Wir brauchen das als gesellschaftliches Verhalten
Interview mit der dominikanischen Feministin Lourdes „Lulú“ Contreras von Ruby Berger und Hans-Ulwich Dillmann

Lourdes „Lulú“ Contreras kämpfte bereits als Jugendliche in der „Revolución de Abril 1965“, als sich verfassungstreue Offiziere gegen die Militärdiktatur erhoben und US-Marines die Dominikanische Republik besetzten. Monatelang hielten die Aufständischen Teile von Santo Domingo besetzt. Lulú war von 1964 bis 1994 Mitglied der Partido Comunista Dominicano (PCD), die sich 1996 auflöste und mit anderen linken Gruppierungen fusionierte. Neben ihren politischen Aktivitäten hat sie zwei Jahrzehnte als Lehrerin gearbeitet. Später absolvierte sie ein Masterstudium über „Gender und Entwicklung“ am Technologischen Institut (INTEC) in Santo Domingo. Dort leitet sie heute das „Zentrum für Gender-Studien“ (CEG-INTEC). Lulu ist verheiratet und hat drei Kinder. Die ila sprach mit ihr über den 25. November, über Femizide, Abtreibungsverbot und jüngste Mobilisierungserfolge.

Hat sich fast sechs Jahrzehnte nach der Ermordung der Hermanas Mirabel die Situation der Gewalt gegen Frauen in der Dominikanischen Republik verbessert?

Die Situation der Frauen in unserem Land hat sich nicht verbessert. Im Gegenteil. Die Gewalt gegen Frauen hat extrem zugenommen. Dazu kommt, dass mit dem wachsenden Bewusstsein der Frauen über die Dimension und die Charakteristika dieser vielfältigen Gewalt die Forderung an Stärke gewonnen hat, sich dieses Themas in all seinen Ausdrucksformen gesellschaftlich anzunehmen: Dazu gehört die Prävention, die Wahrnehmung sämtlicher Facetten sexistischer Gewalt und das Thema der Sanktionen gegen die Täter. Es gibt ein breites Bewusstsein über die Gewalt gegen Frauen bei den Frauen selbst und eine Mobilisierung der Frauen, diese öffentlich zu machen und zu fordern, dass Justiz und Behörden aktiv werden müssen. Faktisch gibt es aber nur sehr dürftige Reaktion der staatlichen Stellen in Sachen Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen, Prävention, Verfolgung und Bestrafung. 60 Jahre nach der Ermordung der Geschwister Mirabal gibt es in der Dominikanischen Republik nach wie vor sexuelle Gewalt, berufliche Benachteiligung von Frauen und Belästigungen, wie sie die MeToo-Bewegung öffentlich gemacht hat. Dass die Ehemänner die ökonomische Kontrolle über Frauen ausüben, dass die Ex-Männer, oft Väter ihrer Kinder, versuchen, das Leben und den Körper der Frauen zu kontrollieren, die finanzielle Gewalt, indem sie nicht für die Kosten der Kinder aufkommen und die physische, sexuelle Gewalt – dieses ganze breite Spektrum der Gewalt wird aber von den Frauen verstärkt angeklagt. Der negative Aspekt dieser Anklagen besteht jedoch darin, dass sich die Gewalt verstärkt, wenn die Justiz nicht agiert.

Häusliche Gewalt ist seit 1997 Straftat – aber Femizide (ca. 200 jährlich) bisher nicht gesetzlich berücksichtigt

Steht in diesem Zusammenhang der Anstieg der Femizide im Land in den letzten Jahren?

Ja, das muss in diesem Kontext gesehen werden. In den 80er-Jahren haben wir dafür gekämpft, dass Gewalt gegen Frauen strafrechtlich verfolgt wird. Wenig mehr als zehn Jahre später hat der dominikanische Kongress auch aufgrund unseres Druck ein Gesetz gegen häusliche Gewalt auf den Weg gebracht, das 1997 in Kraft trat. Damit war Gewalt gegen Frauen eine Straftat. Das haben wir erreicht. Dieses Gesetz definiert und sanktioniert Gewalt gegen Frauen. Es ist aber unvollständig und fehlerhaft und wurde trotz unserer Forderungen und zahlreicher Initiativen bisher nicht modifiziert. In dem Gesetz wird zum Beispiel der Femizid überhaupt nicht berücksichtigt und deshalb lautet unsere Forderung für das neue Strafgesetz, den Femizid als ein „Verbrechen gegen Frauen, allein weil sie Frauen sind“, unter Strafe zu stellen. Wenn sich ein Mord ereignet, muss dies bei der Untersuchung über die Tatumstände und -motive als soziale und politische Komponente einbezogen werden. Die Ermittlungen müssen den Aspekt berücksichtigen, dass die Frau eine „verletzliche Person, die malträtiert und umgebracht werden kann“ ist. Deshalb fordern wir die Aufnahme des Femizid ins neue Strafgesetz. Zusätzlich sind wir seit über zehn Jahren dabei, einen gemeinsamen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten, der alle verantwortlichen Akteure des Staates mit einbezieht, nicht nur strafrechtlich, sondern vor allem präventiv.

Wie viele Femizide gab es in den letzten Jahren?

In den letzten 15 Jahren sind jedes Jahr durchschnittlich 200 Frauen aufgrund von verschiedenen Formen der Gewalt gestorben. Mal etwas weniger, mal etwas mehr. 200 Femizide. Und die Gewalt gegen Frauen geht einher mit Straflosigkeit. Im Jahr 2012 hat die Generalstaatsanwaltschaft der Dominikanischen Republik Zahlen veröffentlicht. 64000 Fälle von Gewalt gegen Frauen wurden angezeigt, aber nur vier Prozent durch ein Strafverfahren verfolgt. Im vergangenen Jahr hat die Generalstaatsanwaltschaft neue Zahlen vorgelegt: 72000 Anzeigen, ein Anstieg um fast 10000 Fälle. Aber nur noch zwei Prozent seien schließlich vor einem Gericht verhandelt worden.

Netz der Komplizenschaft

Hat die Generalstaatsanwaltschaft auch etwas über die Gründe der geringen Strafverfolgung gesagt?

Die Komplizenschaft der Männer im Rahmen des Justizverfahren ist Teil dieser Straffreiheit. Das fängt schon damit an, dass die Frauen dabei behindert werden, dass sich das Strafverfahren im Rahmen des Verfahrensablaufs entwickelt. Dazu gehört, dass sie sich immer wieder vor den Instanzen präsentieren müssen, um das Strafverfahren am Laufen zu halten; hinzu kommt die Kumpanei bei Polizisten, Staatsanwälten und Richtern. Es ist ein Netz der Komplizenschaft. Die mangelnde strafrechtliche Behandlung der Gewalt gegen Frauen ist eines der größten Merkmale der generellen Straffreiheit in der Dominikanischen Republik. Es geht nicht nur um die Korruption innerhalb der Verwaltung von Staat und Regierung hinsichtlich der finanziellen Mittel, sondern auch in Anbetracht der Nichtanwendung der Justiz, wenn Frauen Opfer von physischer und psychischer Gewalt sind.

Sind das Forderungen oder konkrete Pläne?

Das Gesetz liegt dem Kongress zur Debatte in diesem November 2018 vor. Es ist ein umfassendes Projekt. Das Erziehungsministerium wird verpflichtet, präventiv in den Schulen Schülerinnen und Schüler die Bedeutung von Gewalt zu vermitteln, damit sie verstehen, was es bedeutet, sich als Angegriffene, im Fall der Mädchen, oder als Angreifer, im Fall der Jungen, zu fühlen. Gleichzeitig soll gesetzlich definiert werden, was das Gesundheitsministerium im Rahmen eines Gesundheitssystems tun muss, damit es frei von Gewalt ist und es dort ein Verständnis über die Entstehung gesundheitlicher Verschlechterung auf physischer wie psychischer Ebene von Frauen gibt, die mit Gewalt konfrontiert sind. Außerdem gehört dazu, dass die Gemeinden und Stadtverwaltungen in die Pflicht genommen werden. Sie müssen Verantwortung dafür tragen, dass die Organisationen unterstützt werden, die sich mit der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, mit der Aufdeckung von Risikosituationen für Frauen und Prävention befassen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und mögliche Angreifer oder Gefährder schon im Vorfeld davon abzuhalten.

Welche Rolle spielen die Frauengruppen in diesem Kampf?

Die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen in der Dominikanischen Republik war immer in den Händen von Frauen und feministischen Gruppen. Was wir erreicht haben, ist Ausdruck des Kampfes der dominikanischen Frauen, ihrer Beharrlichkeit auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Das gilt für die Medien, damit wir thematisch und mit unseren Aktionen öffentlich wahrgenommen werden. Das gilt aber auch für die politischen Strukturen, damit dort die gesellschaftliche Realität wahrgenommen wird und daraus juristische und politische Aktivitäten entwickelt werden. Von daher haben wir die Stimmen von weiblichen Abgeordneten erhalten, ebenso wie von männlichen Kongressmitgliedern. Sie sind mit uns Akteure und Träger im Parlament für die Veränderung der Gesetze, damit die Situation der Frauen verbessert wird. Auf der gesellschaftlichen Ebene hat die Frauenbewegung es geschafft, dass sich bei den Stadtteilorganisationen ein Bewusstsein entwickelt hat und sie zu Alliierten in diesem Kampf geworden sind.

Gewalt gegen Frauen ist erlernt – Frauenministerium fehlt Kraft zur Umsetzung

Bis 1996, als die Ära des Caudillo Balaguer endete, war die Frauenbewegung eher eine außerparlamentarische Bewegung. Als 1999 das Frauen-Ministerium entstand, haben einige Frauen aus der Bewegung Regierungsfunktionen übernommen. Stimmt der Eindruck, dass die Frauenbewegung heute erneut eher wieder eine außerparlamentarische Kraft ist?

Wir kämpfen auf zwei Ebenen. Außerhalb des Parlaments, weil die gesellschaftliche Wirkung notwendig ist. Nur so erreichen wir, dass die Gewalt gegen Frauen endet. Wir brauchen aber auch Sanktionen als Reaktionen auf Gewalt. Wir wollen die Gewalt beenden. Wir brauchen Nichtgewalt gegen Frauen als ein gesellschaftliches Verhalten. Gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen ist ein erlerntes Verhalten und deshalb ist es notwendig, dass dies in den Familien und der Gesellschaft, in den Haushalten, in den Kindergärten, Schulen, in den Stadtteilen, in den politischen, kirchlichen, sozialen Gruppierungen sowie Gemeinden reflektiert wird. Das gesellschaftliche, das menschliche Verhalten muss vom Respekt für die Rechte der Frauen geprägt sein. Die politischen Akteure müssen dies begreifen. Deshalb erheben wir unsere Stimme und kämpfen wir. Wir haben es geschafft, dass viele Frauen Akteurinnen innerhalb staatlicher Instanzen sind. Auch deshalb haben wir ein breites Bewusstsein über die derzeit zur Diskussion stehenden Gesetze erreicht – eine alle Aspekte umfassende gesetzliche Regelung. In demjenigen Teil des Prozesses, für den der Staat die Verantwortung trägt, war das Frauenministerium mit einbezogen. Aber das Ministerium hat nicht die Kraft zur Umsetzung, obwohl es eine staatliche Institution ist.

Das heißt, es gab Widerstand gegen die Forderung der Frauen?

Natürlich. Wir brauchen beide Ebenen, institutionelle Arbeit UND soziale Mobilisierung. Für den kommenden 25. November werden wir eine Großdemonstration organisieren. Thema: Kampf gegen Gewalt an Frauen und Kampf gegen die Strafbarkeit der Abtreibung in drei Fällen. Das ist ein historischer Kampf seit über 20 Jahren. Das Strafgesetz muss geändert werden, denn dort wird das Recht von Frauen negiert, über sich, ihre Gesundheit und ihr Leben zu bestimmen.

In welchen drei Fällen wollt ihr die Strafbarkeit von Abtreibung abschaffen?

Erstens, wenn das Leben der Frau bedroht ist durch das Aufrechterhalten der Schwangerschaft. Zweitens, wenn die Schwangerschaft das Resultat sexueller Vergewaltigung oder Inzest, also ein Gewaltverhältnis innerhalb der Familie gewesen ist. Drittens, wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, das heißt, wenn der Fötus keine Überlebenschance außerhalb des Uterus haben würde. Es kann nicht sein, dass die Frau gezwungen wird, ein nicht lebensfähiges Lebewesen auszutragen, an dessen Ende der sichere Tod des Neugeborenen steht und auch ihr Leben bedroht ist.

Die Abtreibungsgesetzgebung der Dominikanischen Republik ist eine der schärfsten in Lateinamerikas.

Richtig. Wir sind eines der vier Länder in Lateinamerika, die die Abtreibung auf allen Ebenen verbietet, dazu gehören neben der Dominikanischen Republik Nicaragua, El Salvador und Honduras. Das wichtigste – um nicht zu sagen einzige – Hindernis sind die Kirchen. Damit meine ich die Protestanten, Evangelikalen und die katholische Kirche, obwohl sich Frauengruppen innerhalb der verschiedenen Kirchen gegen die Kirchenführung zusammengeschlossen haben und fordern, dass die Kirchen nicht Komplizen sein dürfen für den Tod von Frauen. Aber die Führungsspitzen der unterschiedlichen Kirchen widersetzen sich mit aller Gewalt dagegen. Die Kirchen haben großen Einfluss auf die Abgeordneten und die Gesetzgebung. Die Abgeordneten fürchten den Einfluss, den die Kirche auf die Wähler*innen haben.

Größte Mobilisierung der Frauen in der Geschichte des Landes: Frauenbewusstsein stark gewandelt, gesellschaftliches nicht

Dennoch ist es euch gelungen, weite gesellschaftliche Kreise zu mobilisieren.

Im April dieses Jahres gab es die größte Mobilisierung der Frauen in der Geschichte des Landes wegen der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in drei zulässigen Situationen. Die Frauenbewegung hat es geschafft, dieses Thema zum Gegenstand der sozialen Kämpfe im Land zu machen. Zwei landesweite Befragungen zeigen, dass sich über 80 Prozent der dominikanischen Gesellschaft für die Abschaffung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in diesen drei Fällen ausspricht, besonders wenn das Leben der Frau aufgrund der Schwangerschaft in Gefahr ist. Die Dominikanische Republik hat ihr Strafgesetzbuch seit mehr als 90 Jahren nur deshalb nicht verändert, weil es keinen Konsens im Kongress gibt über die rechtliche Regelung des Abtreibungsparagrafen. Damit ist auch ein anderes Gesetzesprojekt blockiert, das derzeit auf der Tagesordnung steht: die strafrechtliche Einordnung der Gewalt gegen Frauen bezüglich der Verpflichtung der staatlichen Akteure, sich diesem Thema anzunehmen im Sinne von Prävention, Betreuung und Sanktionen.

Faktisch bleibt alles beim Alten?

Die Vorstellungen in der dominikanischen Kultur über den Wert der Frau in der Gesellschaft haben sich nur wenig gewandelt, obwohl sich das Bewusstsein der Frauen selbst stark verändert hat. Aber die gesellschaftliche Ablehnung der Frauenrechte auf verschiedenen Ebenen hat nicht nur zu einer Ernüchterung geführt, sondern auch dazu, dass die Frauenbewegung an Bedeutung gewonnen hat.

25. November – Internationaler Aktionstag gegen Gewalt gegen Frauen

Am 25. November 1960 wurden in der Dominikanischen Republik die drei Schwestern Patricia, Maria Teresa und Minerva Mirabal im Auftrag des Diktators Rafael Leónidas Trujillo Molina ermordet. Die „Schmetterlinge“, so ihr Deckname, gehörten der revolutionären Befreiungsbewegung 14 de Julio an. Die Ermordung läutete das Ende der Trujillo-Diktatur ein. 1981 wurde bei einem Treffen lateinamerikanischer und karibischer Feministinnen in Bogotá der Todestag der Mariposas“ zum „Aktionstag gegen Gewalt gegen Frauen“ ausgerufen. Seit 1999 ist der Dia Internacional de la No Violencia Contra la Mujer offiziell Aktionstag der Vereinten Nationen zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 420 / Nov. 2018, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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