von Mely Kiyak / Otto-Brenner-Stiftung
Festrede zur Verleihung des Otto-Brenner-Preises am 15.11.2016 in Berlin
– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrte Preisträger, sehr geehrte Gastgeber der Otto-Brenner Stiftung, geschätzte anwesende Kollegen, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde
Als ich die Einladung erhielt, die heutige Festrede halten zu dürfen, schaute ich zunächst einmal nach, um wen es sich bei Otto Brenner eigentlich handelt. Er war in Hannover geboren, was – das sage ich aus biographischer Erfahrung – glauben Sie mir das bitte, immer ein tragischer Start für ein Leben ist.

Mit nur 13 Jahren wurde er Gewerkschaftsmitglied, machte Karriere und brachte es bis zum Vorsitzenden der IG Metall. Vom einfachen Zeitungszusteller und Nietenpresser zum Gewerkschaftsboss, ist in Deutschland – damals wie heute – wo die Herkunft eines Menschen seinen gesellschaftlichen und beruflichen Werdegang beeinflusst, eine der wenigen und seltenen Möglichkeiten als Arbeiterkind, und das war Brenner, aufsteigen zu können.

Brenners Parallelen zu meinem Leben sind verblüffend. Auch ich bin ein Arbeiterkind. Auch ich kämpfe seit meinem 13. Lebensjahr in der Gewerkschaft. Weil ich nämlich die Tochter eines Kupferdrahtlackierers bin. Mein Vater war Mitglied in der IG Metall, machte als Arbeiter Karriere, allerdings auf dem Rücken seiner Kinder. Dazu stellte er Samstag Mittags seine pubertierende Tochter, also mich, auf den Sulinger Marktplatz, mit einem Plastiktütenumhang, wo drauf stand: „35 Stunden Woche“ und ließ mich dort Wochenende für Wochenende stundenlang im kalten niedersächsischen Wind vor mich hin rascheln.

Mit 19 trat Brenner in die SPD ein, die vor 90 Jahren, mitten in der Weimarer Republik, die gleichen Probleme hatte, wie die SPD heute: nämlich dem Rechtsruck der Gesellschaft wenig entgegen setzen zu können und kaum in der Lage neue Wählerschaften zu erschließen. In so einer Zeit beizutreten kann also mit viel Wohlwollen als Akt des Widerstandes betrachtet werden.

Auch ich trat einer Widerstandsbewegung bei, nämlich in die AG Plattdeutsch. Später im Verein erfuhr ich, dass er mit sinkenden Mitgliedszahlen zu kämpfen hatte und nichts und niemandem irgendetwas entgegenzusetzen hatte, außer einfach da zu sein. Also eine Art SPD op Platt.

Brenner war, so las ich, Mitglied bei den Freien Schwimmern und Sie können es sich denken, auch hier, gleichen sich unsere Leben, wie ein Ei dem anderen. Ich galt in meiner Jugend als eine Art Franzi von Almsieck des Landkreis Diepholz. In der Disziplin Brustschwimmen musste ich mich gegen stämmige norddeutsche Schwimmerinnen von der Weser bis an die Hunte durchsetzen. Wer unbedingt aufsteigen will, versucht es eben auch noch im Schwimmverein. Über Brenners Schwimmerfolge las ich nirgends. Ich nehme an, es ging ihm ähnlich wie mir. Begleitet von kolossalem Medienecho schwammen mir die Töchter der Putenzüchter und Rindviehwirte davon.

Ich verstehe genau, was Brenner meinte, wenn er von der Tragik sprach, die es bedeutet, als Kind besitzloser Eltern auf die Welt zu kommen. Ich begreife sehr gut, wenn er die soziale Frage so beschreibt, dass es eigentlich immer darum gehe, dass die Kinder der besitzenden Eltern versuchen zu verhindern, dass die Kinder der Besitzlosen über – und das ist jetzt sein Zitat: „ihren Rahmen hinaus wachsen“.

Wer diesen Weg gegangen ist, nämlich den aus dem durch Herkunft bedingten Rahmen hinaus, wird die Welt künftig nur noch durch diese Brille betrachten können, denn er erkennt diesen Kampf in so ziemlich jedem gesellschaftlichen Konflikt.

Das verbindet uns Arbeiterkinder überall auf der Welt. Das Wissen um die andere Seite. Die Seite der Armut, die Seite der nicht vorhandenen Möglichkeiten. Das beinhaltet auch die Scham und Trauer der eigenen Eltern zu erleben, die ihre begrenzten Möglichkeiten sehr wohl kennen, ihre Bedingungen aber nicht ändern können.

Brenner machte sich über all das viele Gedanken, darüber, was eigentlich alle miteinander eint und schützt. Nämlich das Wachen über die Demokratie. Um der Verhältnisse wegen, um ein Gleichgewicht zu wahren, in einer Welt ungleicher Ausgangsbedingungen. Als ich das las, sein berühmtes Zitat von der obersten Bürgerpflicht, nämlich der Demokratiewachsamkeit, wusste ich: Ich halte diese Rede!
Nun ist es bei der Otto Brenner Preisverleihung Tradition über „die Medien und ihren Zustand“ zu referieren.

Leider fühle mich dazu nicht berufen. Klar könnte ich ein paar Zahlen und Statistiken zusammen kramen und darauf basierend eine These konstruieren, die dann lautet: „Mehr Internet wagen!“, oder „Print lebt!“. Aber mir fehlt die Außensicht. Und eigentlich fehlt mir auch die
Binnensicht.

Talkshows – einer alphabetisierten Nation unwürdig

Bin ich gemeint, wenn von „den Medien“ die Rede ist?
Das kommt darauf an. Grundsätzlich finde ich, haben wir in Deutschland eine der besten Medienlandschaften, die es weltweit gibt. Von so einer Medienlandschaft bin ich natürlich gerne Teil.

Aber es gibt auch viel Mist. Auch viel strukturell bedingten Mist. Unsere politischen Talkshows, um nur ein Beispiel zu nennen, sind ein Desaster. Die Art, wie wir öffentlich im Fernsehen über Politik debattieren ist einer alphabetisierten Nation absolut unwürdig. Da distanziere ich mich natürlich sofort und bin nicht „die Medien“, sondern fühle ich mich wie ein Fisch, der immer anders herum schwimmt.

Aus welcher Position heraus kann ich nun glaubwürdig für eine Gruppe sprechen? Ich bin mir darüber nicht sicher.

Ich bin Publizistin. Ich habe keinen Medienkonzern im Rücken, keine Redaktion, in der ich beheimatet bin. Nehme an keinen Redaktionskonferenzen teil, werde in keinerlei Planung eingebunden. Per Mail erhalte ich Order. Thema, Länge, Abgabedatum. Ich kenne wirklich niemanden, bin nicht vernetzt und extrem asozial.
Ich verdiene mein Geld damit Bücher und Theaterstücke zu schreiben. Seit 10 Jahren schreibe ich ohne Unterbrechung jede Woche eine politische Kolumne.

Barocke Opulenz deutscher Verachtungsprosa

Für diese Kolumnen werde ich mit einer geradezu barocken Opulenz großzügig mit Ablehnung beschenkt. Es gibt Leser, die mich für diese Texte am liebsten umnieten würden. Seit Jahren tingele ich mit Kollegen, die wir aufgrund von Namen und Physiognomie als Nichtdazugehörige wahrgenommen werden, mit den schönsten und wertvollsten Perlen deutscher Verachtungsprosa über die Bühnen der Staatstheater.

Seit meinem ersten Artikel, dem 19. Januar 2006, ein Feuilleton-Aufmacher für Die Zeit, bis heute gab es nicht einen einzigen Text, nicht eine Kolumne, nicht ein Interview, bei der beschriebene Reaktion ausblieb.
Bei keinem einzigen Text! Ich kenne Kollegen, die haben in ihrem ganzen Berufsleben vielleicht drei Briefe bekommen!

Ich spreche übrigens nicht von Online-Kommentaren, sondern von echten Briefen oder Emails. Woche für Woche hagelt es Empörung, Beschimpfung, Anzeigen, Drohungen. Selten handelt ein Brief davon, wovon ich schrieb, sondern davon, dass ich schrieb.

Wenn also gesagt wird: Die Leser seien neuerdings ganz aggressiv, wegen Facebook und Twitter, das habe irgendeine eine Studie ergeben, dann kann ich das nicht ernst nehmen. Denn meine Erfahrung ist: Ich kenne es nur so.
Wenn wir, eine Handvoll Kollegen mit etwas anders klingendem Namen uns vor 10 Jahren an unsere Kollegen wandten und sagten: Wir werden massiv belästigt, bitte unterstützt uns, dann war die Reaktion immer die Selbe: Gleichgültigkeit. Und der Irrglaube, dass das, was da passiert, das Problem einer Minderheit sei. Obwohl wir sagten: Heute wir, morgen ihr!
Die Erfahrung einiger Weniger muss zählen, denn sie ist immer ein Beleg für eine Entwicklung.

Es hat 10 Jahre gedauert, bis die Kollegen diesen Hass als Problem erkannten und beschrieben. Das Verrückte aber ist, dass sie behaupten: „Damals war es nicht so schlimm wie heute. Heute ist alles viel vulgärer und enthemmter“.

Das stimmt natürlich nicht. Es war genauso schlimm, widerlich, obszön und primitiv. Es hat aber eben nur „uns“ betroffen.

Wenn man zu bedenken gab, dass diese Leser doch auch Wähler sind, die schon durchdrehen, weil man sich einmal in der Woche politisch äußert, was werden die wählen, wenn hier demnächst Rechtsradikale eine Partei gründen?
Ich erinnere mich sehr gut an die Antworten: Mit einem gewissen Prozentsatz der Bevölkerung, die eine abweichende Meinung Richtung Rechtsextremismus habe, müsse man sich abfinden. Unappetitlich, aber alles im tolerierbaren Bereich.
5 Prozent seien normal. Das sei ganz natürlich.
5 bis 10 Prozent.
10 bis 15 Prozent.

Wer hat das bestimmt? Dass das ganz natürlich ist, dass man sich in einer gesunden Demokratie mit Antidemokraten abfinden müsse?
Die Abweichung des Tolerierbaren erreicht in Sachsen-Anhalt bereits 24,3 Prozent.
Keine Panik lese ich. Sachsen-Anhalt, ganz spezieller Fall. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen: Extrem speziell.

Nach der Wende ging ich für fast ein Jahrzehnt in den Osten Deutschlands. Ich erinnere mich an 1.-Mai-Umzüge in Leipzig. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Neonazis in Springerstiefeln, die unter Polizeischutz zum Völkerschlachtdenkmal marschierten. Es gab Schlägereien, es gab Angriffe, Überfälle, absoluter Alltag. Damals schrieb ich ab und an für die Leipziger Volkszeitung. Ich kann mich nicht erinnern, dass es eine intensive Auseinandersetzung damit gegeben hätte. Man nahm es so hin. Weil man sich nicht gemeint fühlte.
Als eine Welle von spektakulären rechtsradikal motivierten Anschlägen geschah, war die mediale Reaktion, das Ganze unbedingt als einen Einzelfall zu behandeln. Bei jedem einzelnen Anschlag. Die Politik, die Medien, die Sicherheitsbehörden, keine einzige Institution befand sich nach Mölln, Solingen, Hoyerswerder oder Rostock für verantwortlich oder reformbedürftig.

Auch wird über Rassismus immer gleich berichtet. Man nimmt sich irgendeinen Jahrestag eines Anschlags und schickt ein paar Reporter los, die die Betroffenheit von Opfern und Angehörigen dokumentieren sollen. Die Baseballschläger sollen beschrieben werden, das Weglaufen. In jeder Zeitung darf ein schwarzköpfiger Publizist einen Essay schreiben, indem er ausführlich ausbreitet wie traurig oder wütend er sei. Ist über Rassismus traurig oder wütend zu sein wirklich die alleinige Angelegenheit der Betroffenen?
So ging das ein paar Jahre lang.

Dann Fanfaren und Posaunen. Auftritt Thilo Sarrazin. Seine These ist sehr dünn, für Vorabdrucke in Serie aber reichte es. Er behauptet, dass Muslime genetisch und kulturell bedingt dumm seien. Und ihre Dummheit durch fleißiges Kinderzeugen – angeregt durch Deutschlands reizende Sozialpolitik -wie eine Krankheit über Deutschland ausbreiten und das deutsche Volk Stück für Stück abschaffen, also vernichten.

Er meinte damit, dass Moslems den edlen, germanischen Stammbaum kräftig über den Haufen bumsen.

Hartnäckig weigert man sich bis heute, ihn als das zu begreifen, was er in seinem tiefsten Herzen ist, aber nicht sein will. Einer, der Mitmenschen in rassistischen Schemata hierarchisiert, wie er eindrucksvoll am Beispiel der Ackergäule und Lipizzaner zu widerlegen versuchte.

Spätestens ab dem Pferdebeispiel dachte ich: „Na, Kollegen, jetzt hat er es aber wirklich übertrieben“. Und was machen wir mit den 1 Million Lesern? Die sind, ich wiederhole mich, doch auch Wähler?

Rassismus-Betroffene – wen können sie protestwählen?

Es folgten die obligatorischen öffentlich-rechtlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Dringende Talkshowfrage: Handelt es sich um Rassismus, wenn einer über Genetik und Vererbungslehre in Zusammenhang mit „den Muslimen“ spricht. Und zweitens, warum gibt es Denkverbote in Deutschland?

Die Sorge um den Verlust der Meinungsfreiheit wog höher als die Sorge um den Verlust der Würde derjenigen, die vom braven Bürger zu Debilen erklärt wurden.

Man müsse ihn reden lassen, man müsse ihm zuhören, man müsse seine Kritik ernst nehmen, schließlich sei man in einer Demokratie. Dass die Voraussetzung für Demokratie aber auch ist, dass die Betroffenen mitsprechen dürfen, ist nicht Konsens. Oder wie hält man es aus, dass die Mehrheit der Betroffenen nicht einmal ein Wahlrecht besitzen, um an dieser Demokratie teilnehmen zu können? Wie findet man das? Dass Menschen, die seit 50 Jahren hier leben, Steuern zahlen und nicht wählen dürfen? Was ist mit deren Ängsten? An wen können die sich wenden, wen können sie aus Protest wählen? Gibt es über Millionen Menschen ohne Wahlrecht eine einzige Talksendung? Und wie sieht eine diffamierende These über die vermeintliche Integrationsunwilligkeit dieser Gruppe unter Anbetracht so einer Tatsache noch aus?

Sarrazin wurde immer berühmter und reicher, Pegida immer mächtiger, die AfD wird in den Bundestag einziehen.

Und immer ist da die Warnung, dass man Antidemokraten und Rassisten nicht in die Enge treiben dürfe. Was aber tun mit einer Gruppe, die diese Demokratie abschaffen will? Die mit ihrem wichtigsten Element, nämlich der Wahrung der Minderheitenrechte nichts am Hut hat? Wie lange schaut man zu? Was denkt man, wann das Ende der Fahnenstange erreicht ist? 50 Prozent? 80 Prozent? Was, wenn man selber bald in der Ecke landet?

Langsam begreift man, dass es selbst unter Kollegen keinen Konsens darüber gibt, woran man Rassismus und seine handfesten Risiken erkennt. Ich lese stattdessen lauter Synonyme. Rechtspopulist, Nationalpopulist, Liberalpopulist. Was zum Kuckuck ist das alles?

Ich glaube, dass wir uns darüber einigen müssen, was wir unter Faschismus, Nationalismus und Rassismus verstehen.

Welches Interesse verfolgt eine Politikerin, wenn sie das Wort völkisch rehabilitieren will, weil sie es im politischen Diskurs für unverzichtbar hält? Was kann eine Partei sein, dessen Spitzenpolitiker ungeniert davon spricht, dass die „Altparteien entARTEt seien“? Ich denke nicht, dass es sich um eine Art Grüne im Anfangstadium handelt.

Meine Aufgabe als Autorin ist ach nicht ein sozialpädagogisches Programm zu fahren und sie sanft in Duftkerzen einzuhüllen, ihnen womöglich noch eine Yogamatte hinterher zu tragen. Meine Aufgabe ist zu benennen, was ich erkenne. Das Konzept des Nationalismus ist nie überarbeitet worden. Seine Sprache klingt in allen Ländern ähnlich.

Das Konzept vom rassistischem Ressentiment zum politischen Programm funktioniert immer so: Stigmatisierung, Segregation, Vertreibung, Vernichtung. Ich denke, Rassisten und Demokratiemüde stempeln sich mit diesem Konzept selber ab. Das soll man nicht sagen? Noch haben wir Pressefreiheit. Warum sollen wir darauf verzichten?

Wenn ich dieser Tage Artikel lese, die unter der Überschrift: „Warum wir die Trump Wahl nicht vorhersehen konnten und warum wir versagten“ lesen, dann weiß ich spätestens, ich bin offenbar ein Randphänomen in dieser Medienlandschaft.

Dass Trump der nächste Präsident der USA wird, darüber spreche ich mit Kollegen aus dem Schwarzkopfmilieu seit dem Tag seiner Kandidatur. Es war ja alles vorhanden. Die Ressentiments der Bevölkerung haben doch nicht Le Pen, Wilders, Orban, Trump oder Gauland erfunden. Die waren schon da. Die mussten nur richtig gepflückt werden. Mein Schweizer Kollege Jonas Lüscher beschrieb diesen Mechanismus sehr schön. Die Kinder fürchten sich in der Nacht. Sie gehen zu ihren Eltern und sagen:
„Unter meinem Bett liegt ein Monster“. Die Trump-Wilders-LePen- Gauland Eltern schauen das Kind an und fragen: „Sicher, dass es nur eins ist?“

Den Kern aus den Worten schälen

Mit der Erfahrung im Rücken, dass Menschenhass meistens gewinnt gehst du immer vom Schlimmsten aus. Aber in Redaktionen, die die Gesellschaft in ihrer Diversität nicht abbilden, wirst du nicht nur mit deiner Herkunft sondern auch mit deiner Meinung immer Teil der Minderheit sein. Das wirksamste Gegenmittel gegen die vergiftete Stimmung dieser Tage ist den Kern aus den Worten zu schälen.

Zwei Beispiele aus der Flüchtlingsberichterstattung: Das Wort „Rückstau“ meint die Grenzschließungen innerhalb Europas, die dafür sorgen, dass sich immer mehr Flüchtlinge in Flüchtlingslagern in Griechenland oder anderswo ansammeln. Sie können weder aus- noch weiterreisen. Rückstau ist aber ein sehr ungenaues Wort für eine Maßnahme, die genau genommen aus Flüchtlingen Gefangene macht, weil man sie am Fliehen hindert.

Oder die Verwandlung von der Flüchtlingskrise, also jener Krise, die die Flüchtlinge betrifft, hin zur europäischen Krise, also eine Krise, die die Europäer betrifft, weil sie sich zunehmend als Leidtragende von Krieg und Verfolgung betrachten. Oder wie soll man es verstehen, wenn Parteien angesichts der Flüchtlinge von drohendem Heimatverlust der Deutschen sprechen und vorsorglich Schutzmaßnahmen in Form von Leitkulturanträgen beschließen.

Wenn man einfach mal das Wort öffnet und reinguckt, was drin ist, braucht man sich mit Moraldebatten gar nicht lange aufhalten. Es reicht zu entgegnen: Flüchtlinge verlieren ihre Heimat. Deutsche behalten ihren Wohnsitz.

Stattdessen gibt es ernsthaft große innermediale Debatten darüber, ob wir uns mit den Flüchtlingen in unseren Kommentaren und Analysen eventuell zu sehr solidarisiert hätten. Nicht, ob wir uns mit den Rechtsextremen, den Besorgten, solidarisiert hätten, sondern mit den Opfern?! Manche Chefredakteure spucken nachhaltig Galle wegen eines einzigen Titelblattes oder Satzes einer Kanzlerin.

Man nimmt Demokratie und Menschenrechte offenkundig anders wahr, penibler und existentieller, man empört und ängstigt sich rascher, wenn man sich mit den Ressentiments gemeint fühlt. Als der Vorwurf der Lügenpresse im Raum stand, konnte man das schön verfolgen. Das politisierte auch noch den letzten Sportredakteur, der erst dann begann, über den Rassismus in den Sportvereinen zu berichteten.

Reaktion auf Emanzipationserfolge

Was tun?
Wahrscheinlich einfach weitermachen. Denn der moderne Rassismus unserer Zeit ist immer eine Reaktion auf die Emanzipationserfolge der Minderheiten. Trump folgte nicht auf einen weißen Präsidenten, sondern auf einen Schwarzen. Wir erleben auch deshalb eine Welle der Angriffe auf Minderheiten, weil diese in Politik, Medien und Wirtschaft sichtbarer geworden sind.

Ich glaube jeder, der Macht darüber hat, wer sprechen darf und wer nicht, wird, wenn er mal die Augen aufmacht und sich in der Redaktion umschaut, feststellen, dass er mehrheitlich von seiner Sorte umgeben ist und nicht von, ich sage mal, meiner Sorte.

Unser Dasein wirkt provozierend. Wir gehen mit unserer Gesellschaft zudem hart ins Gericht. Das ist für manche einfach zu viel. Ein Klassiker unter den Leserbriefen lautet: Sie schreibt schon wieder Ihre Meinung über Deutschland. Was versteht sie davon? Fand sich kein Deutscher?

Gäbe es mehr Y-Namige, würden sich die Leute irgendwann daran gewöhnen, dass es Alltag werden wird, dass Menschen, die diffamiert werden, sich öffentlich dazu äußern. Eine Frage der Zeit. Deshalb dieser Rechtsruck. Auch wieder so ein blödes Wort, denn es handelt sich genau genommen um ein Abdriften in die Radikalität. Er vollzieht sich auf vielen Ebenen. Nach und nach demaskieren sich
Buchverlage, Zeitungen, Fakultäten, Forschungsinstitute, Schulen, Polizeigewerkschaften, viele unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens als Sympathisanten einer rechtsextremen
Ideologie. Es sind die gleichen Bereiche, in denen Minderheiten aus ihrem durch Herkunft bedingten Rahmen heraus drängen und unangenehme Fragen stellen:
War es nötig, jeden Atemzug der AfD medial auszuleuchten? Ist eigentlich bekannt, wie die Strukturen von rechten Netzwerken in den Medien funktionieren? Interessiert überhaupt, wie viel Sprache und Agenda von rechtsradikalen Strömungen der Straße wie der Pegida in die Berichterstattungen aufgenommen werden?

Können die Rechtsextremen ihre Diskussionsrunden nicht selber organisieren?

Die NPD oder DVU saßen doch auch nicht jede Woche bei Sabine Christiansen! Können die Rechtsextremen ihre Diskussionsrunden nicht selber organisieren? Warum bezahlt die Landeszentrale für politische
Bildung Schnittchen und Tee, damit sächsische Bürger über Minderheiten herziehen? Warum wird diese Runde nicht für Muslime, Homosexuelle oder Flüchtlinge organisiert, damit die über Sachsen herziehen können? Warum wurde jede Schlägerei im Asylbewerberheim medial groß aufbereitet, aber die Schläge, die die Flüchtlinge quer durch Europa ertragen mussten, für die noch kein einziger Polizist, Soldat oder Politiker zur Rechenschaft gezogen wurde, nicht?

Ich kenne nur einen Weg raus aus dieser Misere. Nämlich den des Gegengewichtes. Ich frage überall, wo ich schreibe, na, wie reagiert ihr auf das alles? Seid ihr endlich bereit andere Leute einzustellen, um aus Minderheiten Mehrheiten zu machen?

Seid ihr dazu bereit in euren Redaktionen Menschen zu beschäftigen, die zusammengenommen viele Sprachen dieser Welt sprechen, viele Kulturen leben und viele Religionen kennen? Und euch im Zweifel mit guten Argumenten daran hindern, das rechtsextreme, völkische und antidemokratische Denken, das selbstverständlich in unserer Mitte Platz genommen hat, wieder zur Anormalität zu erklären und die Verachtung auf eine vielfältige und durchlässige Gesellschaft unermüdlich als Regelwidrigkeit zu beanstanden? Und euch nicht mehr weigert, die Berichte zu veröffentlichen, weil das alles bei euch nicht angekommen ist?
Die Minderheiten unter den Journalisten erkennen die Kontinuitäten, Strukturen und Mechanismen von Diskreditierung und Demokratiefeindlichkeit nämlich schneller. Weil sie ihnen nicht zum ersten Mal begegnet.

Die Position, aus der man spricht, prägt die Art und Form der Kritik. Die Mehrzahl der Meinungen von einer Position aus formulierend ist keine Mehrheitsmeinung, sondern immer nur die Meinung der Sprechenden. Wir könnten das, was oft als die Angelegenheit der Anderen begriffen wird, zu unserer gemeinsamen Angelegenheit machen. Das nennt man Zusammenhalt. Klingt kitschig, hilft aber. Im Kleinen und im Großen.
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Ich möchte meine Rede beenden, indem ich etwas tue, was eigentlich verboten ist, weil jeder Preisträger einen eigenen Laudator hat. Ich will aber nicht laudatieren sondern vielmehr danken.

Wenn ich meine Meinung äußere, dann tue ich das aus einer selbstbewussten Haltung heraus. Mein beruflicher Werdegang ist flankiert von Kollegen, die mir Türen öffneten. Ich habe es ausschließlich mit Menschen zu tun gehabt, die mir vertrauten, die mich ermutigten und prominent platzierten. Ich bin all diesen Kollegen unendlich dankbar und stehe mit jedem Einzelnen von ihnen in Kontakt.

Der Wichtigste von allen wird heute Abend für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Arno Widmann. Es ist ein schöner Zufall, dass ich die Festrede halte und du ausgezeichnet wirst.

Lieber Arno, als du das Feuilleton der Frankfurter Rundschau geleitet hast und ich die Samstagskolumne schrieb, war einer meiner häufigsten Vorwürfe an dich, dass deine Redaktion voll mit Langweilern belegt sei. Ich nervte dich jahrelang damit, dass du ein paar Orientdeutsche beschäftigen sollst, damit die Zeitung ihr Linkssein nicht nur behauptet, sondern auch beweist. Du warst geduldig, hast zu diesem Thema geschwiegen und mir stattdessen Blumen und Bücher geschickt. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu verstehen: Man kann nicht alle Menschen auf der Welt retten, man kann eine ganze Zeitung nicht alleine umkrempeln. Jeder kann maximal einen unter seine Fittiche nehmen. Undso möchte ich dir heute sagen:
Ich wünsche jedem Kolumnisten, jedem Journalisten, jedem Menschen auf dem Weg in die Berufstätigkeit einen solchen Freund und Förderer wie dich.

Du hast mir gezeigt, wo es sich lohnt nachzugeben und wo es wichtig ist hartnäckig zu beharren. Du hast deinen Arbeitsplatz, deine Möglichkeiten, deine Ressourcen mit mir geteilt. Du hast mich teilhaben lassen an allem, was du hattest, in deiner Manteltasche steckt immer ein Geschenk für mich.

Du bist unerbittlich und sehr streng mit mir.
Oft bin ich dir nicht klug und nicht fleißig genug, aber weißt du was?
Jedes Lob, jede Ermutigung, jede Beschimpfung, jede deiner verheerenden und vernichtenden Kritiken, jede Ermahnung und jeder Ratschlag waren wichtig. Es kam alles an.

Ich danke dir dafür von ganzem Herzen.
Und Ihnen lieber Zuhörer, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und meinen Gastgebern für die sehr großzügige Einladung.
Danke, dass ich sprechen durfte.
Mely Kiyak

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