Albrecht Goeschel und Markus Steinmetz/telepolis setzen ihre Umschreibung der westdeutschen BRD-Geschichte von Bayern aus fort. Wie schon bei den vorherigen Teilen stimme ich nicht in allem überein, freue mich aber über die Schliessung meiner Bildungslücken über das Bundesland im äussersten Südosten unserer Republik. Nicht zu unterschätzen scheint mir vor allem das Fachwissen der Autoren über das Gesundheitswesen.
Mit vergleichbarer Hoffnung und Interesse startete ich meine Lektüre von Johannes Clessiennes “Lauert im Web eine Gefahr für die Demokratie?” – von einem ehemaligen Piraten erhoffte ich mir Expertise, die über meine hinausreicht. Nach dem Lesen bleibt mir das Rätsel, wie einer eine solche Analyse anzufertigen starten kann, ohne auch nur einen Halbsatz auf das Ökonomische und Klassenpolitische zu verwenden. Einzig diese Pointe beeindruckte mich: “Die Zunahme der Amüsements an Zahl, Verschiedenartigkeit und Wohlfeilheit stellt eine starke Ablenkung von der Politik dar. … Bedeutsam ist, daß der Zugang zu den Vergnügungsmitteln unvergleichlich leichter und billiger als je in der Vergangenheit gemacht worden ist.” Dieses Zitat stammt von John Dewey und ist von 1927.
Was ist seitdem geblieben? Der Kapitalismus. Die analogen Massenmedien waren im Besitz grosser Kapitalbesitzer, wie es die digitalen asozialen Medien heute sind, im Besitz noch grösserer und kontinentübergreifender Kapitalbesitzer. Clessienne bleibt bei zwar richtig beschriebener aber intellektuell und analytisch doch recht ärmlicher Phänomenerzählerei. Auch eine kulturelle Betrachtung fehlt ihm fast komplett; bei jedem neu entstandenen Medium brauchte die Mehrheit der Menschen nicht wenige Jahre, mitunter die einer oder andere Generation, um es alltagskulturell adäquat beherrschen zu können.
Kein Medium stürzt Herrschaftsverhältnisse um, oder sorgt durch technische Zwangsläufigkeit für einen Demokratisierungsschub. Es schafft nur Potenziale für alles Mögliche. Wie das ausgeht, entscheidet sich dann durch das, was heute gerne verächtlich Politik genannt wird. Den politischen Willen müssen Menschen bilden und entwickeln – kein Algorithmus wird das ersparen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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