Alle paar Stunden jagte eine Meldung über kriminelle Machenschaften der Wirecard-Manager die andere. Eins komma neun Milliarden fehlen in der Bilanz, waren offensichtlich Luftbuchungen. Die Aktie stürzte im freien Fall und das Interims-Management meldete gestern Insolvenz an. Dabei hat das Unternehmen vor gar nicht langer Zeit die Commerzbank aus dem Deutschen Aktienindex verdrängt und galt als Liebling der Spekulanten. Aber von Anfang an schien kritischen Börsenbeobachter*innen der kometenhafte Aufstieg des Münchner Start-Ups von 1999 nicht ganz geheuer.
Das drahtlose Übertragen von Geld und Währungen war angeblich das Kerngeschäft der Münchner – interessant, denn der Markenname heißt korrekt übersetzt eigentlich “Drahtkarte”. Gibt man “Wirecard” in den derzeit besten elektronischen Übersetzer im Internet “Deepl” ein, erhält man “Drahtloskarte” – also genau das Gegenteil der Realität. Wahrscheinlich bildet die angeblich mit künstlicher Intelligenz getriebene Übersetzungssoftware genau das ab, was die Mehrzahl der Wünschenden, Glaubenden und Spekulierenden dem Unternehmen zurechnete: dass es solide wäre. War es aber offensichtlich nicht. Eher ein Fake-DAX-Unternehmen. Soviel zur Zuverlässigkeit künstlicher Intelligenz.
Wen soll das verwundern, denn immer wieder vor oder in der Tagesschau – zuletzt vor und nach dem Aufstieg von Wirecard in die erste Liga des Anteilsschein-Spielkasinos Deutsche Börse AG – äußerten Börsenjournalist*innen Zweifel an der Solidität des Newcomers. Wirecard verdrängte im September 2018 die Commerzbank aus dem DAX. Ein Winzling mit deutscher Banklizenz im Kreditkartengeschäft mit einem damaligen Jahresumsatz von 2,02 Millarden Euro und damals 3.500 Beschäftigten verdrängte eine Bank mit rund 50.000 Mitarbeitern und einer Bilanzsumme von 463 Mrd. Euro?
Was einigermaßen vernünftig denkende Menschen ins Grübeln bringt, scheint für die Spielsüchtigen der Finanzplätze offensichtlich völlig normal. Aber sie bewerten ja auch Geschäftsmodelle wie Facebook und Uber, von denen das eine auf der illegalen Aneignung und Ausspähung von Personendaten, das andere auf dem systematischen Bruch von Gesetzen zur Personenbeförderung beruhen, höher als Unternehmen, hinter denen echte Produktivität, Anlagen, Mitarbeiter und Grundstücke stehen, wie die Automobilindustrie, Chemie- oder Energiebranche. Aber dass die staatlichen Aufsichtsbehörden ebenso blind agieren, muss zu denken geben. Angeblich hat es schon 2017 Hinweise an die BaFIN, die Aufsichtsbehörde für das Banken und Kreditwesen gegeben. Warum wurde ihnen nicht nachgegangen?
Drückte man alle Augen zu, weil Wirecard endlich das zu realisieren schien, wovon die neoliberalen Auguren ständig fabulieren, ein deutsches “Silicon Valley”, deutsche “künstliche Intelligenz”, der nur die engstirnigen Regulierungen wie Finanzaufsicht, Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Datenschutz entgegenstünden? Die Aufsicht hat anscheinend versagt. Nun ermittelt die EU-Kommission. Es wird Zeit, genauer hinzusehen – Augen auf – nicht nur beim Aktienkauf!
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