Aus Anlass des scheinbar überraschenden Wahlergebnisses im Saarland sowie der anstehenden Wahlkämpfe in diesem Jahr hier die Wiederholung eines Kommentars vom Oktober 2015.
Am Grünen-Infostand während des Bonner OB-Wahlkampfes am Beueler Rathaus, werktags nachmittags ohne anwesende Konkurrenzparteien, stahlen sich auffällig zahlreiche alte Damen vorbei, mal mit Rollator, mal am Arm ihrer Tochter, um diskret zu bekennen, dass sie die Absicht hatten, den Grünen-Kandidaten zu wählen. Sie trugen nicht unerheblich zum exzellenten Wahlergebnis von Tom Schmidt bei. Bei der Bundestagswahl haben sie bisher Angela Merkel gewählt.
Meine 2004 im Alter von 96 Jahren verstorbene Großmutter, tiefgläubige Katholikin, hat ihr Leben lang erst Zentrum (1929-33) und dann CDU gewählt (ab 1949). Bei ihrer letzten Landtagswahl jedoch Grüne: wegen Bärbel Höhn. Höhn war zu starken öffentlichen Figur geworden, weil sie Joschka Fischer in Sachen Kosovo-Krieg Widerworte gegeben hatte und die Machos Clement und Möllemann sie gemeinsam zu demütigen versuchten.
Solche Demütigungen durch Männer, daran mussten sich Frauen in Deutschland, die heute 70 oder älter sind, gewöhnen. Feminismus kannten sie nicht. Und als er in Westdeutschland gesellschaftspolitisch wirksam entstand, lehnten sie ihn als Hysterie junger Mädels ab. Sie selbst waren ja an Zurückstecken gewöhnt. Die Traumatisierung durch die Kriegserlebnisse kam hinzu und wurde nie therapeutisch behandelt. Verrückte kamen in die Klapsmühle. Und wer wollte da schon freiwillig hin?
Diese Frauen mussten subtilere Mittel anwenden, als offenen rhetorischen oder gar politischen Widerstand, um zu überleben, und im selteneren Fall, gesundheitlich und körperlich unversehrt zu bleiben. Selbst in der Nachkriegs-BRD waren sie jahrzehntelang nicht gleichberechtigt und noch weniger emanzipiert (= von Abhängigkeiten befreit). Im Gegenteil: nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch mussten sie “ehelichen Pflichten” nachkommen, sich also bei Bedarf vergewaltigen lassen; die Aufnahme von Berufstätigkeit bedurfte der Genehmigung des Ehemannes. Das war Gesetz, christliche Scharia. Normal.
Die meisten dieser Frauen überlebten ihre Männer, für die sie sich jahrzehntelang geopfert haben. Einige vielleicht, aber die meisten bereuen es bis heute nicht. Für die Frauenbewegungen der 70er Jahre und ff. fehlt ihnen dagegen das Verständnis. Die wissen ja gar nicht, wie gut sie es heute haben. Und ja: auch das stimmt wohl. Das Elend von Faschismus und Krieg kennen die meisten, wenn es gut gelaufen ist, wenigstens aus Schulbüchern. Denn auch die soziale Vererbung durch direkte Erzählung von Zeitzeugen, in den Familien oder woanders, geht jetzt zuende, stirbt aus.
Angela Merkel ist für diese Frauen die ideale Rächerin. Sie macht öffentlich um ihr Geschlecht kein selbstverliebtes Gewese. Sex als Waffe im politischen und ökonomischen Geschäft steht ihr, so wie verwelkten alten Frauen, nicht zur Verfügung. Über ihre diesbezügliche Mangelhaftigkeit wird von den männerbeherrschten Medien sogar ausgiebig gelästert. Auch junge unbedarfte JournalistInnen in Klatschblättern, wie sie beim Arzt und Friseur rumliegen und von dem alten Publikum studiert werden, wundern sich: wie macht sie das bloss? Gerade das ist der Trick: Merkel beherrscht die Männerwelt ganz ohne Sex. Beeindruckend. Genau so, wie es die meisten Frauen über 70 in ihren Ehen schaffen mussten. Und übrigens: ganz wie diese, ist Merkel bisher nur einmal verheiratet, als Gegenbild zu den polygamen Fischers und Schröders. und den Scharen von Schwulen und Lesben in Berlin.
Das war auch der Trick bei der Mathematikerin Bärbel Höhn versus Fischer (und Schröder). Über ihr Aussehen wurde in Grünen-Kreisen genauso gelästert wie über Merkel. Sie setzte sich dennoch in allen innerparteilichen Kämpfen, an denen sie teilnahm, durch. An vielen nahm sie nicht teil, ganz so, wie es heute auch Merkel oft von der Publizistik angekreidet wird. Diese alten Frauen werden von der Hauptstadtpublizistik nicht erreicht. Sie lesen – vielleicht – eine Lokalzeitung, die oben erwähnten Zeitschriften, und sehen TV, und zwar öffentlich-rechtlich. Aber keine Politmagazine, Tagesschau vielleicht, und Regional-TV.
Und sie sind eine Macht. Merkel weiß das genau. Aber wer sonst. Wie z.B. kann nur eine intelligente Journalistin wie Simone Schmollack auf die Idee kommen, Manuela Schwesig könne als mögliche SPD-Kandidatin für Merkel eine ernstzunehmende Gegnerin sein? Die sieht zu gut aus – ein KO-Argument!
Wie beziffert sich die Macht der alten Frauen? Die Zahlen der Bundestagswahl 2013 sind beeindruckend. Die CDU/CSU wurde nur zu 38,6% von Männern gewählt, aber zu 44.3% von Frauen. Bei den über 70-jährigen waren es 55,1% der Frauen (Männer: 47,9%). Frauen über 70 stellen 9,5% der Wahlberechtigten (Männer nur 6,8%).
Die über 70-jährigen Wahlberechtigten sind 12,1 Mio. Menschen, die unter-35-jährigen sind 2 Mio. mehr, rund 14.1 Mio. Durch die Wahlbeteiligung (Ü70: 74%; U35: 60%) verwandelt sich das Zahlenverhältnis: 9,5 Mio. Ü70-WählerInnen stehen nur noch 8,8 Mio. U35-WählerInnen gegenüber. Hinzu kommt für Merkel und die alten Frauen: bei den Jungen ist das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen. Das Frauenübergewicht kommt erst bei den Alten zum tragen: durch Krieg und allgemein höhere Lebenserwartung.
Wer gewinnen will, muss also Merkel die alten Frauen streitig machen. Die meisten von ihnen waren noch selbst Flüchtlinge, Auch hier stehen sie also auf Merkels Seite. Seehofer, Gabriel, Oppermann – Ahnungslose.
Alle Zahlen aus dem Bericht des Bundeswahlleiters zur Bundestagswahl 2013.
Ich danke der Witwe von Werner Sottong für das anregende Gespräch im September 2015. Merkel kam darin nicht vor, dafür aber Schwarz-Weiss und Rot-Weiss Essen sowie Borussia Mönchengladbach.
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