Edit Policy: Die EU-Kommission nötigt Südafrika, eine bereits verabschiedete Urheberrechtsreform zu verhindern. Das ist neokoloniale Einflussnahme
In einer Zeit, in der internationale Solidarität mehr denn je gefragt ist, versucht die EU-Kommission eine wichtige südafrikanische Urheberrechtsreform zu blockieren, die bereits vor Monaten demokratisch beschlossen wurde. Im Auftrag der Unterhaltungsindustrie verhindert die EU gemeinsam mit der US-Regierung, dass Südafrika jetzt in der Corona-Krise Bildungsangebote unkompliziert online verfügbar machen und Menschen mit Behinderungen mit barrierefreien Büchern versorgen kann. Es ist nicht das erste Mal, dass westliche Industrieländer wichtige Maßnahmen Südafrikas zur Bekämpfung einer Pandemie sabotieren, um Wirtschaftsinteressen von Rechteinhabern durchzusetzen.
Südafrikanische Urheberrechtsreform vorerst auf Eis
Bereits vor über einem Jahr, im März 2019, hat das südafrikanische Parlament nach einer breiten öffentlichen Debatte eine progressive Urheberrechtsreform verabschiedet. Das Ziel: angesichts der massiven wirtschaftlichen Ungleichheit im Land den Zugang zu Bildung für alle erschwinglich zu machen und dafür zu sorgen, dass die Erlöse kulturellen Schaffens nicht ausschließlich in den Taschen multinationaler Medienhäuser landen, sondern den oft am Existenzminimum lebenden südafrikanischen Kreativen zugute kommen. Kernpunkte der Reform sind die Stärkung von Urheber*innen in ihren Vertragsbeziehungen mit Verlagen, die Legalisierung von Kopien überteuerter Lehrbücher und die Einführung eines Fair Use-Systems nach US-amerikanischem Vorbild, welches das Erstellen von Remixes, Mashups und neuen Bildungsmaterialien erlaubt.
Das einzige, was dem Inkrafttreten des Gesetzes noch im Wege steht, ist die Unterschrift des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Dieser soll das Gesetz eigentlich nur auf seine Vereinbarkeit mit der südafrikanischen Verfassung prüfen, die den südafrikanischen Staat ausdrücklich dazu verpflichtet, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Die Unterschrift sollte also eigentlich eine Formalität sein, doch der US-Handelsbeauftragte und nun auch die EU-Kommission üben wirtschaftlichen Druck aus, um diese Unterschrift zu verhindern – bislang mit Erfolg.
Bereits im vergangenen Herbst hatte Hollywood den US-Handelsbeauftragten dazu gebracht, eine Untersuchung des südafrikanischen Gesetzesvorhabens zu starten, die dazu führen könnte, dass Südafrika bei der Einfuhr von Waren in die USA zukünftig höhere Zölle zahlen muss. In einer Anhörung beim US-Handelsbeauftragten im Januar, an der ich als Sachverständige teilgenommen habe, äußerten zahlreiche amerikanische Urheberrechtsexpert*innen ihr Unverständnis dafür, dass die US-Regierung gegen die Einführung eines Fair Use-Systems in einem anderen Land vorgeht, obwohl Fair Use in den USA eine lange Tradition hat, zum offensichtlichen Vorteil der amerikanischen Kreativ- und Technologiewirtschaft. Selbst südafrikanische Rechteinhaber, die der Reform kritisch gegenüberstehen, haben sich gegen die Intervention der USA ausgesprochen, da diese „unangemessenen diplomatischen und politischen Druck auf unseren Präsidenten ausübt“.
EU-Kommission droht Südafrika mit wirtschaftlichen Schäden
Nun hat auch die EU im demokratischen Prozess Südafrikas interveniert. In einem kürzlich veröffentlichten Brief der EU-Botschafterin in Südafrika an Präsident Ramaphosa fordert diese ihn im Namen der EU-Kommission auf, die Urheberrechtsreform zu überdenken. „Insbesondere besorgt uns die Einführung von Regelungen zu Fair Use in Verbindung mit einer langen Liste von unvergüteten Urheberrechtsausnahmen“ heißt es in dem Schreiben. Die EU stört sich also an genau den Aspekten der Reform, die für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit angesichts der Schließungen von Schulen, Bibliotheken und Universitäten wegen COVID-19 absolut notwendig sind. Europa täte gut daran, Südafrika bei diesen Maßnahmen nach Kräften zu unterstützen, denn bereits jetzt verfügt Südafrika über die höchste Zahl an Erkrankungen mit COVID-19 auf dem afrikanischen Kontinent. Stattdessen legt die EU mit ihrer Intervention gegen die Urheberrechtsnovelle Südafrika Steine in den Weg.
Über die Gründe für Europas Agitation gegen die Reform lässt der Brief der EU-Botschafterin keine Zweifel offen. Man schreibe, weil „europäische Rechteinhaber sich wiederholt mit Sorge an uns gewandt haben“, gefolgt von einer recht unverhohlenen Drohung wirtschaftlicher Konsequenzen: „Alle Branchen der europäischen Kreativwirtschaft, Film-, Musik- und Verlagsindustrie, haben uns angekündigt, dass sie ihre Investitionspläne in Südafrika aufgrund dieser Sorgen überdenken werden. Andere Branchen, die auf High Tech angewiesen sind, könnten ebenfalls unter der drohenden Rechtsunsicherheit leiden.“
Fair Use als Motor einer modernen Digitalwirtschaft
Wenig überzeugend ist auch die Behauptung, Fair Use schade der Digitalwirtschaft. Das amerikanische Fair Use-System gilt als Teil des Erfolgsrezepts der USA im Technologiebereich. Anders als die europäischen, eng definierten Urheberrechtsausnahmen ist es mit Fair Use möglich, auf aktuelle technologische Entwicklungen pragmatisch zu reagieren.
Zum Vergleich: Europäischen Bibliotheken ist es aktuell nicht möglich, Kindern im Lockdown per Livestream vorzulesen, ohne damit ein urheberrechtliches Risiko einzugehen. Die EU-Urheberrechtsrichtlinie von 2001 sieht nämlich vor, dass Bibliotheken digitale Angebote ausschließlich „auf eigens hierfür eingerichteten Terminals in den Räumlichkeiten der genannten Einrichtungen“ verfügbar machen dürfen. Weder an die rasante Verbreitung von mobilen Endgeräten, noch an die Möglichkeit, dass Bibliotheken einmal wegen einer Pandemie vollständig schließen müssen, hat der Gesetzgeber damals gedacht.
Mit einem flexiblen Fair Use-System können Gerichte viel leichter auf technologische und gesellschaftliche Veränderungen reagieren und so sicherstellen, dass das Urheberrecht mit dem öffentlichen Interesse jederzeit in einen sinnvollen Ausgleich gebracht wird. Leider ist es nicht gelungen, diesen Missstand mit der EU-Urheberrechtsreform des letzten Jahres zu beenden. Anstatt in einer Flexibilisierung des Urheberrechts Chancen für die europäische Digitalwirtschaft zu entdecken, die es ihr erleichtern würde, mit amerikanischen Unternehmen zu konkurrieren, wurde die Einführung von Fair Use in Europa in einem antiamerikanischen Reflex abgelehnt. Das Hauptargument gegen Fair Use war dabei, dass dieses Rechtsunsicherheit schaffe, wie es auch in dem Brief der EU-Botschafterin an den südafrikanischen Präsidenten heißt. Von Rechtssicherheit kann im europäischen Urheberrechtssystem allerdings auch nicht die Rede sein, wenn man bedenkt, dass ein einfacher Rechtsstreit über das Sampling einer zweisekündigen Musikaufnahme bereits seit über 20 Jahren deutsche und europäische Gerichte beschäftigt.
Protest aus der europäischen Zivilgesellschaft
Der Brief der EU-Kommission ist auch deshalb zu verurteilen, weil er die Stimmen einer Lobbygruppe mit den Interessen der EU gleichsetzt. Verschwiegen wird in dem Brief die große Unterstützung für die südafrikanische Urheberrechtsreform durch die europäische Zivilgesellschaft. Wikimedia Deutschland, die Communia Association und internationale Bibliotheksverbände hatten sich bereits beim US-Handelsbeauftragten für Südafrikas Reform starkgemacht. In einem Brief an die EU-Botschafterin bekräftigen sie ihre Unterstützung für Fair Use und kritisieren, dass die EU sich zum verlängerten Arm der Unterhaltungsindustrie macht.
„Wir sind verwundert und verstört, dass die EU einen souveränen Staat dazu auffordert, die Verabschiedung dieser dringenden und längst überfälligen Reform aufzuhalten, […] es ist uns unbegreiflich, auf welcher Rechtsgrundlage dies geschehen soll, da der Präsident gemäß der südafrikanischen Verfassung ausschließlich prüfen soll, ob das Gesetz verfassungsgemäß ist“, heißt es in dem Brief der Zivilgesellschaft. Informationsfreiheitsanfragen über die Entstehungsgeschichte des Briefes blieben bislang unbeantwortet.
Lehren aus der AIDS-Pandemie
Am verwerflichsten ist die europäische und amerikanische Einflussnahme auf demokratische Entscheidungen Südafrikas jedoch, wenn man den historischen Kontext bedenkt, in dem diese geschieht. Nelson Mandela, der auch in Europa und den USA als Gründungsvater der modernen südafrikanischen Verfassung und Überwinder des Apartheid-Regimes gefeiert wird, war als südafrikanischer Präsident Ende der 1990er Jahre ebenfalls das Ziel westlicher politischer Einflussnahme. Auch damals ging es um die Wirtschaftsinteressen großer Rechteinhaber. Pharmakonzerne versuchten die Verabschiedung von Zwangslizenzen für AIDS-Medikamente in Südafrika zu verhindern, um ihre enormen Profitmargen zu schützen, die US-Regierung drohte mit Handelssanktionen. Präsident Mandela ließ sich jedoch nicht beirren und verschaffte Millionen von Südafrikaner*innen erschwinglichen Zugang zu lebensrettenden AIDS-Medikamenten.
Auch heute ist Südafrika mit einer Pandemie konfrontiert. Erneut steht der Präsident des Landes unter Druck, wirtschaftliche Interessen ausländischer Rechteinhaber vor das öffentliche Interesse des eigenen Landes zu stellen. Präsident Ramaphosas beherztes Vorgehen in Reaktion auf die ersten COVID-19-Fälle in Südafrika, insbesondere die frühzeitige Verhängung von Ausgangsbeschränkungen, hat ihm weltweit großen Respekt verschafft, in Europa gilt sein Vorgehen als Beispiel großer Führungsstärke und Weitsichtigkeit.
Umso unverständlicher ist es, dass die EU-Kommission sich an den wirtschaftlichen Machtspielen der US-Regierung beteiligt und mit der Intervention gegen die überfällige südafrikanische Urheberrechtsreform die Bedingungen für den Lockdown erschwert. Anstatt den Zugang zu Wissen und Bildung über das Internet zu sabotieren, sollte die EU alles tun, um Südafrika in seiner Strategie zur Eindämmung von COVID-19 zu unterstützen, und dem Land als wichtiger globaler Partner auf Augenhöhe begegnen.
EU muss Maßnahmen gegen COVID-19 weltweit unterstützen
Sollte das nicht geschehen, bleibt nur zu hoffen, dass Präsident Ramaphosa genau wie sein berühmter Vorgänger Nelson Mandela nicht vor den Drohgebärden der Rechteinhaber einknickt. Andernfalls wäre das ein fatales Zeichen für die anstehende Reform des südafrikanischen Patentsystems. Diese Reform wird bereits vorbereitet und wird unabdingbar sein, um eine schnelle und kostengünstige Versorgung der Bevölkerung mit einem zukünftigen Impfstoff gegen das Coronavirus, medizinischer Schutzausrüstung und Medikamenten zur Behandlung von COVID-19 zu versorgen.
Erneut könnten große Rechteinhaber alles versuchen, solche lebenswichtigen Reformen zu blockieren, wenn es nicht zu einem öffentlichen Aufschrei auch in Europa und den USA kommt. Auch hierzulande werden Rufe nach Reformen des Patentsystems lauter, EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hat kürzlich versprochen, Projekte zur Bekämpfung von COVID-19 vor Patentklagen zu schützen. Um dem Vorwurf der Doppelmoral zu entgehen, muss die EU auch anderen Ländern wie Südafrika zugestehen, Exklusivrechte im Interesse der Allgemeinheit einzuschränken.
Die Texte der Kolumne “Edit Policy” stehen unter der Lizenz CC BY 4.0., hier übernommen von heise-online.
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