von Informationsstelle Lateinamerika (ila)
„Man geht heute mit 18 Jahren in einen Slum, das ist einfach so. Das macht sich gut im Lebenslauf. Das ist auch ganz oft der Moment beim Vorstellungsgespräch, wo der Personaler hellhörig wird und noch mal nachhakt: ‚Ach, Sie waren im Slum? In welchem waren Sie denn? Mensch, in dem Slum war ich auch!‘ Und schon hat man ’ne persönliche gemeinsame Basis!“ Kabarettist Christian Ehring hat’s erfasst. Der Gewinner des Kleinkunstpreises 2019 gibt den Vater aus der oberen Mittelschicht, der seinen lethargischen Nachwuchs dazu drängt, seinen Lebenslauf zu pimpen: „Aber kümmer‘ dich drum, Monsieur, denn es gibt da auch Fristen. Am Ende sind die guten Slums weg!“
Freiwilligendienste sind angesagt. Vielleicht liegt es in Deutschland am verkürzten Weg zum Abitur, das junge Leute ratlos mit 17 oder 18 Jahren in die Welt entlässt. Dann kommt ein Gap Year (wie es im anglophonen Raum heißt) wie gerufen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Sprachkenntnisse und Soft Skills wie interkulturelle Erfahrungen, Flexibilität und Teamfähigkeit immer wichtiger werden beim Konkurrenzkampf um interessante, nicht zu miserabel bezahlte Arbeitsplätze. Oder der Trend zum freiwilligen Einsatz liegt an der Schaffung eines attraktiven Angebots: Vor gut zehn Jahren rief die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul einen Freiwilligendienst ins Leben, der für massenhaften „entwicklungspolitischen Nachwuchs“ sorgen sollte: weltwärts. Seit 2008 haben darüber rund 34 000 junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren einen sechs- bis elfmonatigen Aufenthalt in Afrika, Asien oder Lateinamerika in einem entwicklungspolitischen Projekt verbracht. Etwa 170 hiesige Entsendeorganisationen sind mit im Boot. Oder vielleicht liegt es daran, dass in den letzten Jahren parallel zum weltwärts-Boom immer mehr kommerzielle Anbieter „voluntouristische“ Kurzzeitaufenthalte als einträgliches Geschäftsmodell entdeckt haben.
Teil der Politik, geleitet von Interessen
Die Motivationen für einen Freiwilligeneinsatz klingen zunächst ehrenhaft: Gutes tun, Helfen, die Welt zu einem besseren Ort machen, etwas gegen Armut und Ungerechtigkeit unternehmen, für Entwicklung sorgen. Aber spätestens hier zeigt sich das Glatteis, auf das man sich begibt: Denn welche Entwicklung gut oder gewollt ist, wird seit Jahrzehnten diskutiert, Entwicklung an sich in Zeiten von Klimakrise und Degrowth-Debatten immer kritischer gesehen. Ein Freiwilligendienst wie weltwärts, finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), ist Teil der Entwicklungspolitik. Und die ist seit jeher geleitet von außen- und wirtschaftspolitischen Interessen.
Der Befreiungstheologe Ivan Illich, Gründer des Interkulturellen Dokumentationszentrums CIDOC in Cuernavaca, hielt 1968 vor einer Gruppe von US-Freiwilligen eine gepfefferte Rede: „Ein irisches Sprichwort besagt, dass der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert ist. (…) Das einzige, was ihr in einem mexikanischen Dorf erreicht, ist Unordnung anzurichten. Bestenfalls könntet ihr vielleicht ein mexikanisches Mädchen davon überzeugen, einen jungen, reichen Selfmade-Mann und Konsumenten zu heiraten, der so respektlos wie einer von euch ist. (…) Wie komisch, dass noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, Geld für die Vorbereitung armer Mexikaner auszugeben, um sie auf den Kulturschock vorzubereiten, den sie erleiden, wenn sie auf euch treffen?“
Dienen Freiwilligeneinsätze wirklich nur dem eigenen guten Gefühl, dem Instagram-Profil oder der Beruhigung des schlechten Gewissens? Sind sie gänzlich (entwicklungspolitisch) zwecklos? Oder richten gar mehr Schaden als Nutzen an, etwa weil lokale Arbeitskräfte durch Freiwillige ersetzt werden oder weil Mitarbeiter*innen von Aufnahmeorganisationen wegen organisatorischer oder Care-Tätigkeiten (für Freiwillige!) von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten werden? Bekanntlich ist ein häufiger Wechsel von Bezugspersonen für Kinder schädlich, weswegen ein Einsatz zum Beispiel als Assistenzlehrkraft an Schulen, vor allem für jüngere Kinder, nicht zu empfehlen ist – abgesehen davon, dass Freiwillige mit ihren begrenzten pädagogischen Kenntnissen einen methodisch eher schlechten, konzeptlosen Unterricht anbieten, wie eine Studie von Unicef belegt.
Eigene Vorurteile und Stereotypen werden ins Wanken gebracht
Wenn bei einem Dienst wie weltwärts der Fokus auf den Aspekt des Lernens (der Freiwilligen!) gelegt wird, fällt das Urteil weniger vernichtend aus. Ein Perspektivenwechsel hat durchaus nachhaltige Wirkungen, ein interkultureller Austausch findet statt, globale und historische Zusammenhänge werden mit neuen Augen gesehen, eigene Vorurteile und stereotype Vorstellungen bestenfalls ins Wanken gebracht. Dies kann aber nur mit intensiver Vorbereitung und pädagogischer Begleitung erreicht werden. Letztlich hängt auch viel von der eigenen Haltung der Freiwilligen ab.
Wir haben in dieser Ausgabe vor allem (junge) Leute zu Wort kommen lassen, die selbst als Freiwillige im Einsatz waren oder die auf die eine oder andere Art mit Freiwilligen(diensten) zu tun haben. So sind verschiedene Perspektiven im Schwerpunkt vertreten, die weniger akademisch, dafür aber umso näher an der Praxis sind.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 424 April 219 (Link s.o.), und zwar das Editorial, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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