11 Eindrücke von Fußball-WM 2018
von Klaus Hansen

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Ein deutscher Bundestrainer, der das russische WM-Quartier seiner Mannschaft als Bühne nutzt, um vor Hunderten von Kameras einen Alain-Delon-Ähnlichkeitswettbewerb zu bestreiten, wirkt befremdlich.
Ein Bundestrainer, der sich fernsehöffentlich in der Unterhose kratzt, wie 2016 bei der EM, und anschließend die beteiligten Fingerkuppen beschnuppert, wirkt vergleichsweise sympathisch. Ein unerwachsener Junge eben. Obwohl bereits Mitte 50. Aber nett!
Heute sind wir zwei Jahre weiter. Auch in der Entfremdung, die zwischen Trainer und Team auf der einen Seite und der Masse der Fußballanhänger auf der anderen Seite stattfindet. „Elf Fremde müsst ihr sein“, schrieb sarkastisch eine große deutsche Tageszeitung nach dem Aus für die deutsche Elf. In Erinnerung an einen berühmten Buchtitel aus dem Jahr 1955, ein Jahr nach dem „Wunder von Bern“.

2
Ballbesitzfußball wird als Fußball der Selbstzufriedenen entlarvt: Es fehlt zwar an Toren, aber alle reden sich ein, ganz toll gespielt zu haben, denn die „Werte“ stimmen ja: Ballbesitz, Passquote, Laufleistung, alles gigabyte. Dabei ist Fußball wirklich einfach. Ein Tor mehr schießen als der Gegner. Oder ein Tor weniger kassieren. Mehr ist es nicht. Je intensiver die Wege zum Ziel analysiert und diskutiert werden, umso größer die Gefahr, dass der Weg zum Ziel wird.

3
Bis noch in die 1970er Jahre waren Fußball-WMs Weltmessen der Neuerungen. Aus Südamerika und Afrika tauchten immer wieder neue, im Rest der Welt noch unbekannte Genies auf. Auch spieltechnische und spieltaktische Neuerungen – der Catenaccio, der Libero, die Verteidigung im Raum statt am Mann – erreichten durch die WMs internationale Bekanntheit und vielfache Nachahmung. Das ist vorbei.
Seit den 1980er Jahren finden die Neuerungen, die von einer WM ausgehen, im Event-Bereich statt. Sie sind nicht mehr auf dem Platz zu beobachten, sondern auf den Rängen. Mit der La-Ola-Welle in Mexiko 1986 hat es angefangen. Heute, in Russland, erleben wir den zehntausendfachen Countdown vor dem Anpfiff: ten, nine, eight, seven…. Abzusehen, dass dieses Herunterzählen nun auch in die Bundesliga einziehen wird.
Schon der Anpfiff soll also zur großen Show werden.
Der Abpfiff ist es längst. Durch die willkürlich verhängte Nachspielzeit kommt es vor, dass er bis zu 10 Minuten hinausgezögert wird und an den Nerven aller Beteiligten zerrt, ohne dass erkennbar wird, dass dem Spiel hierdurch „mehr Gerechtigkeit“ widerfährt, wie die FIFA propagiert. „Gerechtigkeit“ im Fußball macht ohnehin alles kaputt. Wäre Fußball gerecht, müsste immer der Bessere gewinnen. Und keiner von uns ginge mehr hin.

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Eheringe sind eine Verletzungsgefahr. Darum müssen die Spieler sie vor dem Spiel abnehmen. Eheringe stehen auf einer Stufe mit Ohrringen und anderen Piercings. Tattoos hingegen sind ohne Einschränkungen erlaubt. Sie verletzen niemanden. Außer den guten Geschmack. Aber der ist gerade dabei, sich vom Fußball abzuwenden.

5
Eine neue Wechselbeziehung drängt sich auf, nennen wir sie die Leichtmatrosen-Korrelation: Je tätowierter ein Spieler, desto öfter wälzt er sich schon beim geringsten Foul dramatisch um die eigene Achse. Neymar, Brasilien, hat es auf sechs Umdrehungen gebracht. Ein doppelter Rittberger ist nichts dagegen. Die schon bekannten Choreographien nach einem erzielten Tor werden durch Foul-Choreos ergänzt.

6
Überhaupt Neymar! In Erinnerung bleibt seine Nettoliegezeit von 14,7 Minuten in den absolvierten fünf Spielen. „Zeit, ihn zu wenden, damit er sich nicht wundliegt!“, möchte man im Geiste von Mehmet Scholl rufen. – Ein genialer Fußballer verkommt zur Schießbudenfigur. Was seinem Marktwert in der Unterhaltungsindustrie allerdings nicht schadet, im Gegenteil.

7
Einzelkönner-Dämmerung. Messi und Ronaldo im Achtelfinale ausgeschieden, Neymar im Viertelfinale. Schönes Memento: Fußball ist ein Mannschaftsspiel! Und als bester Einzelfußballer des WM-Turniers wird am Ende ein Verlierer ausgezeichnet: Luka Modric.

8
Bei der WM 1958 in Schweden tauchte ein 17jähriger mit der Nummer 10 auf, der für die nächsten 15 Jahre den Weltfußball überstrahlen sollte: Pele. 2018 ist es ein 19jähriger, ebenfalls mit der 10, der aufhorchen lässt: Mbappé. Sympathischer Junge. Schießt den Ball, den er ins Seitenaus befördert hat, nicht noch extra weit weg, sondern bringt ihn seinem Gegenspieler zum Einwurf.

9
Hauptwort „Standards“. Fast die Hälfte aller Tore des Turniers ist nach Eck-, Frei- und Strafstößen gefallen, nach „ruhenden Bällen“ also. (Ist Fußball nicht das Spiel, bei dem der Ball „laufen“ soll?) Der fußballuntypische Einwurf, weil mit der Hand gespielt, wird als Waffe entdeckt; weite Einwürfe, 30 Meter und mehr, „kreieren Torchancen“ (Bierhoff-Sprache). Im Training der Vereine werden Standards also zukünftig eine besondere Rolle spielen, zumal sie vergleichsweise leicht zu trainieren sind. Es ist zu befürchten, dassFußballspiele künftig öfter durch Standards (denen häufig fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen vorausgehen) entschieden werden als „aus dem Spiel heraus“, also durch phantastische Kombinationen auf phantastischen Laufwegen, bei denen am Ende das Tor wie eine reife Pflaume fällt.. – Wird der Fußball dadurch für uns Zuschauer attraktiver? Wahrscheinlich nicht. Er wird nur amerikanischer. Baseball besteht fast nur aus Standards.

10
Weltmeister Frankreich hat nicht mehr Tore geschossen als der Vizeweltmeister Kroatien. Aber er hat weniger Tore kassiert. (Berücksichtigt man alle sieben Spiele des Turniers. Und lässt die Elfmeterschießen außen vor, denn sie sind ein eigener Wettbewerb.) Wieder einmal bewahrheitet sich die alte, auf Seppl Herberger zurückgehende Fußballweisheit: Spiele werden vorne gewonnen, Meisterschaften hinten.

11
Was bleibt? Ein WM-Titel, errungen ohne Gegenwehr von schlitzohrigen Italienern und stets leicht käsigen, aber oft genialen Holländern, ist ein Titel nicht zweiter, aber anderthalbter Klasse.

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