Haben die Herrschenden das Herrschen verlernt? Haben sie in ihren Kadern die gleichen Qualitätsprobleme wie wir, die Herrschaft zugunsten von Emanzipation überwinden wollen? Es sieht ganz so aus. Manche von denen bauen sich schon Burgen in Neuseeland, um im Falle des Falles dorthin fliehen zu können und von allem weit genug weg zu sein.
Nehmen wir noch mal diese Symbolfigur Merz. Gut, dass der gegen AKK knapp verloren hat, ist weissgott für die Herrschenden keine Katastrophe, sondern schlicht eine klügere Entscheidung. Aber immerhin hat ihn der grösste US-Kapitalinvestor zu seinem deutschen Aufsichtsratschef gemacht. Ist das schon ein Anzeichen für Geringschätzung und Bedeutungslosigkeit Deutschlands im globalen Massstab? Zu der nicht zuletzt Merz’ Pate, der langjährige Bundesfinanzminister durch seine entsolidarisierende Europapolitik konsequent beigetragen hat?
Oder wie sonst ist es zu erklären, dass beim CDU-Parteitag der erwartete konservative Rhetorik-Star ausgerechnet in seiner Königsdisziplin, dem Klugschwätzen, gegen die nur scheinbar provinzielle Saarländerin eine krachende Niederlage hingelegt hat? (keine Verlinkung: die auskunftsfreudigen Texte der Herren Bollmann und Georgi von der FAZ wurden heute mittag hinter der Paywall vermauert) Gute Reden sind Handwerk. Das ist erlernbar. Und Merz hatte ja schon bewiesen, dass er es erlernt hat. Was ihm immer fehlte und bis heute fehlt ist: Sozialkompetenz. Er kennt das Publikum nicht mehr. Es hat sich verändert. Seine erlernten Klischees, die er nicht upgedatet hat, stimmen nicht mehr. Und weil er das ahnt, er ist ja nicht blöd, ist er verunsichert, und kann keinen Elfmeter mehr verwandeln.
Wenn es sich nur um Merz und die CDU handeln würde … Was Staatspräsident Macron bei unseren Nachbarn absolviert ist in Ausmass und politischer Bedeutung weit grösser. Er repräsentiert, dass die Herrschenden und Superreichen, und nicht weniger die, die für sie arbeiten, vom wirklichen Leben da draussen nichts mehr verstehen. Darum kann es sein, dass Georg Blume/Sp-on kaum übertreibt. Es baut sich eine Erwartung auf, dass “etwas” passiert, das Grösser ist, als wir es in der deutschen Puppenstube gewohnt sind. Weil wir aber nicht wissen, was es ist, weil es sich kaum mehr in Formen traditioneller politischer Organisation bewegt, wirkt es auch unheimlich – für die Beobachter*innen am Rand. Für die Aktiven ist es ein intensiver Lern- und Emanzipationsprozess. Aktiv wird, wer Hoffnung hat, etwas bewegen und verändern zu können. Auch eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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