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Grüne: Im Wahljahr bloss nicht auffallen?

Cem Özdemir und Kathrin Göring-Eckardt haben den Entwurf für das Wahlprogramm 2017 vorgestellt. Der Titel heisst “Zukunft wird aus Mut gemacht”. Das klingt zwar wie aus der Feder einer töpfernden Agentur für positives Denken vom Prenzlauer Berg, ist aber in Wirklichkeit bei NENA geklaut. In ihrem Originalhit 1984 „Irgendwie, Irgendwo Irgendwann“ heisst die Zeile: „Liebe wird aus Mut gemacht“. Ob das Programm hitverdächtig ist – wohl nicht mal, wenn Nena dafür singt. Dabei sollte dem Vorstand bei Prognosen von sieben Prozent sechs Monate vor der Bundestagswahl doch dämmern, dass lieb sein und auf die Machtbeteiligung warten, wohl nicht das Konzept sein kann, um sich neben Schulz und Merkel zu behaupten. Nach einer ersten – zugegeben kursorischen – Sichtung muss sich ernste Sorge um den Realitätssinn der Autoren angesichts der Stimmungslage in der Gesellschaft und den Schichten, die die Grünen erreichen könnten, ausbreiten. 1990 redeten alle von der Vereinigung, die Grünen fuhren Klimazug – das Ergebnis von 4,9% ist bekannt. Die Grünen scheinen das 2017 toppen zu wollen.

Konkrete Antworten auf aktuelle Probleme wie etwa die Frage, wie das dringend notwendige Einwanderungsgesetz konkret aussehen könnte, sucht man auf 104 Seiten vergeblich. Dafür wird dem Leser der “Ausstieg aus der Massentierhaltung” in den kommenden 20 Jahren versprochen. Das ist ehrenvoll, aber wer dafür nicht bereit ist, sich mit den Verursachern, den Aldis, Lidls, Rewes und Edekas dieser Welt anzulegen und dies auch zu benennen, wirkt doch ein bisschen neben der Realpolitik. Mit welchen Instrumenten Grüne erreichen wollen, bleibt vage. Auch der Umstieg auf emissionfreies Fahren ab 2030 und damit das bedingungslose Setzen auf Elektromobilität hört sich auf den ersten Blick gut an, ignoriert aber offensichtliche Infrastrukturprobleme und die zweifelhafte Gesamtenergiebilanz. Wollte man nur die gesamte deutsche PKW-Flotte von 53 Mio. Fahrzeugen auf Lithium-Batterien umstellen, bedeut dies erheblichen Energiemehraufwand, denn klimatechnisch rechnet sich ein Elektroauto erst ab dem 28.000sten km. Ganz zu schweigen davon, dass dieser Strukturwandel in der Konsequenz bedeutet, dass in Produktion und Zulieferung rund um Motor und Getriebe schätzungsweise 800.000 Arbeitsplätze wegfallen. Wer diesen Wandel will, muss ihn benennen und verträglich gestalten! Sonst gewinnen genau an diesem Punkt die Populisten!

Ziemlich naiv verhalten sich die Grünen Entwurfschreiberlinge zum Thema Wirtschaft 4.0 – hier wollen sie “gute Arbeit” gestalten – dass Wirtschaft 4.0 aber vor allem bedeutet, dass weniger, dafür hoch flexible und IT-affine Arbeitsplätze entstehen, aber viel mehr einfache Produktionsjobs als bisher wegfallen, wir mit der Industrie 4.0 vor einer technischen Revolution ungeahnten Ausmaßes stehen, die den Gewinn aus Rationalisierung und Robotik noch weiter in den Händen weniger Konzerne und einer kleinen reichen Schicht konzentrieren wird – darüber gehen die Grünen elegant hinweg. Während Volkswagen in Genf das autonome fahrende, fahrerlose Taxi vorstellt, können sich die Grünen offensichtlich noch nicht vorstellen, dass bei der Einführung einer solchen Technik etwa eine Million Taxifahrer in Deutschland ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen sucht man jedoch im weichgespülten Programm vergebens. Wer gesellschaftlichen Strukturwandel, der dringend notwendig ist, hinter schönem Wortgeklingel versteckt, macht sich nicht nur angreifbar, sondern vermeidet auch die darüber notwendige gesellschaftliche Diskussion. Dabei wäre es doch gerade die Aufgabe der Grünen, zu thematisieren, wohin wir ökologisch und ökonomisch in diesem Land in Zukunft steuern wollen. So kann das nach hinten losgehen.

Beispiel Friedenspolitik: Die Worte aktive Entspannungspolitik und Abrüstung habe ich im Entwurf nicht gefunden. Statt Frieden und Abrüstung haben die Autoren nun die “Welt im Blick”, und wollen “dass Deutschland mehr globale Verantwortung übernimmt”. Wie das – abgesehen vom seit 40 Jahren unerreichten Ziel von 0,7% Wirtschaftsleistung für globale Entwicklung aussehen soll, bleibt offen. Kein kritisches Wort zum unsäglichen NATO-Aufrüstungsziel der 2% vom Sozialprodukt. Kein Wort zu einer europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Kein Wort darüber, dass die EU mit ihren Subventionen der Nahrungsmittelexporte in die 3. Welt eine der Ursachen für die Zertörung der dortigen landwirtschaftlichen Strukturen ist. Zwar fordern sie im Europaprogramm einen “Marshallplan für Afrika” – schön allgemein und diffus – , aber einen solchen für Griechenland und Portugal zu formulieren, wo er dringend erforderlich wäre, um die weitere Erosion der Gemeinschaft zu verhindern, traut man sich nicht.

Beispiel Bürgerrechte: Während einerseits die Bedrohungslage durch den Terrorismus anhält und andererseits sich die Große Koalition in immer neuen und unsinnigen Vorschlägen für Grundrechtseinschränkungen, Vorratsdatenspeicherung, unsinniger und erwiesenermaßen wirkungsloser elektronischer Fußfesseln statt Analyse und Bekämpfung der gesellschaftlichen Ursachen die Bürger weiter in Angst versetzt, findet man nun Videoüberwachung gar nicht so schlecht. Kluge Verfassungsschützer wie deren NRW-Chef Burkhard Freier argumentieren da wesentlich sozialpolitischer. Dagegen passt das grüne Bundesamt für Spionageabwehr und Überwachung schon fast kompatibel zu De Maiziéres Plänen für die (verfassungswidrige) Zusammenlegung der Verfassungschutzämter.

Bespiel Gefährdungen der Bürgerrechte im Privatbereich: Transparente und gläserne Konsumenten durch Smartphones, Fitnesstracker, Telemedizin, vernetzte Autos, Smarte Kühlschränke, und Puppen, die im Auftrag von Konzernen die Konsumwünsche und Träume der Kinder aushorchen – die Grünen haben davon wohl ansatzweise gehört. So hat Bundesinnenminister De Maizière im Bundestag zeitgleich zur Programmvorstellung einer kompletten Aushöhlung des Datenschutzes durch die Aufgabe der Prinzipien Datensparsamkeit und Zweckbindung das Wort geredet und einen Entwurf zum Bundesdatenschutzgesetz eingebracht, das die Bürgerinnen und Bürger den Datenkraken der Privatwirtschaft schutzlos preisgeben wird. Sicher, die Grünen wollen nicht, dass Facebook, Whatsapp und Co.Silicon Valley, Steuerpoolitik, Veräußerungsgewinne, persönlichste Informationen horten und Profile anlegen. Wie sie De Maizieres Datenschutzgesetz zurückdrehen, und diese Bürgerrechte auch gegen internationale Konzerne durchsetzen wollen, bleibt vage. Der Begriff Bürgerrechte kommt im gesamten Programm an keiner Stelle mehr vor.

Der gesamte Bereich der sensiblen Zukunftstechnologien, so hat der Leser den Eindruck, dümpelt bei den Grünen zwischen begeistertem Mitmachen, etwa bei der Einführung der Wirtschaft 4.0 und der Breitbandversorgung – und hilflosem Zusehen bei den dadurch vorangetriebenen sozialen Veränderungen hin und her. Die Richtung bleibt unkonkret – sei es bezüglich der Auswirkungen auf Arbeitsplätze oder der Bürgerrechte. Auch kleine und mittelständische Unternehmen, das Handwerk, die von der Wirtschaft 4.0 betroffen sein werden und Unterstützung, bessere Aus- und Weiterbildung brauchen, finden bei den Grünen leider wenig Unterstützung.

Konsequente Instrumente, soziale Gerechtigkeit wirklich durchzusetzen wie das inzwischen sogar in Silicon Valley breit diskutierte bedingungslose Grundeinkommen für alle oder eine klare Steuerpolitik, die die Auswüchse der letzten Jahrzehnte korrigiert, sucht man vergebens. So fehlt etwa jede Aussage zur Abschaffung der Steuerfreuheit unternehmerischer Veräußertungsgewinne – jener Öffnung des Marktes für Heuschrecken, die viele gesunde mittelständische Unternehmen, wie z.B. WMF, Hansgrohe oder die Kette Tank&Rast erst in Spekulantenhände, dann fast in den Ruin und die Beschäftigten in die soziale Krise gestürzt hat. Es fehlt eine klare Linie zu einer gerechten Steuerreform und der Besteuerung von Kapital anstelle von Arbeit. Stattdessen : “Millionärssteuer” und “Superreiche” – grünes Wortgeklingel, aber kein taugliches Instrument, um Steuerflucht zu unterbinden und mehr Gerechtigkeit zu schaffen und zu ändern, dass 1% über mehr als ein Drittel, 10% über 74% des Reichtums in Deutschland verfügen. Nett sein und nicht auffallen und vor allem – das sieht man an den vorgeschlagenen Projekten – nach allen Seiten offen koalieren zu können – das ist eine Kernbotschaft dieses Programmentwurfs.

Bleibt zu hoffen, dass die grüne Basis sich mit solchem Larifari nicht zufrieden geben wird. Sonst wird dieser Programmentwurf wohl nicht weit über die Cafés und Sofas der renovierten Altbauviertel der Metropolen hinaus Wirkung entfalten. Denn da wird inzwischen auch vereinzelt wieder FDP gewählt. Und Nena baute in ihrem Song damals „…ein Schloss aus Sand“…

Dieser Text erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Zum Thema AUFFALLEN – AUFMERKSAMKEIT:
    Gute politische Freundinnen von mir halten Jan Böhmermann für “albern”. Das ist falsch. In der letzten Folge seines Neo-Magazin-Royale lieferte er eine exzellente hochpolitische Abhandlung zum Thema AUFMERKSAMKEIT.
    https://www.zdf.de/comedy/neo-magazin-mit-jan-boehmermann/neo-magazin-royale-mit-jan-boehmermann-vom-9-maerz-2017-100.html
    Ich habe den Beitrag nicht zurechtgeschnitten in der Mediathek gefunden. Er ist in der Sendung nach seinem stehenden Auftritt, schon am Schreibtisch sitzend, und vor dem langweiligen Gespräch mit Staatssekretärin Bär – die entsprechende Passage dauert 11 Minuten. Eine Höhepunkt in seinem von mir verehrten Schaffen medienpolitischer Dekonstruktion. Grüne und Linke könnten da noch was von lernen. Martin Schulz kann es schon.

  2. Norbert Mülleneisen

    Solange eine Frömmlerin wie Göring-Eckhardt immer noch die Kirchen schützt statt für die konsequente Trennung von Kirche und Staat einzutreten kann ich die Grünen nicht wählen.

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