Aus Schaden wird man klug? Unser Bundesland Nordrhein-Westfalen macht es sich zum Markenzeichen, diese Lebensweisheit zu widerlegen. Nur die Älteren werden sich erinnern: 2003 erlaubten wir uns die Peinlichkeit, eine Olympiabewerbung zu starten, für das Ruhrgebiet, das – Gipfel aller Peinlichkeiten – aber das benachbARTE und in der Ruhrgebietsbevölkerung wegen seiner Schnöseligkeit genauso wie in Köln verachtete Düsseldorf vorschickte, um dann aber direkt in der nationalen Vorausscheidung gegen Leipzsch zu scheitern. International war es sowieso alles komplett aussichtslos. Kapuddeneu.
Ex-Westerwelle-Gatte Mronz traf seinen FDP-Parteifreund Thomas Bach, im Hauptberuf Obermafioso des IOC bei seinem Aachener Reitturnier, erntete ein gnädiges Kopfnicken, und setzt den Floh nun der desolaten landespolitischen Szene, die ja sonst für nichts irgendeine Idee hat, ins Ohr.

Wenn Sie mal nicht wissen, was Sie mit Ihrer Zeit anfangen sollen, hören Sie sich mal diese 30-Minuten-Sprechblasensammlung der ansonsten durchaus anspruchsvollen Deutschlandfunksendereihe “Sportgespräch” an. Nach 10 Minuten hatte ich das Gefühl, jetzt haben sie alles gesagt und könnten aufhören. Aber die arme Moderatorin musste noch 20 Minuten füllen. In denen brachte sie immerhin den vergifteten FDP-Hinweis unter. Ihren Hinweis, fast alle Landesparteien (CDU, SPD, Grüne) hätten schon Zustimmung gefunkt, kann ich kaum fassen.

Das Geschäftsmodell Olympische Spiele ist global verrufen für seine mafiöse Struktur. Gesetze des gastgebenden Landes müssen dafür ausserkraft gesetzt werden: Strafrecht für IOC-Funktionäre, Steuergesetze, Berufs- und Gewerbefreiheit, allumfassender Ausnahmezustand im Carl-Schmittschen Sinne. Ökonomisch werden öffentliche Kassen ausgesaugt und der Inhalt in private Konzernkassen (IOC, Medienkonzerne, Baumafia etc.) geblasen. Mit Recht hat dieses Geschäftsmodell in Weltregionen, in denen es Demokratie gibt, keine Chance mehr. Wo es durchkommt, ist es ein untrügliches Zeichen für Mangel an oder endgültige Beseitigung von Demokratie zugunsten von Oligarchie und Feudalismus. Ist es also in NRW jetzt auch schon so weit? Wie weltfremd müssen demokratische Politiker sein, um auf so eine Idee zu kommen?

Weil da, wo alternative Ideen entstehen müssten, offensichtlich ein fürchterliches Vakuum besteht. Das letzte regionale Ereignis mit positiver überregionaler Resonanz war die Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet 2010, das ist also schon 7 Jahre her. Das Ruhrgebiet ist der Kern aller NRW-Probleme. Es hat keine gemeinsame lokale Verfassung, sondern ist in kleine Klein- und Großstädte und drei (!) “Regierungsbezirke” (Düsseldorf, Münster, und !!! Arnsberg) aufgeteilt. Bis heute wechseln dort mitten in dichtbesiedelten Stadtteilen die Straßenbahnspurbreiten. Das war den Politker*inne*n aller anderen NRW-Regionen allemal lieber, als dass dort – in der an Bevölkerung größten deutschen urbanisierten Region – ein gemeinsamer politischer Wille entstehen könne. Angstschweiss brach bei ihnen zum letzten Mal aus, als in den 90ern in den zahlreichen Fußballstadien des Ruhrgebiets “Ruhrpott – Ruhrpott”-Sprechchöre ausbrachen. Hat sich ausgewachsen. Mittlerweile poliert man sich wieder lieber gegenseitig die Fresse. So haben es die Innenminister gern, denn das macht sie wichtig.

Die eigentliche NRW-Wachstumsregion, der ökonomische Motor, das Rheinland liegt in diesen Tagen gerade im Alkoholkoma (die andere Hälfte ist noch im Exil auf den Kanaren). Nach Aschermittwoch kommen dann die unbarmherzigen Fragen wieder auf die Tagesordnung: ist die Digitalisierung in diesem Land schon angekommen? Was machen wir mit der Kulturwirtschaft? Verstehen die Poltiker*innen die überhaupt? Haben sie Kontakt? Was machen wir mit unseren Landschaften? Massenviehfabriken und Großplantagenstrukturen im Münsterland um mit dem deutschen Osten konkurrieren zu können? Landschaftspflege und Qualitätsprodukte nur noch aus Bayern? Und in welchem Jahrhundert soll mit der Vermarktung der größten Einwanderungsregion Europas – ja, wieder das Ruhrgebiet – begonnen werden? Wann will die Landespolitik anfangen, dessen Bewohner*innen ernstzunehmen? Erst, wenn sie rechtsradikal gewählt haben?

Es gibt vieles, was wichtiger zu erledigen ist, als Olympia.

Zum Weiterlesen: Christoph Biermann: Wenn wir vom Fußball träumen. 11-Freunde-Chefredakteur Biermann hat nur scheinbar ein “Fußballbuch” geschrieben. Es ist die beste Situationsbeschreibung der größten Stadt NRWs.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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