Florian Rötzer/telepolis berichtete gestern von neuen Veröffentlichungen und durchs Dorf getriebenen Säuen in Sachen “Orthorexia nervosa”. Das ist Lateinisch für “einen pathologischen Zwang zum gesunden Essen … dem ein Hang zur rigiden Selbstdisziplinierung zugrunde liege” – also zu Deutsch: womit sich viele Gutwillige in selbstgemachten Wahnsinn treiben. Rötzer ist klug genug, sich der Mode alle Verhaltensauffälligkeit zu pathologiseren (zu neuen Krankheiten zu erklären) nicht anzuschliessen. Sehr gut sieht er aber, das ist seinem publizistischen Lebenswerk unschwer zu entnehmen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Naja, er ist ein wenig älter als ich.
Wie anders – und intellektuell deprimierend – im Kleinkinderlaufstall von Spiegel-online “bento”-. Dort kommt eine Instagram- und Youtube-Bloggerin namens Cassey Ho zu Wort, die das Thema als Marktlücke zielsicher erkannt hat, also selbst davon profitiert. Sie, und mit ihr Sp-on als Transporteur, gibt sich scheinbar emanzipatorisch, indem sie einerseits meinen “wie lächerlich es für eine Frau ist, ihren Körper an die gesellschaftlichen Schönheitsideale anzupassen” – solche Frauen sind also doof – um dann zu neoliberalster individualistisch-ideologischer Prosa überzugehen: “Fokussiere Dich nicht auf deinen Körper. Fokussiere dich auf das, was darin steckt. Deine Fähigkeiten, deine Talente, deine Stärken, dein Herz, deinen Verstand.”
Beim Selbstbild nur einmal falsch abgebogen?
Wer also unglücklich ist, hat sein Glück nur nicht gut genug geschmiedet, und ist im Nachdenken über sich selbst nur einmal falsch abgebogen. Eine Weltsicht, die irgendwie an den bescheuerten Scheuer erinnert. Ich habe mal aufgeschnappt, Marx und Adorno seien bei jungen Leuten wieder schwer in Mode. Bei Spiegel-online, der sog. “Bild-Zeitung des Netzes”, offensichtlich nicht.
Mein Rezept aus der Luxuslebenslage eines 62-jährigen: Stress reduzieren, wenns möglich ist, nicht mehr arbeiten gehen. Arbeiten nur noch, wenn frau*mann Lust dazu hat. Und das mit Essen, Trinken und sich-bewegen ganz genau so machen. Als Konsument bevorzuge ich Händler, insbesondere auch bei Lebensmitteln, die ich persönlich kenne; mit einigen habe ich Freundschaft geschlossen. Das klappt gut, wenn ich als Kunde nett und höflich bin. Ladenbesitzer*innen und ihr Personal schliessen eine*n, weil das so selten ist, gleich ins Herz. Und ich meinerseits werde im Handumdrehen treuer Stammkunde bei allen, die ich fussläufig in Beuel erreichen kann. Ich nenne das Altersvorsorge.
Die Disruption der Lebensmittelökonomie ist schon unterwegs
Fremd ist mir eine andere Welt, die aber trotzdem in Kürze von NYC über London und anderen Metropolen in unser zurückgebliebenes Altindustrieland hereinschwappen wird. In Teilen ist sie schon da. Und nicht alles daran ist schlecht. Wie die Autoindustrie werden auch die industrielle Landwirtschaft und der industrielle Einzelhandel in sich zusammenfallen, wie es die Warenhäuser getan haben. Milchmänner, Schuhmacher und Metzger an der Ecke, die ich als Kind noch erlebt habe, sind schon weg. Der Lebensmitteleinzelhandel und die Gastronomie sind von ähnlichen Disruptionen bedroht (Achtung: das war Präsens, nicht Futur!). Jörn Kabisch, den Jakob Augstein, als er ihn aufkaufte, damals zum Freitag mitgebracht hatte, war in Brooklyn, und hat dort für die taz die neuen Geschäftsmodelle rund um Lebensmittel studiert.
Wirtschaftsförderungs- und Umweltämter deutscher Städte sollten das lieber heute als morgen lesen – und noch schneller denken, als sie es gewohnt sind. Denn die leeren Schaufenster und rumstehenden Gewerbeimmobilien aller Art sind schon lange da – nicht nur im Osten oder im Ruhrgebiet. Verlassen Sie einfach mal Ihr Auto und gehen Sie zu Fuss durch ihre Stadt!
Geht doch!
Bescheidene Ansätze gibt es schon in unserer Umgebung: vom Netzwerk “Bonn im Wandel”, das von der lokalen Politik und vom Einzelhandel mehr als nervend, denn als innovativ angesehen wird, bis zur Regionalwert AG Rheinland, die übrigens mit dem Kölner Sven Johannsen ein erfolgreicher IT-Unternehmer mitgegründet hat. Schockierend ist eher, wieviele in den lokalen und regionalen, politischen und ökonomischen Herrschaftsschichten die Zeichen an der Wand und die globalen Glockenschläge nicht hören wollen.
Update 18.8.: Urban Gardening gibt es weltweit, sogar in Bonn. Heute mittag gabs eine schöne DLF-Reportage – aus dem hier schon erwähnten Brooklyn.
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