Seit Beginn der Corona-Pandemie existert eine eingeschränkte Öffentlichkeit über die Lage in Flüchtlingsheimen. Während der heutigen Bundespressekonferenz fragte eine Journalistin per Email nach, wieviele Infektionen es in Flüchtlingsunterkünften gebe, ob durch Sammellager und ANKER-Zentren, in denen Flüchtlinge auf engstem Raum untergebracht sind, die Bundesregierung nicht Gefährdungen derselben durch Corona in Kauf nehme. Regierungssprecher Seibert wies die durchaus berechtigte Frage in einer patzigen Generalerklärung zurück, Corona sei ein gefährliches Virus und man tue alles, um Menschen vor Corona zu schützen. Die Frage nach Infektionszahlen ließ er unbeantwortet. Beim Versuch, Licht ins Dunkel zu bekommen, finden sich bei den Flüchtlingsräten Hinweise auf Verhältnisse, die den Unterkünften der Schlachthofarbeiter*innen nahe kommen.
Bayern erhöhte den Druck auf Flüchtlinge
Seit langem kritisiert der Bayerische Flüchtlingsrat, dass Bewohner*innen großer Sammelunterkünfte wie der bayerischen ANKER-Zentren bei Ausbrüchen von Krankheiten besonders gefährdet sind. Nach den Infektionen mit dem Coronavirus im Ankunftszentrum München von Anfang März wurden mehrfach Fälle in ANKER-Zentren in Augsburg, Bamberg und Geldersheim bei Schweinfurt bekannt. Das ANKER-Zentrum Unterfranken in Geldersheim stand im April komplett unter Quarantäne. Der Bayerische Flüchtlingsrat forderte die Staatsregierung auf, die Gesundheit der Flüchtlinge auf die gleiche Stufe wie die der deutschen Bevölkerung zu stellen. Dazu gehört auch, endlich die Belegung zu entzerren und leerstehende Zimmer zu nutzen, wo es noch nicht geschehen ist. Im neu eröffneten Behördenzentrum in Augsburg etwa müssten die Flüchtlinge einem Bewohner zufolge in einem Saal mit ca. 40 weiteren Personen in Stockbetten schlafen, die im Abstand von rund einem Meter voneinander aufgebaut sind. Die nötige Distanz zur Vermeidung von Ansteckungen ist hier nicht annähernd gewährleistet. Doch anstatt die Situation zu entzerren, erhöhte das bayerische Innenministerium den Druck sogar noch. Laut einem Rundschreiben vom 26.03.2020 sollten an Flüchtlingsunterkünfte anschließende Grünflächen gesperrt werden, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Nur die Grünflächen innerhalb der Unterkünfte sollten weiterhin nutzbar sein und für den nötigen Abstand der Sicherheitsdienste sorgen.
Ausbruch im Lager Ellwangen
Am 15.4.2020 forderte der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg angesichts der Fälle von Coronavirus-Infektionen in Unterbringungseinrichtungen für Geflüchtete ein sofortiges Ende der Massenunterbringung sowie eine transparente Informationspolitik und Schutzvorkehrungen für geflüchtete Menschen. Zuvor hatte es einen Ausbruch von Corona in der Sammelunterkunft in Ellwangen gegeben, bei der von den etwa 600 Insassen im Laufe der Zeit etwa 400 positiv getestet wurden.. „Es ist zwar begrüßenswert, dass das Land früh angefangen hat, die Belegungsdichte in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu reduzieren, aber wir sehen an der erheblichen Anzahl von Infektionen in der Landeserstaufnahme in Ellwangen, dass das hohe Infektionsrisiko weiterhin besteht, so lange Menschen in den Lagern leben müssen, wo sie zum Beispiel Badezimmer, Toiletten und Kantine mit vielen anderen teilen müssen. Außerdem nützt es dem Infektionsschutz nur wenig, wenn die Menschen nach dem Transfer aus der Erstaufnahme in großen Gemeinschaftsunterkünften landen, wo sie ebenfalls Räume und Sanitäranlagen mit vielen anderen teilen müssen, und wo teilweise Ausgangssperren für alle verhängt werden, sobald einzelne Bewohner*innen positiv getestet werden“, so Lucia Braß, Vorsitzende des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.
Zudem äußerte sich der Flüchtlingsrat besorgt über die Berichte von in Ellwangen untergebrachten Geflüchteten, wonach ihnen keine Desinfektionsmittel oder Schutzmasken zur Verfügung standen und der WLAN-Zugang abgeschaltet wurde. „Wenn die Behörden durch Quarantänemaßnahmen den Menschen die Möglichkeit nehmen, sich selbst Desinfektionsmittel und Masken zu besorgen, dann stehen sie in der Verantwortung, diese Menschen entsprechend auszustatten. Außerdem fordert der Flüchtlingsrat eine Unterbringung von Flüchtlingen in Hotels.” Hier ist die Stadt Freiburg zumindest im kleinen Rahmen mit gutem Beispiel vorangegangen, indem sie 30 Personen aus der LEA in einer Jugendherberge untergebracht hat.
Berlin legte Geflüchtete und Wohnungslose in Hotels
Während zahlreiche Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung zum Schutz vor dem Coronavirus verordnet wurden, leben zehntausende Menschen in Berlin in Geflüchteten-, Wohnungslosen- und Obdachlosenunterkünften auf engstem Raum in Mehrbettzimmern, mit Gemeinschaftsbädern und/oder Gemeinschaftsküchen: mindestens 30.000 Wohnungslose wurden von den Bezirksämtern Berlins in prekäre Unterkünfte oft ohne jede Sozialbetreuung und Qualitätsstandards eingewiesen, kritisierte der dortige Flüchtlingsrat. Weitere 20.000 lebten in Sammelunterkünften des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten LAF mit bis zu 500 Bewohnern. Im Vergleich zu manchen anderen Bundesländern günstige Verhältnisse.
Brandenburg: über 200 Personen unter Quarantäne
Mitte April berichtete der Flüchtlingsrat über Corona-Fälle in der großen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Doberlug-Kirchhain. In der Erstaufnahmeeinrichtung mit 474 Bewohner*innen wurden mehrere Personen positiv auf Corona getestet und in einem Container unter Quarantäne gestellt. Bewohner*innen berichteten, dass sich 15 weitere Menschen in Quarantäne im fünften Stock des Familiengebäudes befanden. Eine individuelle Quarantäne sei dort jedoch nicht möglich: So teilen sich negativ Getestete, die auf das Ende ihrer Quarantäne warten, mit Personen, die noch ihr Testergebnis abwarten, Bad und Küche. In Potsdam standen nach mehreren Infektionen alle 116 Bewohner*innen einer Gemeinschaftsunterkunft unter Quarantäne und auch Oberhavel meldete eine positiv getestete Person in einer Gemeinschaftsunterkunft, sowie mehr als 200 Bewohner*innen in Quarantäne. Flüchtlingsbetreuer*innen sehen keinen wirksamen Infektionsschutz in der Massenunterbringung, zumal zahlreiche Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke und andere Risikogruppen in den Massenunterkünften lebten.Eine dezentrale Unterbringung, wie vom Flüchtlingsrat gefordert, erfolgte nicht.
Niedersachsen: Einzelzimmer nur für Erntearbeiter
Das Land Niedersachsen betreibt zwei große Sammelunterkünfte in Bramsche und Bad Fallingsbostel mit jeweils 700 bzw. 900 Insassen, in denen Kontaktsperre mit der Außenwelt herrschte. Der dortige Landesflüchtlingsrat hat sich laut Vorsitzendem Kai Weber von Anfang der Krise an um Dezentralisierung bemüht und wochenlang vom Land keine Antwort erhalten. Die Lagerverwaltungen seien, so Weber, zwar sehr bemüht, es gebe eine dezentrale Ausgabe von Mittagessen, aber nach wie vor Unterkunft in 6-Bettzimmern. Die vom Land erlassene Vorschrift von maximal einer Person pro Zimmer gelte nur für Erntearbeiter. In den Kommunen gebe es Einrichtungen mit 100-150 Insassen, für die keine Sozialarbeiter*innen zur Verfügung stünden.
Nordrhein-Westfalen beziffert Risikogruppe
In Nordrhein-Westfalen sind die Flüchtlinge in ca. 29 Landeseinrichtungen und fünf Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Auch hier gibt es Großunterkünfte wie Neuss, wo von 1.000 Plätzen Ende April 753 Plätze belegt waren, in Hamm 700 mit 555 Insassen, und weitere mit 550 Plätzen, von denen 927 belegt waren – auch hier fehlt es an der Möglichkeit zur Unterbringung in Räumlichkeiten, in denen Abstände einzuhalten sind, oder individuellen Wasch- und Hygienemöglichkeiten. Erschwerend kommt hinzu, bemängeln die Grünen im Landtag, dass viele Kommunen einen Aufnahmestopp verhängt haben, sodass sich dezentrale Unterbringung nicht realisieren lässt. Davon besonders betroffen sind Kinder und jugendliche Geflohene, die weit über vierhundert von siebenhuntert nicht Verteilten stellen. Zu Corona-Ausbrüchen mit entsprechender Quarantäne kam es in Bielefeld, Euskirchen und an anderen Standorten. In Euskirchen waren 298 Flüchtlinge untergebracht, 45 waren nach Tests infiziert, 20 Personen mit Corona-Verdacht in einer Jugendherberge untergebracht.
Aufgrund der Pandemie wurden in NRW bereits geschlossene Unterkünfte wie etwa die Zentrale Unterbringungseinrichtung in Bad Salzuflen wieder eröffnet, wo 47 Angehörige der Risikogruppe zugewiesen wurden. In einem auf Initiative der Grünen erfolgten Bericht des Arbeitsministeriums, der am kommenden Mittwoch im Ausschuss erörtert wird, gehören in NRW 842 Flüchtlinge zur Risikogruppe zusammen mit 792 Angehörigen, die des besonderen Schutzes bedürften.
Hungerstreik in Halberstadt
Auch in Sachsen-Anhalt,, dem Bundesland, dessen Ministerpräsident bei den Lockerungen unerwartet vorgeprescht ist, stand Mitte April die zentrale Unterbringungseinrichtung des Landes in Halberstadt Wochen unter Quarantäne. Zäune wurden zwischen den Wohnblöcken aufgestellt und die 839 Bewohner*innen konnten die Unterkunft nicht verlassen. Mindestens 44 positive Tests wurden nachgewiesen. Ein Teil der Asylbewerber hatte sogar einen Hungerstreik ausgerufen, um auf die prekäre Versorgungssituation aufmerksam zu machen.Daraufhin gab es Zusagen, dass die Versorgung mit Hygieneartikeln schnell verbessert werden soll. Doch die Kritik an mangelnder Versorgung kam auch von politischer Seite, wie etwa in einem offenen Brief der Linken-Abgeordneten aus Land- und Bundestag, darunter Henriette Quade, Petra Sitte und Matthias Höhn.
Hotspots in zahlreichen Bundesländern
Die Corona-Krise hat zweifellos dafür gesorgt, dass die Lage der Flüchtlinge in der Öffentlichkeit zu kurz kommt. Neben den untragbaren Zuständen, die immer noch an den EU-Außengrenzen und insbesondere in den Flüchtlingslagern auf Lesbos wie Moria und anderen herrschen, zeigt die Lage in vielen Bundesländern, dass sich Sammelunterkünfte, wie sie Bayern und Bundesinnenminister Seehofer gefordert und teilweise durchgesetzt haben, sich nun in der Pandemie als potenzielle Corona-Hotspots entpuppen. So sind von den in der RKI-Statistik aufgeführten 407 Infizierten des Kreises Euskirchen immerhin 45 Personen oder 11% Flüchtlinge. PRO ASYL Geschäftsführer Günter Burkhardt warf heute auf einer Pressekonferenz gemeinsam mit den Landesflüchtlingsräten den Regierungen vor „alle Warnungen in den Wind geschlagen zu haben, als noch ausreichend Zeit war, Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Coronapandemie zu ergreifen.“ PRO ASYL hatte bereits am 19. März ein umfassendes Konzept vorgelegt. Die Bundesregierung und die Länderregierungen haben überwiegend die Augen und Ohren geschlossen und mit Alibihandlungen reagiert.
Europäische Lager eine Schande
Dies gilt auch für Massenlager an den europäischen Außengrenzen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten ignorierten lange vor Ausbruch der Pandemie unzählige Appelle zivilgesellschaftlicher Organisationen nach humanitärem Schutz und Aufnahme, doch die Corona-Krise verdeutlicht die Dringlichkeit der Evakuierung auf katastrophale Weise. Das Lager Moria auf Lesbos ist ein einziger Albtraum: zwischen 200 und 500 Menschen müssen sich laut PRO ASYL dort in unterschiedlichen Lagern eine Dusche und eine Toilette teilen. Bei Essensausgaben müssen Geflüchtete stundenlang in langen Warteschlangen stehen, die keine Sicherheitsabstände erlauben. Die Situation hat sich seit Februar kaum verbessert.
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