Beueler-Extradienst

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Fehler im Grünen-Szenario

In diesem Blog haben Roland Appel und ich bereits jeweils Kritik an den aktuellen Wahlkampfstrategien der Grünen formuliert. Ein Besuch der Bonner Mitgliederversammlung beruhigte mich nicht. Im Gegenteil.

Die Besucher*innen*zahl war durchschnittlich, eher am unteren Rand davon (25-30); “Mobilisierung” war das nicht; manche Sitzungen der Stadtratsfraktion sind besser besucht, von der war nur ein Stadtverordneter anwesend. Das Bundestagswahlprogramm, vorgestellt von MdB Katja Dörner, sollte diskutiert werden. Mit knapper Zeit allerdings, wg. weiterer wichtiger Wahlkampfaktivitäten. Sollte es ein inhaltliches Diskussionsbedürfnis gegeben haben, wurde es sogleich wieder gedeckelt.

Dörners Einleitung enthielt informative Hinweise, die unsere Kritik bestätigten. Ca. 10 Personen des professionellen Funktionärsmittelbaus (u.a. fachlich qualifizierte Fraktionsmitarbeiter*innen, aber keine Mandatsträger*innen) haben den Entwurf verfasst, der danach von zahlreichen Gremien befasst wurde. Der lobenswerte Versuch der Kürze werde aber aufgrund einer vierstelligen Zahl von Änderungsanträgen misslingen.

Im Kern gehe es dem Entwurf um die “Verteidigung der Gesellschaft”, und gegen eine “Grosse Koalition” die nur “die extremen Ränder” stärke. Für eine linke Grüne sind das Aussagen von bemerkenswerter Defensive.
Als klare Aussagen des Programms wurden aufgezählt: Bürgerversicherung (Kranken- und Renten-), Familienbudget gegen Kinderarmut, Ehe für alle, Einwanderungsgesetz, Verbot von Rüstungsexporten “in Krisenregionen”. In der Diskussion spielte die erforderliche Erhöhung des Mindestlohns eine wichtige Rolle. Die Bonner Grünen haben ausserdem ausführliche Änderungsanträge zum Bereich Internationales, Friedens- und Entwicklungspolitik ausgearbeitet. Oft ist es ihnen gelungen, dafür beim Parteitag Mehrheiten zu gewinnen.

Das ist schon eine grüne Gesetzmässigkeit: bei Programmdiskussionen lassen sich in der Regel linke Mehrheiten organisieren, die die Zaghaftigkeit der Berliner Führung und des Parlamentspersonals zuspitzen.
Die übermittelte Hoffnung, der Grüne Bundesparteitag im Juni könne im Hinblick auf die Bundestagswahl als “Game-Changer” funktionieren, also als Wendepunkt des Spiels, dürfte aber eine kindliche Illusion sein. Wenn es einen “Game-Changer” geben wird, dann die NRW-Landtagswahl am übernächsten Wochenende.

Die Grünen in der Region werfen nächste Woche ihren Parteivorsitzenden Özdemir in den NRW-Wahlkampf (Mi. 10. Mai, 19 h „Cemsession“ Siegburg, Stadtmuseum, direkt am Markt). Aber ist er nicht Teil des Problems? Angenommen, den Grünen gelingt “game-changend” eine inhaltliche und strategische Zuspitzung ihres Wahlprogramms, quasi ein Ausschluss zahlreicher Missverständnisse (von “offen nach allen Seiten” bis “nur noch Mittelständler, Bildungsbürger und Regierungsbeamte”). Wie sieht es dann um die Identität von Programm und Personen aus? Denn erst eine solche Identität würde eine erfolgreiche Übermittlung in die Öffentlichkeit möglich (nicht sicher) machen.

Es gibt da in den Grünen wie in der gesellschaftlichen Linken ein spezielles Generationenproblem. Die Älteren haben mal die Entwicklung sophistischer Kämpfe erlernt: Sprachpolitik, Verbindung von Kampagneninhalten und sozialer Basis, Entwicklung neuartiger Aktionsformen, alles geschult an Marxismus, Frankfurter Schule, dialektischem Materialismus und kritischem Rationalismus. Die waren nicht nur Disputgegenstand eitler Philosophen und Professoren, sondern enthielten auch Handwerkszeug für die Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktstellungen, der Erkämpfung von sozialem Fortschritt durch Entfaltung von öffentlichem Streit. Den Gipfel in der Geschichte unserer Republik bildete im Westteil die Mobilisierung für die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung 1972: höchste Wahlbeteiligung der Geschichte, illegale (!) Warnstreiks für die Regierung, Streit und Konfrontation an jedem Ort des Alltags und in jeder Familie, irre Mitgliedergewinne der Parteien (SPD: 1 Mio., nur West!). Öffentlich eingeleitet wurde diese Politik durch eine Rede von Egon Bahr 1963 in Tutzing, also 9 Jahre (!) zuvor. (Die gleiche Akademie traut sich heute die Organisation eines deutsch-israelisch-palästinensischen Trialogs nicht mehr zu.) Die meisten der damaligen Strategen sind tot (Vorbilder für mich bis heute u.a. Günter Gaus und Peter Bender, ein geistig und publizistisch noch Aktiver dieser Zeit ist Fritz Pleitgen). Ein Überlebender ist Albrecht Müller, der leider völlig verbittert und doktrinär auf seinen verdienstvollen aber wirkungsarmen nachdenkseiten publiziert. Der Gestus der beleidigten Erfolglosigkeit (“auf mich/uns hört ja keiner”) springt mich als regelmässigen Leser dort in fast jeder Zeile an. Müller lebt so quasi öffentlich-repräsentativ, was auch den meisten meiner Altersgenoss*inn*en misslungen ist: ihr Wissen und ihre Erfahrung in der Entwicklung gesellschaftlicher Diskursstrategien an den politischen Nachwuchs, in der Regel in prekären Arbeits-, Lern- und Lebensverhältnissen, und umzingelt von Beschleunigung, kapitalistischen Geschäftsmodellen und Verwertungsketten und brutalen Kämpfen um kurzfristige Aufmerksamkeit, es also an politischen Nachwuchs, der in solchen gesellschaftlichen Umständen aufwachsen muss, weiterzugeben.

Ich gebe zu: dieser Blog ist auch nur so ein Versuch, ein luxuriöser zumal.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Amina Johannsen

    Eine kluge und gut lesbare Einschätzung der miserablen Lage. Die zeitgeschichtliche Einordnung habe ich mit Neugier gelesen und sie lässt mich aus meiner oberflächliche emotionale Bewertung in die komplexen Zusammenhänge tauchen und sehr viel besser verstehen. So macht der geneigten Leserin Politikverstehen Spass. Danke Martin.

  2. Roland Appel

    Die Ent-Politisierung der Öffentlichkeit wurde seit den 70er Jahren durch eine durchdachte Strategie der Gegenaufklärung von Konservativen und neoliberalen Denkrichtungen systematisch durchgesetzt: Die Entpolitisierung von Schule und Hochschulen, das Verbot politischer Aussagen für Studenten- und Schülervertetungen (niemand verbot je Handwerkskammern und IHKs allgemeinpolitische Aussagen) die finanzielle Austrocknung der Jugendhäuser und (politischen) Jugendverbände, die fast totale Kommerzialisierung der Freizeitkultur waren nur die ersten Schritte. Der Kulturkampf der CDU gegen den angeblichen “Rotfunk” NDR, und WDR, die Errichtung von Privatfernsehen in den Händen des Medienmoguls Kirch durch Helmut Kohl kamen hinzu. Zeitungssterben und Pressekonzentration in den Händen ganz weniger Verleger im Zuge der Wiedervereinigung, denen Renditeerwartung vor Verantwortungsethik geht und öffentlich-rechtliche Sender, die unter dem Quotendiktat teuren investigativen Journalismus (Monitor) in Nischen verdrängte und durch billig zu (re-)produzierende Talkshows (Plasberg, Maischberger, Illner und co.) ersetzt hat, trugen das Ihre dazu bei. Dabei spielten immer auch Grüne mit, die das Lied vom “wir sind nicht links, wir sind nicht rechts, sondern vorn” sangen und von Klassengegensätzen und gesellschaftlichen Interessen – nicht selten aufgrund ihrer ehemaligen Zugehörigkeit zu kommunistischen Sekten – nichts mehr hören wollten. Da sind wir dann dort angekommen, wo auch in Deutschland die oberen 1% der Bürger über 50% des Vermögens besitzen und die FDP schon wieder die Steuern senken will – und damit bei 13% in den Umfragen steht.

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