Verhandlungen käme. Der Guardian schloss sich dieser Lesart an.

Einer der Autoren, Samuel Charap, kommt von RAND. Er war Co-Autor der RAND-Studie 2023, die sich damit befasste, wie man einen langen Krieg in der Ukraine verhindern könnte. Ich hatte sie damals analysiert und kam zum Schluss, dass RAND den Krieg lieber gestern als heute beendet sehen wollte. Die Kriegslage war schon damals nicht gut, und Russland nicht das große Hegemonialproblem der USA. Das heißt China. RAND verlinkte die Foreign Affairs-Veröffentlichung auch auf der eigenen Webseite. Daher sollte man den Artikel im Foreign Affairs zuallererst als ein Plädoyer für ein verhandeltes Kriegsende lesen, das dem US-Establishment schmackhaft gemacht werden soll.

Da in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine 2022 Sicherheitsgarantien eine Rolle spielten, die die ukrainische Seite wollte, beschäftigten sich die Autoren auch damit. Wieso, fragten sie, sollte ein westliches Land bereit sein, einer neutralen Ukraine Sicherheitsgarantien zu geben, die strikter wären als die Nato-Beistandsklausel nach Art. 5, wenn man sich gleichzeitig nicht zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine entschließen könne? Auch Bennet, der ehemalige israelische Ministerpräsident, hielt dieses ukrainische Verlangen für Traumtänzerei. Es ist die stärkste Passage in der ganzen Veröffentlichung. Sie enthält überdies eine bemerkenswerte Schlussfolgerung, die verdrehter nicht sein könnte: Moskau hatte die Ukraine angegriffen, die Nato-Mitglied werden wollte. Folglich, schlussfolgern die Autoren, würde Russland auch nicht davor zurückschrecken, eine neutrale Ukraine anzugreifen, die westliche Sicherheitsgarantien hätte. Das wiederum schrecke den „risikoscheuen“ Westen ab, derartige Garantien zu geben.

Die Erzählung von der naturhaften Aggressivität Russlands

Auf diese Weise versuchten die Autoren, die Erzählung von der naturhaften Aggressivität Russlands zu retten und den Kernkonflikt zu verschleiern. Denn es ist ein himmelweiter Unterschied, ob in einer Nato-Ukraine westliche Waffen stationiert würden, die flink Moskau erreichen könnten, oder ob in einer neutralen Ukraine so etwas ausgeschlossen wäre. Wegen des 2+4-Vertrags gibt es in Ostdeutschland keine US-Basis oder US-Atomwaffen. Wegen der Nato-Osterweiterung hofft Polen längst auf eine US-Atomwaffenstationierung und „nukleare Teilhabe“. Als die Sowjetunion einst in US-Nähe, auf Kuba, Atomwaffen stationierte, kam es zur Kuba-Krise, denn das war für die USA eine tiefrote Linie. Aus welchem Grund sollte Russland eine militärische Nato-Positionierung in nächster Nähe anders beurteilen? Weil die Nato so lieb ist, rein defensiv? Das ist ein anderes Volksmärchen fürs einfache Gemüt. Die US-Nuklearwaffen unterliegen der US-Entscheidung anhand ihrer Militärdoktrin, und die ist nicht rein defensiv, sondern hochflexibel.

Deutsche „nukleare Teilhabe“ heißt lediglich: Die US entscheiden, wann sie den Einsatz von Atomwaffen für nötig halten, also in „extremen Situationen“. Deutsche Soldaten dürfen sie mit ins Ziel fliegen. Mitentscheidung über den Einsatz ist nicht vorgesehen. Die Stationierung solcher Waffen auf eigenem Territorium führt zu Stationierungsentscheidungen von US-Soldaten, und beides gilt in der Logik der nuklearen Abschreckung als ergänzender Schutz zur schwammigen Nato-Beistandsverpflichtung vor einer möglichen Aggression.

Die Alternativposition zum verhandelten Kriegsende war in Foreign Affairs vom 22. April nachzulesen: Die Europäer sollten zur Verstärkung der ukrainischen Armee ihre Truppen in die Ukraine schicken. Das wäre (weil der Krieg in Europa stattfände) schließlich „normal“. Also auf, ihr europäischen Lämmer, ab an den Dnipro! Da auch dieser Artikel von Foreign Affairs hinter einer Bezahlschranke liegt, ist hier ein alternativer Link zum Volltext.

Unverblümt zynisch: die ukrainischen Opfer sind eingepreist

Es ist zwar nicht neu, aber immer wieder bemerkenswert, wie unverblümt zynisch Protagonisten der US-Hegemonie denken bzw. agieren. Im Fall der Ukraine gilt andauernd das Mantra von der „vorzüglichen“ Investition. Mit relativ geringen Kosten und ohne eigenes Blutvergießen – das erledigen stellvertretend die Ukrainer – soll Russland ausbluten. Die ukrainischen Opfer sind eingepreist. Da die Wirtschaftssanktionen versagten und der Ukraine inzwischen die Soldaten knapp werden, muss Frischfleisch an die Front. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Da sind zunächst die ukrainischen Männer und Frauen, die sich in EU-Staaten flüchteten. Nach denen will nun der ukrainische Staat greifen, und einzelne Nato-Staaten haben dafür – abseits aller Schutzverpflichtungen – große Sympathie. Bleiben also noch Soldaten (und Soldatinnen) der europäischen Nato-Verbündeten, so wie das im Kopf von Macron herumschwirrte, im französischen Fernsehen zu Strategiespielen führte und nun auch den Weg in Foreign Affairs fand. Schließlich darf die Ukraine nicht verlieren.

Mit Realität hat das alles nichts mehr zu tun, allenfalls mit einer Herauszögerung einer unvermeidlichen militärischen Niederlage durch Menschenopferung. Was haben all das Nato-Training, all die Unterstützung der Nato bei den ukrainischen Militärplanungen, all die schönen Waffenlieferungen bisher gebracht? Soweit ich das sehe, ging alles krachend in die Hose bzw. mündete in noch mehr Tod, noch mehr Zerstörung. Obama wusste, dass Russland in der Ukraine die Eskalationsdominanz hat, konventionell betrachtet. Wo ist dieses Wissen geblieben? Man hört, die Ukraine mache gerade eine „schwere Zeit“ durch. So kann man es natürlich auch ausdrücken.

Wer überlegt, wie viele eigene rote Linien der Westen bereits überschritt, und dass wir heute bei einer Akzeptanz der Biden-Administration von Langstreckenwaffenlieferungen an die Ukraine angekommen sind, die tiefe Schläge auf ur-russisches Territorium erlauben (noch vor der offiziellen Autorisierung durch den Kongress seitens der USA geliefert), dann stellt sich die Frage, wo endet die Überschreitung? In der offenen Entsendung von westlichen Soldaten, im direkten westlichen Angriff auf Russland? Nur konventionell oder auch nuklear?

Ein Restverstand existiert

Da sind mir RAND-Veröffentlichungen allemal lieber, deuten sie doch darauf hin, dass beim Brötchengeber Pentagon noch ein Restverstand existiert, dass die Strategie „Siegfrieden“ immer gefährlicher wird. Nicht nur für die Ukraine.

Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen der gescheiterten Verhandlungslösung 2022 und der Kriegsentwicklung. Der ehemalige ukrainische Botschafter in Moskau, Tschaly, hat ihn im Dezember 2022 auch klar benannt. Mit dem Scheitern scheiterte die anfängliche russische Strategie, parallel zur militärischen Intervention einen verhandelten Frieden zu erreichen, der das russische Grundinteresse garantierte. Das aber kollidiert mit dem der Nato. Seither ist beiden Seiten klar, dass jeder der anderen an die Kehle gehen muss, denn nun wird militärisch um Sieg oder Niederlage gekämpft. Bis zum letzten Ukrainer und womöglich demnächst auch bis zum letzten europäischen Nato-Soldaten. Und dann? Kommen dann die Kanadier und die Amis, um herauszufinden, dass auch sie sterblich sind? Dazwischen ist aktuell nichts mehr oder noch nichts wieder.

Nüchtern betrachtet, wird es nur ein immer größeres Gemetzel werden. An dem ist Putin längst nicht mehr allein schuld. Denn die westliche Ermutigung für die Ukraine im Frühling 2022, auf die Kapitulation Russlands zu setzen, beruht auf einer fatalen Verkennung der Lage. Boris Johnson erzählte Macron am 6. Mai 2022, was er in Kiew den Ukrainern riet:

„…and shared his conviction that Ukraine would win, supported with the right level of defensive military assistance. He urged against any negotiations with Russia on terms that gave credence to the Kremlin’s false narrative for the invasion, but stressed that this was a decision for the Ukrainian government.”

Übersetzung:

Er teilte seine Überzeugung mit, dass die Ukraine gewinnen wird, wenn sie durch das richtige Maß an militärischer Verteidigungshilfe unterstützt werde. Er sprach sich gegen jegliche Verhandlungen mit Russland zu Bedingungen aus, die dem falschen Narrativ des Kremls über die Invasion Glauben schenken würden, betonte jedoch, dass dies eine Entscheidung der ukrainischen Regierung sei.

Boris Johnson ist ein gut gebildeter Mensch, der aus der britischen Oberschicht kommt, mit festen Überzeugungen und äußerst klarsichtig, wie man zu argumentieren hat. Zudem lügt er recht überzeugend. Sonst hätte er nicht den Brexit hinbekommen. Wer seine offiziellen Erklärungen seit 2019 zur Ukraine nachliest, findet heraus, dass er immer ganz grundsätzlich Solidarität mit der Ukraine erklärte. Zum Minsk-Abkommen sagte er lange keinen Piep. Verhandlungsbereitschaft gegenüber Moskau postulierte er erst, als die Nato im Januar 2022 die russischen Vorschläge nach einer Neuordnung der europäischen Sicherheit im Grundsatz ablehnte, aber in Einzelheiten (in Fällen von gegenseitigem Interesse) nicht völlig ausschloss. Das war das Verständnis von Diplomatie und Verständigungsbereitschaft.

Als die Russen die Tür gewaltsam eintraten

Tatsächlich aber schlugen alle den Russen die Tür vor der Nase zu, und als dann die Russen schließlich die Tür gewaltsam eintraten (was sich definitiv nicht gehört und verboten ist), waren allein die Russen schuld, die naturhaft aggressiv sind und nichts mehr fürchten als eine blühende Demokratie in ihrer Nähe, was eine jüngere Erfindung ist.

2014 hieß es, die Russen wären paranoid und sähen in Kiew nur Faschisten am Ruder, denn 2014 konnte der Westen die Ukraine noch nicht als Demokratie preisen. Alternativ wurde kolportiert, die Russen steckten hinter den Maidan-Morden, hätten Berkut infiltriert, um Janukowitsch, diesen unsicheren Kantonisten, loszuwerden. Die Version hielt sich jedoch nicht lange. Das Demokratiewunder Ukraine wurde später erfunden, das sich gehäutet und aus den tiefen strukturellen Problemen oligarchischer Kontrolle von Staat, Parlament und Medien, systemischer Korruption und mangelnder Rechtstaatlichkeit gelöst habe.

Hinderliches Wahlvolk

Es war schon aufgrund der westlichen Unterstützung der Antiterror-Operation der ukrainischen Übergangsregierung im April 2014 eindeutig, dass der Westen keine demokratischen Skrupel kennt, wenn eine nicht gewählte Regierung zu militärischen Mitteln gegen Teile des eigenen Volkes greift. Aber da diese Teile „pro-russisch“ waren oder ethnische Russen oder „Terroristen“ oder hinderliches Wahlvolk für eine stabile westliche Orientierung der Ukraine, so what?

Wenn man verstehen will, worin die Bedeutung der Ukraine (und Georgiens) aus westlicher Sicht liegt, muss man in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgehen. Mit dem Ersten Weltkrieg wollte Deutschland sich sein eigenes Imperium schaffen. Fritz Fischer analysierte die deutschen Kriegsziele, auch im Osten Europas. Alles lief darauf hinaus, Territorium und Ressourcen unter deutsche Kontrolle zu bringen und das russische Zarenreich zu zerschlagen – mittels der Kontrolle des Baltikums und Finnlands sowie der Ukraine. Die Ukraine wurde als das wirtschaftliche Herz des russischen Reiches angesehen. Hatte man es in der Hand, könnte man Russland zerschlagen und den „Rumpf“ beherrschen. Georgien, im weiteren Sinn der Kaukasus, wurde als das Tor zu Asien betrachtet. Es ist nicht so, dass die deutschen Planer nichts von strategischen Kriegszielen verstanden. Sie gingen dafür jede denkbare Allianz ein, sofern es ihnen ins Konzept passte.

“Geopolitische Maßnahmen”

Die damaligen deutschen Ambitionen fanden willige Nachnutzer, darunter 1997 in Gestalt von Brzeziński, der sich als geopolitischer Schachbrettspieler verewigte, die Nato-Erweiterungsplaner oder 2019 die RAND Corporation. Letzte widmete sich in einer Studie („Extending Russia“) der Nützlichkeit der Ukraine, um Russland zu schwächen. Ab Seite 99 ist unter der Überschrift „Geopolitische Maßnahmen“ nachzulesen, wie sich die USA geopolitisch in Sachen Ukraine einen Vorteil verschaffen könnten. Die RAND-Autoren schlugen vor, sie mit tödlichen Waffen auszurüsten und das Thema Nato-Mitgliedschaft aktiver anzusprechen. Wohlgemerkt: Nur reden, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wurde nicht vorgeschlagen. Da RAND in der Regel auch Risiken der eigenen Vorschläge benennt, war es auch in diesem Fall so. Die Autoren warnten, dass Russland US-Aktionen zuvorkommen und nach weiteren ukrainischen Territorien greifen könnte (Anm.: über die Krim hinaus).

Wörtlich hieß es: „This could produce disproportionately large Ukrainian casualties, territorial losses, and refugee flows. It might even lead Ukraine into a disadvantageous peace.“

Übersetzung: Dies könnte zu unverhältnismäßig großen ukrainischen Verlusten, Gebietsverlusten und Flüchtlingsströmen führen. Es könnte sogar dazu führen, dass die Ukraine in einen nachteiligen Frieden gerät.

RAND sah also die Gefahr, dass Russland sich wehren könnte, wenn man die Ukraine zum Rammbock zu machen sucht. RAND betrachtete Russland als stärker als die Ukraine. RAND war damit nicht allein. Im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 (Seite 20) wurde der russische Politikwissenschaftler Sergej Karaganow zitiert. Der hatte ebenfalls die lange Geschichte der versuchten russischen Schwächung im Kopf und warnte 2014: Es ginge nicht um die Ukraine, sondern um den westlichen Glauben, mittels der Ukraine Russland zu treffen. Das wäre für Russland eine existentielle Frage. Russland sei viel stärker, als der Westen denke. Tatsächlich hatte Karaganow Recht, denn seit dem Ersten Weltkrieg war viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, und die Ukraine längst nicht mehr das wirtschaftliche Herz von irgendjemandem. Sicherheitspolitisch allerdings ist die Ukraine durch die Nato-Osterweiterungen der letzte Puffer zwischen Nato und Russland.

Die kühle Logik in Bezug auf die Ukraine stand in der erwähnten RAND-Studie von 2019 in bemerkenswertem Kontrast zu Überlegungen, wie man Russland um die Einnahmen aus den Gas-Lieferungen bringen könnte. Die Autoren sahen das Problem, dass sich dadurch für Westeuropa auftun würde, denn LNG aus Übersee ist sehr viel teurer. Sie überlegten deshalb, ob die USA (West)Europa in einem solchen Fall finanziell unterstützen müssten. Schließlich ging es um eine Extra-Belastung für Alliierte.

Nicht besorgt genug, um Aufklärung zu wollen und voranzutreiben

Aber dazu kam es nicht, wie wir wissen. Zunächst schnitt sich Deutschland selbst die Gaszufuhr aus Nord-Stream 2 ab, dann schlugen die Sanktionen zu, und im September 2022 waren 3 der 4 Nord Stream-Röhren nur noch „Schrott auf dem Boden der Ostsee“. Frau Nuland äußerte im US-Senat ausdrücklich ihre Befriedigung über die neue Lage. Wer hat wohl diese Infrastruktur kaputtgemacht? Seitdem ist die Nato tief besorgt über Angriffe auf solche Infrastruktur, aber nicht besorgt genug, um die Aufklärung dieses Sabotageaktes von unabhängiger Seite zu wollen und voranzutreiben. Das Thema spielte gerade wieder im Sicherheitsrat eine Rolle. Dort trug Larry Johnson vor, ehemals CIA, der fest überzeugt ist, dass sich die Informationen und Geldströme finden lassen, die den Weg zur Auflösung dieser Tat weisen. Sie musste geplant und finanziert werden. Kommunikation musste stattgefunden haben. Ich würde immer wieder hinzufügen, dass der/die Täter oder Mitwisser die Fähigkeit haben müssen, die globale Kommunikation zu manipulieren und auf andere Staaten Einfluss zu nehmen. Nur so kann ein Zustand erhalten bleiben, in dem zwar Verdächtigungen durch den Raum schwirren, aber praktisch jede Aufklärung unterbleibt.

Ob nun bei NordStream oder im Fall Ukraine, immer gilt, dass man so nicht mit Völkern umgeht, die man wertschätzt. Wertschätzung schließt Schädigung oder das absichtliche Einpreisen von Opfern (die „gute Investition“ in den ukrainischen Krieg) aus. Aber Wertschätzung gehört nicht ins Handbuch imperialer Machtpolitik. Was zählt, ist die Nützlichkeit für die eigenen Ambitionen. Gefühlsduseleien, verbrämt mit Menschenrechtsbesorgnissen und den Formeln von Freiheit und Demokratie sind allenfalls etwas, um das „gemeine Volk“ einzulullen. Ein Imperium hat Interessen und muss, wie Madeleine Albright die sadistische US-Sanktionspolitik gegenüber dem Irak in den 90er Jahren verteidigte (500.000 tote Kinder), „harte“ Entscheidungen wählen. Und von den kleinen „Brüdern“ des großen amerikanischen Bruders wird erwartet, dass sie mitspielen. Die aktuelle deutsche Spielteilnahme schließt Geld und Waffen für die Ukraine ein und neuerdings auch die beabsichtigte Mobilisierung der deutschen Zivilisten im „Operationsplan Deutschland“. Alice Schwarzer berichtete.

Staatlich verordnete „Kriegstüchtigkeit“, „Zivildienst“ oder „Veteranentag“ werden nicht mehr Sicherheit für unser Land schaffen. Allenfalls erhöht sich die Zahl derer, die sich gerne opfern fürs Vaterland und die Zahl derer, die die Russen hassen werden, weil man ihnen erfolgreich einredete, an allem seien nur die Russen (Putin) schuld. Dem Mythos trat aber nun der Artikel im Foreign Affairs auch entgegen. Russland suchte einen Kompromiss und schnellen Frieden. Damals tat es die Ukraine auch. Damals war sie in der stärksten Position im ganzen Kriegsverlauf, auch der Westen.

Der westliche Kurs hat Russland gestärkt – wie viel bleibt übrig?

Der Irrglaube, man könne Russland wirtschaftlich und militärisch fertigmachen, der Irrglaube, die Nato und ihr Schild, die Ukraine, werden militärisch obsiegen, wenn wir sie nur finanziell und militärisch füttern, hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind. Zu glauben, die Dinge würden sich wieder wenden, widerspricht den Realitäten und der Logik. Tatsächlich hat der westliche Kurs Russland sogar gestärkt, ökonomisch, militärisch, politisch, und das war doch im Grunde das Letzte, was gewollt wurde.

Wir sind nicht verdammt, diesen Weg weiterzugehen. Es wäre sogar klug, einzuhalten und sich um eine Verständigung mit Russland zu bemühen. Noch lässt sich der Schaden, und er ist schon sehr groß, begrenzen. Noch lassen sich Risiken kontrollieren. Aber sicher ist nichts mehr, außer dass, wenn es so weiter geht, und nur Waffen sprechen, „verbrannte Erde“ am Ende steht. Wieviel Ukraine bleibt übrig? Wieviel von europäischem Wohlstand und europäischem „way of life“? Wieviel von der europäischen Erkenntnis, dass Frieden möglich ist, wenn Europa sich zusammenrauft und zusammensteht? Und wofür? Für eine Weltmacht auf dem absteigenden Ast? Für einen Warnschuss gegen China?

Tatsächlich verlieren wir Glaubwürdigkeit, Ansehen, Respekt

Wir erleben doch, was der „Rest“, also die Mehrheit der Welt, inzwischen über uns denkt. Die kleinen diplomatischen Hiebe sind nur oberflächlich. Tatsächlich verlieren wir Glaubwürdigkeit, Ansehen, Respekt. Vielleicht bemerken wir nicht mehr die eigene Doppelzüngigkeit, die eigene Verblendung. Andere sind allerdings nicht so taub und blind. Hören können wir noch. Oder?

Als wir mit hochfliegenden Emotionen und völlig bedenkenlos ins US-Boot in Sachen Ukraine kletterten, hätten wir besser erst einmal den Namen des Schiffes lesen sollen. Es heißt Titanic 2.0. Der Kapitän hat Kurs auf Russland genommen. Wie kommen wir wieder von Bord?

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.