Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht sorgen. Wer wüsste das besser, als meine Geburtsstadt Gelsenkirchen. Platz 401 im Städteranking von ZDF und Prognos, ich berichtete selbst darüber. Das ist natürlich selbst für die in Ostdeutschland, 70 km vor der polnischen Grenze, ein spektakuläres Ding. Und sie schickten eins ihrer ewigen Talente, die von irgendwo bei Würzburg in die grosse Stadt gezogen war, um was mit Medien zu machen, in diesen Zoo, um uns mal zu erzählen, wie es da wirklich ist.
Ich kann Frau Seubert zurufen: wenn wir im Ruhrgebiet auf irgendwas verzichten können – dann darauf. Wer keine Zeit hat, sich mehr als 15 Minuten zu Fuss vom Hauptbahnhof wegzubewegen, kann sich von keiner Ruhrgebietsstadt ein faires Bild verschaffen. Weil jede Schreckliches und Schönes zu bieten hat – “No-Go-Areas” für weisse deutsche Männer gehören definitiv nicht dazu. Und weil das Ruhrgebiet, da müssten Berliner*innen, wenn sie die Geschichte ihrer eigenen Stadt überhaupt kennen, was von wissen, aus sehr vielen Städten, grossen und kleinen, besteht, sehr viel Schreckliches und Schönes.
Wenn Frau Seubert im Norden von Gelsenkirchen gewesen wäre, hätte sie nicht geglaubt, dass das Stadtgebiet ist; so ging es mir in Berlin, wenn ich einen alten Freund in Biesdorf besucht hatte. Wenn Frau Seubert im Park von Schloss Berge flaniert wäre, gleich nebenan der Schalke-Arena, hätte sie sich vielleicht als die Prinzessin gefühlt, die die taz aus ihr machen will. Beim Bauer Becks, in dessen unmittelbarer Nähe ich meine ersten fünf Lebensjahre aufgewachsen bin, in einer ECA-Siedlung (mehr darüber in diesem Buch), hätte Frau Seubert nicht mehr geglaubt, dass das Ruhrgebiet ist. Allerdings: einmal umdrehen, und die Chemieschlote von Scholven wären zu sehen.
Ruhrgebietspolitik – versteht keine*r, kann keine*r erklären
Es ist für Berliner Journalist*inn*en zuviel verlangt, die Ruhrgebietspolitik zu verstehen, gar zu erklären. Das ist für Auswärtige auch zu schwer, sogar für Einheimische. Und das ist Absicht, war es schon in Preussen, und ist es auch in NRW. Die über 20 Städte werden aus drei verschiedenen Regierungsbezirken dirigiert (Düsseldorf, Münster, Arnsberg). Bis heute haben die Strassen- und Stadtbahnen verschiedene Spurweiten. Obwohl Stadtgrenzen optisch unsichtbar sind, sind die Umsteigebeziehungen im ÖPNV heute so schlecht, wie vor 40 Jahren. Habe ich selbst getestet. Daran hat weder der Stadttelzentren zerstörende U-Bahnbau noch die Gründung des Verkehrsverbundes VRR was geändert.
Ein einheitliches Ruhrgebiet wäre doppelt so gross wie Berlin, es wäre stark und mächtig. Das musste verhindert werden. Und das gelang.
So sieht es öknomisch jetzt auch aus. Die Bergleute und Stahlkocher wurden angemessen menschlich in Rente geschickt, ihre Kinder auf die zahlreichen von SPD-Landesregierungen gegründeten Hochschulen, alles um ihre damals noch starken Gewerkschaften friedlich zu stimmen. Für die Jungen hiess es dann: nix wie weg, in die Welt hinaus. Ganz wie Frau Seubert “aus der Nähe von Würzburg”.
Asoziale Gleichgültigkeit
Worunter Gelsenkirchen wirklich leidet, wie unser ganzes Gesellschaftssystem, das ist die soziale Gleichgültigkeit, die Arno Widmann/FR heute richtig diagnostiziert. In NRW sieht sie ungefähr so aus, wie die PR-Arbeit des NRW-Landesinnenministers, brav abgefeiert von der regionalen und lokalen Presse (was im Ruhrgebiet alles eins ist und heute “Funke-Mediengruppe” heisst). Wer so eine Landesregierung hat, braucht keine Feinde mehr. Gelsenkirchener lachen darüber, wissen Bescheid, wie es heute läuft, und gucken weiter Fußball.
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