Der Brexit ist ein Desaster, für das vor allem David Cameron, die rechten Tories und die Populisten der Ukip verantwortlich sind. Der Schaden für Großbritannien und für Europa ist unabsehbar. Die Separatisten haben den Anfang vom Ende des “Vereinigten Königreich” erstritten. Europa muss sich jetzt neu begründen und enger zusammen rücken. Opfer sind mehrheitlich diejenigen, die den Populisten auf den Leim gegangen sind – aber es gibt die Chance, daraus zu lernen.

Der Ausgang des Volksbegehrens der Briten ist ein Desaster für Europa, für Großbritannien, für die konservative Regierung und für die Populisten. Am meisten aber werden die Bürgerinnen und Bürger, die dafür gestimmt haben, die Leidtragenden dieses Aktes der politischen Selbstverstümmelung sein. Allem voran muss David Cameron kritisiert werden, der ohne Not und lediglich um innerparteiliche Gegner innerhalb der Tories vermeintlich zum Schweigen zu bringen, dieses wahnwitzige Unternehmen gestartet hat. Bereits einen Tag nach der Abstimmung zeigt sich, dass es sich von Anfang an um ein Unternehmen der Verantwortungslosigkeit gehandelt hat. Deshalb ist es auch unverständlich, dass David Cameron zwar seinen Rücktritt angekündigt hat, aber bis Oktober im Amt bleiben will. Noch unverständlicher, dass der unverantwortliche Hetzer Michael Farange bereits seine Lüge kassierte, 350 Millionen koste die EU die Briten wöchentlich und die wolle er ins Gesundheitssystem stecken – am Tag danach gilt das schon nicht mehr. Man hat den Eindruck, die populistischen Schreihälse wollten sagen, sie hätten es nun doch nicht so gemeint. Die Lügen und die rechten Hetztiraden auf Flüchtlinge beginnen nun offensichtlich zu werden. Diese ohne Not und jedes Verantwortungsbewusstsein herbeigeführte Krise müssen alle Demokraten respektieren, aber die Situation ist ernst, die Europäer müssen sich gegen Populisten und Rechtsextremisten positionieren. Und es muss zu denken geben, dass der Brexit gegen das Votum der Jugend beschlossen wurde, denn von den unter 30-Jährigen haben 75% für den Verbleib in der EU gestimmt.

Trümmerhaufen riesig

Der Trümmerhaufen ist schon jetzt riesig. Die Börsenkurse stürzten weltweit mit über 10% so tief wie zuletzt in der Finanzkrise 2008 ab, das Pfund sank auf den tiefsten Kurs seit 1985. Die großen Konzerne, die in Europa tätig sind und auf der Insel produzieren, haben ihre Irritation deutlich gemacht. BMW lässt offen, ob der Mini, der bisher erfolgreich in England produziert wird, dort auch in Zukunft bleiben wird. Airbus hat bereits klar gemacht, dass man Investitionen in Großbritannien überprüft. Die Banken wie die Deutsche Bank und viele andere werden den Finanzplatz London wahrscheinlich verlassen und sich nach Paris oder Frankfurt orientieren – J.P. Morgan hat heute angekündigt, viertausend Banker von London nach Frankfurt abzuziehen. Viele Mittelständler wissen nicht, wie es weitergeht, denn die Investitionssicherheit fehlt und die Auftragslage ist gefährdet. Dreihunderttausend Briten arbeiten in Deutschland, rund zweihunderttausend Deutsche und noch mehr Polen arbeiten in Großbritannien – allein diese Zahlen machen deutlich, wie eng die Verflechtungen in der EU sind. Fünf Milliarden Euro fließen von der EU bisher in die britische Landwirtschaft – Großbritannien ist der drittgrößte Handelspartner der Bundesrepublik und 40% der Exporte Irlands gehen zu den Briten. Die Wirtschaftsinstitute haben die Wachstumsprognosen für 2017 und 2018 bereits reduziert. Das Referendum hat aber auch Europa insgesamt als internationaler Partner der Außenpolitik geschwächt. Das ist weder angenehm gegenüber Russland, oder China, das bedeutet auch eine Schwächung der Verhandlungsposition bei TTIP oder CETA gegenüber den Partnern USA oder Kanada. Auch die Umwelt wird durch den Brexit verlieren, denn in vielen Bereichen der Begrenzung von Immissionen und Regelung von Umweltstandards standen die Briten auf der Seite der Umweltschützer.

Ende des “Vereinigten Königreichs”?

Die britischen Separatisten haben aber nicht nur Europa Schaden zugefügt, sie haben möglicherweise ungewollt das Ende des “Vereinigten Königreich” eingeläutet. Fast siebzig Prozent der Schotten haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Denen wird das nur knapp ausgegangene Plebiszit vor zwei Jahren nun Ansporn sein, nun die Abstimmung zu wiederholen und die schottische Premierministerin hat bereits angekündigt, dass ihr Land in der EU bleiben und die dafür notwendigen Schritte ergreifen will. Auch für Nordirland wird sich unausweichlich die gleiche Frage stellen. Viele Bürger werden sich fragen, ob sie innerhalb Irlands und zum Nachbarn Schottland eine EU-Außengrenze bewachen wollen. Schließlich hat auch eine Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU votiert. Diese Entwicklungen machen deutlich, dass nationale Separatismen den heutigen Problemen der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs ebenso wie im Umweltschutz und übrigens auch dem Problem von Flucht und Migration nicht einfach davonlaufen und sich im heimischen “Castle” verbarrikadieren können.

Alles für den Nationalwahn

Insofern mag sich mittelfristig der Ausgang des Referendums insofern als heilsam erweisen, als die Folgen des Austritts für Arbeitsplätze, Wohlstand und Demokratie, aber auch die Stärke oder Ohnmacht der EU deutlich werden. Spätestens, wenn viele Bürgerinnen und Bürger, die daran glaubten, was ihnen die populistischen Verführer im Nationalwahn versprochen haben, nicht eintreffen wird, nämlich ein unerwarteter Aufschwung und das Paradies in nationalen Grenzen, wird die Enttäuschung groß sein. Es ist bedauerlich, dass solche Lernprozesse schmerzlich sein müssen, ihre sozialen Opfer wahrscheinlich genau in den Schichten fordern werden, die für den Brexit gestimmt haben. Aber letztendlich kann daraus ein engeres Zusammenrücken mit neuen Inhalten und klareren Zielen der EU entstehen. Es ist zu früh für endgültige Prognosen. Klar ist, dass die Zurückhaltung gegenüber der EU, die Sprachlosigkeit der Politik gegenüber den Populisten so nicht weitergehen kann.

Standortbestimmung nötig

Europa muss seinen Standpunkt in der Welt neu und klarer definieren – zwischen Russland, dem nahen Osten, China und den USA sowie den Ländern der Geflohenen in Afrika. Und die besonnenen Kräfte, Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grüne und Liberale werden jetzt die Scherben zusammenkehren und dabei hoffentlich lernen, dass Europa weder als Hort der neoliberalen Finanzpolitik, noch als zentralistischer Block sturer Bürokratie und Tummelplatz der Lobbyisten eine Zukunft hat. Ein gutes kritisches Lehrbeispiel für alle, die Europa verbessern wollen, ist übrigens der Film “Democracy” – die Dokumentation über das Zustandekommen der Europäischen Datenschutzverordnung. Europa muss Gemeinsamkeiten jenseits der blanken Ökonomie neu entdecken. Dazu gehören soziale Sicherheiten ebenso wie Solidarität und die Wahrung der Bürgerrechte. Und die Überwindung der irrationalen Xenophobien.

Die Lösung

Für die Briten mag vorerst ein alter jüdischer Witz Orientierung geben: Ob in Paris, Rom, Berlin, New York, Moskau, Tokyo oder Madrid – immer steht im Bus sinngemäß ein Schild an den Türen oder der Plattform: “Das Auf- oder Abspringen während der Fahrt ist streng verboten!” In den Bussen in Tel Aviv steht dort: “Spring nur, Du wirst schon sehen!”

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net