Als ich vor drei Wochen an dieser Stelle meine Befürchtung äußerte, dass sich trotz Gipfelaktivismus der EU wieder nichts grundlegendes am Elend der Flüchtlinge ändern würde, hatte ich eine gewisse Hoffnung, mich vielleicht zu irren. Nachdem sich die EU-Minister und Staatschefs weigern, syrischen Flüchtlingen durch schnelle Hilfe die Einreise zu erleichtern, die Fluchtursachen in Libyen, Somalia und Äthiopien gezielt durch Außenpolitik im Interesse Europas zu bekämpfen und neben dem Asylrecht ein humanitäres Einwanderungsrecht für Armutsflüchtlinge zu schaffen, das ihnen Bildung, Integration und Arbeit ermöglicht, habe ich leider recht behalten.

Politik der Verdrängung

Die Politik der Verdrängung, der Unmenschlichkeit gegenüber den Opfern und Verlogenheit gegenüber den eigenen Bürgern geht ungebremst weiter. Wieder erwecken die EU-Politiker den Anschein, schnellere Asylverfahren würden das Problem der Armutflucht lösen, obwohl sie wissen, dass auch schnellere Verfahren keinen einzigen Flüchtling abschrecken. Und Lothar de Maizière und andere CDU-Größen werden weiterhin Dummbeuteln entgegenhalten, dass man abgelehnte Asylbewerber eben nicht abschieben kann, weil nur 2 % der Antragsteller überhaupt noch eine Chance haben, Asyl zu bekommen, die überwiegende Zahl der nicht Anerkannten aber selbstverständlich geduldet werden muss, weil ihnen bei Abschiebung Gefahr für Leib und Leben drohen. Diese Feigheit vor der Wahrheit hat in Frankreich den “Front National” groß gemacht und wird auch hier Pegida, AfD und anderen Nazis in Nadelstreifen unwissenden Anhang zutreiben. Das löst zwar unsere Probleme mit der Demografie nicht, aber man fühlt sich in der Politik offensichtlich wohl auf ausgetretenen Pfaden und hofft auf die bekannten 14 Tage, nach denen ein Thema wieder aus den Schlagzeilen verschwindet.

Keine EU-Solidarität

Die beschlossene Zerstörung von Flüchtlingsbooten wird den Krieg der Küstenwachen und Guardia di Finanza gegen die Flüchtlinge verschärfen. Ich bin gespannt, wann die ersten Schüsse fallen. Es trifft nicht die Schlepper, es trifft die Opfer. Die Schlepper freuen sich über jedes Signal, das Flüchtlinge noch weiter in die Illegalität und damit die Abhängigkeit von kriminellen Banden treibt. Derselbe Teufelskreis, der in den 30er Jahren der Prohibition in den USA die Mafia-Familien mächtig gemacht hat, die anschließend jahrzehntelang das organisierte Verbrechen beherrschten, geht mit illegalem Menschen- Arbeitskräfte- und Mädchenhandel in Europa weiter. Die Weigerung von Großbritannien etwa, sich an einer fairen Verteilung von Flüchtlingen zu beteiligen, ist nur das i-tüpfelchen auf einer Politik des neoliberalen Egoismus, der von der EU ständig Sonderprivilegien fordert, im Gegenzug jedoch nicht bereit ist, ein Minimum an Solidarität zu leisten.

Flüchtlingsschicksale in Fernost

Diese entsolidarisierte und letzendlich entmenschlichte Haltung hat jetzt auch in Ostasien ihren Niederschlag gefunden: Die Regierung von Malaysia, Herkunftsland des Hauptsponsors des Mercedes-Benz Formel 1 Teams PETRONAS, ließ Flüchtlinge aus Myanmar, die bereits wochenlang auf dem Meer treiben, wieder aufs offene Meer schleppen – vermutlich in den sicheren Tod. Singapur handelt ähnlich und selbst Vietnam schickt Flüchtlinge zurück aufs Meer. Wie kann uns das nicht kümmern? Was ist das inzwischen für eine Gesellschaft, in der wir leben? Während das Champons-League-Fußballspiel zwischen Bayern München und Barcelona im öffentlich-rechtlichen Fernsehen als Ereignis kosmischer Bedeutung optisch in die Nähe von Mond und Planeten gerückt und mit Heldenmusik untermalt wird, sodass Leni Riefenstahl selig erblassen würde, geraten die Informationen über das alltägliche Elend und die unmenschliche Reaktion der “gelenkten Demokratien” in Fernost in den Medien völlig unter die Räder. Kein “Brennpunkt”, kein “Hart aber Fair” interessiert sich dafür, dass dort offensichtlich dasselbe zwischen prosperierenden, neoliberalen Gesellschaften und der Armutsflucht abläuft, wie wir es zwischen Europa und dem nahen Osten, den Golfstaaten und den “least developed Countries” Afrikas bereits kennen. Geändert wird nichts, auch nicht an der EU-Agrarpolitik, die mit Dumpingexporten von Tierteilen und -abfällen weiter die regionale Landwirtschaft auf dem schwarzen Kontinent zerstört.

Ein Bild und die Menschenleben

Gestern hat ein privater Bieter bei “Christie`s” in London einen “Picasso” für 160 Millionen Euro ersteigert. Das ist etwa die Summe, die sich die EU geweigert hat, erneut für eine Mission der italienischen Marine aufzubringen, die dem früheren Einsatz der Küstenwache vor der afrikanischen Küste gleich käme. 160 Millionen für ein – wie auch immer – bemaltes Stück Leinwand. Die Leben der Flüchtlinge und ihrer Kinder sind der EU keine 160 Millionen wert. Wann werden Wählerinnen und Wähler, Parteien und Politiker erkennen, dass in einer globalen Gesellschaft, deren Ressourcen immer knapper werden, die Akkumulation solchen Reichtums in den Händen von Privatpersonen das Problem ist?

2% in Saus und Braus leben…

“Wir können nicht alle Flüchtlinge diese Welt aufnehmen” – das habe ich in den letzten drei Wochen mehrmals wieder aus dem Munde von verantwortlichen Ministern gehört. Wir werden es schon deshalb nicht, weil nur verschwindend wenige Flüchtlinge der über 130 Millionen, die um den Erdball herum auf der Flucht sind, überhaupt unsere Grenzen erreichen. Warum also diese dumme Angstmache? Nun, wir lassen zu, dass rund 2% der Erdbevölkerung über mehr als 90% des gesamten Reichtums verfügen – die meisten davon verschanzen sich auch vor uns hinter Zäunen und Mauern. Versuchen Sie mal, Bill Gates oder Warren Buffett einen Spendenaufruf von Pro Asyl in den Briefkasten zu werfen! Wir lassen es zu, beteiligen uns sogar daran, dass sozial weniger starke, dass arme und ärmste Menschen gegeneinander ausgespielt und ideologisch aufeinander gehetzt werden, damit diese 2% in Ruhe in Saus und Braus leben können. Dafür sorgt auch die EU-Flüchtlingspolitik. Wie sagte doch Walter Ulbricht: “Niemand hat vor eine Mauer zu bauen….”

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net