von Andreas Boueke
Europas Strategie passt nicht für Lateinamerika
Die Zahl der Krankenhausbetten pro Kopf ist in Deutschland 16mal so hoch wie in Guatemala, dem Land mit den wenigsten Krankenhäusern auf dem amerikanischen Kontinent. In vielen Regionen Lateinamerikas gibt es kein einziges Beatmungsgerät. Wenn die Fallzahlen dort deutlich steigen, bekommen die meisten schwer kranken COVID-19 Patient*innen so oder so keine ausreichende medizinische Betreuung. Gleichzeitig führt der Lockdown dazu, dass Menschen verhungern.
César Puac arbeitet als Sozialarbeiter in La Comunidad, einem Stadtteil im Westen der guatemaltekischen Hauptstadt. Dort leben über siebzigtausend Menschen, die meisten in Armut, viele in extremer Armut. Covid-19 hat alles noch schlimmer gemacht: „Viele Menschen sind verzweifelt. Besonders Eltern von kleinen Kindern machen sich Sorgen, nicht so sehr um das Virus, sondern um die Ernährung. Sie wissen nicht mehr, was sie den Kleinen zu essen geben sollen. Der seelische Druck kann zu einer schweren Depression führen, aus der sie nicht mehr heraus kommen.“
Der vierzigjährige Auvilio Gonzales hätte den Kampf gegen die Depression fast verloren. „Hier kann man den Bluterguss sehen, wo ich mir das Seil um den Hals geschlungen habe.“ Mit dem Zeigefinger zieht er die bläuliche Linie auf seiner Haut nach. „Dort drüben habe ich mich aufgehängt. Warum? Weil ich nicht wusste, wie es weiter gehen soll. Als mein Sohn ‘reinkam, hatte sich die Schlinge schon zugezogen. Ich war bewusstlos, als er das Seil durchschnitt. Dann schlug er so lange auf meine Brust, bis die Feuerwehrleute kamen. Sie waren in der Hütte, aber ich konnte nichts sagen. Ich habe mich so mies gefühlt.“
Die Holzhütte der Familie Gonzales steht direkt neben dem steilen Abhang im Norden von La Comunidad. Keine zehn Meter Luftlinie entfernt, aber mindestens dreißig Meter tiefer, fließt ein verschmutzter Bach. Der Geruch nach Kloake dringt bis nach oben durch die vielen Ritzen zwischen den vermoderten Brettern der Hüttenwände. „Gestern wollte ein Freund auf der Straße von mir wissen, wieso ich das getan habe. ‘Vergiss diese Gedanken’, sagte er. ‘Denk lieber an deine Frau und deine Kinder. Wenn du dich umbringst, hast du vielleicht Ruhe, aber was bleibt zurück? Deine Frau muss sich um die Beerdigung kümmern und alles bezahlen.’ Er hat ja recht.“
Don Auvilios Frau, doña María Luisa, ist wütend auf ihren Mann. Sie kann nicht verstehen, warum er sie gerade jetzt mit den Kindern allein zurücklassen wollte: „In dieser Krise musst du doch alles für deine Kinder tun. Sie dürfen keinen Hunger leiden. Dafür sind sie noch viel zu klein. Irgendwo kann man immer etwas zu essen auftreiben. Obwohl, manchmal haben wir auch gar nichts. Dann fühlt man sich krank, zu kraftlos, um weiter zu kämpfen.“
Tödlicher als das Virus
Viele Epidemiologen erwarten, dass sich die Epizentren der Pandemie vom Norden des Globus in den Süden verschieben werden. Anfangs haben die meisten Regierungen in Lateinamerika kopiert, was die reichen Länder in Europa vorgemacht haben. Doch eine Strategie, die in Deutschland funktioniert, lässt sich nicht einfach auf ein Land wie Guatemala übertragen, wo fast die Hälfte der Kinder chronisch unterernährt ist. Die Aussicht einer Hungersnot wirft einen Schatten auf das Argument, die Infektionskurve müsse durch einen Lockdown abgeflacht werden. Gut möglich, dass die wirtschaftlichen Konsequenzen der Krise in Lateinamerika weitaus tödlicher sein werden als das Virus selbst. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnt gar vor „Hungersnöten biblischen Ausmaßes“.
Noch hat die Krankenschwester Ludvi Santos keine Person betreut, die mit dem neuen Coronavirus infiziert war. Trotzdem ist die Zahl der Hilfesuchenden in den Gängen des Gesundheitspostens von La Comunidad auf Grund der Pandemie deutlich gestiegen. „Zu uns kommen zur Zeit besonders viele Familien, die keine Nahrung mehr haben. Manche essen schon lange nur noch Maistortillas mit Salz. Tatsächlich hat es solche Fälle schon immer gegeben, aber jetzt ist es besonders schlimm. Wir sagen den Leuten: ‘Schützt euch vor dem Virus und bleibt zu Hause.’ Aber wir wissen ja gar nicht, in welchen Bedingungen sie dort leben.“
Leere Mägen sind besonders anfällig für schwere Verläufe von Parasitenbefall. „Das ist eine der häufigsten Ursachen für Kindersterblichkeit“, erklärt die Krankenschwester. „Die Hygiene in den Hütten ist sehr schlecht. Manche Familien wohnen direkt neben Abwässern. So entstehen auch Krankheiten wie Hepatitis A oder in der Regenzeit Lungenentzündungen bei Kindern unter fünf Jahren.“
“Da können wir nicht viel machen.”
Mediziner*innen fürchten, dass ein massiver Ausbruch von Covid-19 in Lateinamerika sehr viel tödlichere Folgen haben könnte als in Europa oder den USA. Die Krankenhäuser sind nicht vorbereitet, weil die öffentlichen Investitionen im Bereich Gesundheit schon immer viel zu gering waren. 2017 gaben die Staaten Lateinamerikas nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation pro Kopf 1076 Dollar aus, weniger als ein Fünftel der Investitionen in Deutschland. In Guatemala lag diese Summe bei nur 240 Dollar. „Wir sind nicht gut ausgerüstet“, klagt Ludvi Santos. „Vor allem bekommen wir zu wenig Medikamente, obwohl wir ständig Kleinkinder sehen, die unterernährt sind. Da können wir nicht viel machen. Wir sind darauf angewiesen, dass die Eltern zu Hause genug zu essen haben. Aber das hatten viele schon vor der Krise nicht. Jetzt wird das Problem noch größer, weil so viele Erwachsene ihre Arbeit verloren haben und die engen Hütten nur noch selten verlassen.“
Die Welternährungsorganisation FAO prognostiziert, im schlimmsten Fall könnten jeden Tag weltweit 300.000 Menschen verhungern. Insgesamt womöglich 30 Millionen. Läuft in Ländern wie Guatemala alles so weiter wie bisher, wird Covid-19 dort nicht als dramatische medizinische Epidemie in die Geschichte eingehen, sondern als Auslöser der tödlichsten Hungersnot aller Zeiten. „Wahrscheinlich wird es bald deutlich mehr Hungertote geben“, prognostiziert die Krankenschwester. „Ich persönlich mache mir mehr Sorgen um die Nahrungssicherheit der Kinder als um das Virus. Wenn Eltern kein Einkommen haben, um etwas zu essen kaufen zu können, dann sterben Kinder an Hunger.“
Keine zweihundert Meter von der Gesundheitsstation entfernt steht die Kirche des Heiligen Petrus Nolasco. Vor der Eingangstür hat Pater Abel Villegas einen Schreibtisch aus Blech auf den staubigen Boden gestellt. Er registriert die Namen hilfsbedürftiger Menschen, die in der Hoffnung auf Unterstützung zu ihm kommen. La Comunidad gilt als gefährliche Gegend. Je mehr Menschen Hunger leiden, desto größer ist die Gefahr. Auch für diejenigen, die helfen wollen. „Es gibt hier Leute, die jemanden töten, um essen zu können“, sagt der Priester. „Viele von uns haben Angst, in die engen Gassen zu gehen. Plötzlich wirst du überfallen, und dein Leben ist in Gefahr.“
María Luisa Gonzales hat sich an die Bedrohung durch die Gewalt gewöhnt. Sie bleibt gelassen: „Natürlich stehlen die jungen Leute, um etwas essen zu können, oder sie töten sogar. Das wird zunehmen. Hier in der Nachbarschaft hat es schon Tote gegeben. Wir sind nicht hingegangen, um nachzusehen, was genau passiert ist. Manchmal kriegst du selbst ‘was ab, weil du zu neugierig warst.“
“Danach wollte ich keine Pommes mehr verkaufen.”
Bei einem Spaziergang durch die Siedlung erinnert sich Auvilio Gonzales an traumatische Erlebnisse. „An dieser Stelle haben wir früher gewohnt. Ich hatte einen kleinen Wagen, mit dem ich Pommes Frites verkauft habe. Was ist passiert? Ich wurde erpresst. Das ist hier so üblich. Aber ich konnte mir die Schutzsteuer nicht leisten. Dort drüben haben sie einen Nachbarn ermordet und wenig später einen zweiten. Ich habe gesehen, wie sie ihm die Waffe an die Schläfe hielten. Danach wollte ich keine Pommes mehr verkaufen. So geht es den meisten kleinen Geschäften hier.“
In den vergangenen zwei Jahrzehnten konnten fast alle Länder Lateinamerikas bemerkenswerte Entwicklungserfolge erzielen. In Guatemala aber ist die Kindersterblichkeitsrate gestiegen, und die Armut hat zugenommen. Wieso? Eines der gravierendsten Entwicklungshemmnisse ist die alltägliche Gewalt. Guatemala-Stadt hatte lange eine der weltweit höchsten Mordraten. Zwar dokumentieren die Statistiken seit einigen Jahren eine positive Trendwende, aber der Sozialarbeiter César Puac weiß, dass es weiterhin viele Gewaltopfer gibt, vor allem unter den Jugendlichen: „Sie lassen sich auf Drogengeschäfte ein und machen bei Erpressungen mit. Über kurz oder lang beteiligen sich manche auch an Auftragsmorden. Darin sehen diese Jungs eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, so als ob Mord eine normale Arbeit wäre. Aber sie riskieren ihr Leben.“
„Nicht diese neue Krankheit wird uns umbringen, sondern der Hunger. Es gibt überhaupt keine Arbeit mehr.“ Maria Luisa Gonzales, Eisverkäuferin in Guatemala
Zwei Tage später. In einem Saal neben dem Gebäude der Kirche des Heiligen Petrus Nolasco stapeln sich Säcke und Kisten voller Lebensmittel. Pater Abel Villegas bringt Ordnung in das Chaos: „Mit diesen Spenden können wir etwa vierhundert Familien helfen. Sie bekommen Grundnahrungsmittel und Sachen wie Seife, Chlor und Toilettenpapier. Das ist unsere Antwort auf diese Krise, um den Menschen zu helfen, die am Rand der Gesellschaft leben.“
Die Nachricht, dass die katholische Kirche Nahrungsmittel ausgibt, hat sich schnell herumgesprochen. Hunderte ungeduldiger Menschen sind gekommen, unter ihnen ein älterer Mann mit eingefallenen Wangen und tiefen Augenhöhlen. „Wenn du hörst, dass es irgendwo Hilfe gibt, dann gehst du hin. Wir alle werden immer ärmer, weil wir nichts verdienen können. Seit Beginn der Krise sagen die Arbeitgeber, ihnen gehe es genauso schlecht wie uns. Zur Zeit ist es besonders schwierig zu überleben.“
Das globale Transportwesen steht still, Flughäfen sind gesperrt, Nahrungsmittelexporte wurden gestoppt. In Guatemala fahren keine Überlandbusse mehr. Kleinbauern können ihre Felder nicht erreichen, Händler keine Produkte auf die Märkte bringen. Zur Bekämpfung der Krise hat der guatemaltekische Kongress mehrere Wirtschaftspakete aufgelegt. Die größten Summen sollen in Straßenbau und die Aufstockung der Lehrergehälter fließen. Von diesen staatlichen Investitionen wird die Mehrheit der Bevölkerung, die in Armut lebt, nur wenig abbekommen. So ist die Hilfe der Kirche in La Comunidad nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Für die einzelnen wartenden aber bedeutet sie viel. „Dies ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich solche Hilfe bekomme“, sagt eine junge Frau in hübschem Kleid. „Früher hätte ich das nie angenommen, schon gar nicht von der Regierung. Ich danke Gott, dass die Kirche mir helfen wird, ganz egal, was sie mir einpacken.“ Unterernährt sieht die Frau nicht aus. Aber der fahle Ton ihrer Hautfarbe lässt erahnen, dass sie in den vergangenen Tagen nicht genug gegessen hat. „Wenn es überhaupt etwas zu essen gibt, dann nur einmal am Tag. So richtig esse ich eigentlich gar nicht mehr. Mir ist wichtiger, dass mein Sohn ausreichend isst. Er ist zwei Jahre alt. Ich nehme das, was übrig bleibt. Von den Hilfen, die der Präsident versprochen hat, ist hier bisher nichts angekommen.“
An manchen Tagen über tausend Festnahmen
Der guatemaltekische Präsident, Alejandro Giammattei, war erst drei Monate im Amt, als die ersten mit COVID-19 erkrankten Personen in Guatemala identifiziert wurden. Danach sprach er wochenlang fast jeden Tag auf mehreren gleichgeschalteten Fernsehkanälen zur Nation. Nachfragen waren nicht möglich. In der Öffentlichkeit findet nahezu kein kontroverser Austausch mit Wissenschaftlern über eine nationale Strategie zur Bekämpfung der Pandemie statt. Anstatt die Regierungsbeschlüsse zu erklären, nutzt der Präsident seine Ansprachen immer wieder, um das angebliche Versagen politischer Gegner zu kritisieren. Er hat eine Maskenpflicht angeordnet und halbtägige Ausgangssperren. Wer sich nicht an die Anordnungen hält, wird hart bestraft. An manchen Tagen wurden über tausend Personen festgenommen und in kleine, überfüllte Zellen gesperrt. Die Strafzahlungen für Verstöße gegen die Ausgangssperren und die Anwaltskosten übersteigen bei weitem den durchschnittlichen Monatslohn eines guatemaltekischen Familienvaters.
Zwei Stunden später trägt María Luisa eine Kiste voll gespendeter Lebensmittel in die Hütte ihrer Familie. Sofort setzt sie Wasser auf, um eine Nudelsuppe zu kochen. Gewürze hat sie keine mehr, nur ein wenig Salz und gemahlene Kräuter, die ihre Tochter auf dem steilen Hang hinter der Hütte gepflückt hat. Auvilio Gonzales schaut zufrieden in den Kochtopf voll Nudeln. In den letzten Tagen hat ihm der Hunger ziemlich zugesetzt. „Man fühlt sich kraftlos und müde. Die Haut wird grün. Wenn du lange nichts isst und immer nur Wasser aus dem Hahn trinkst, dann siehst du irgendwann ein helles Licht vor Augen. Du bist zu schwach, dich zu bücken.“
Mit den ersten Löffeln Suppe kommen die Lebensgeister zurück in den vierzigjährigen Körper, dessen Gesicht so aussieht wie das eines alten Mannes. Nach und nach blinkt wieder ein wenig Hoffnung aus seinen Augen. „Wer weiß, wie lange diese Krise noch dauern wird? Aber wenn wir alle unseren Beitrag leisten, so wie es die Regierung sagt, wenn wir alle immer eine Maske tragen, dann wird es mit der Hilfe Gottes hoffentlich bald besser. Unser Präsident hat verlangt, dass wir alle mitmachen und Mund und Nase bedecken. So muss es sein. Denn wer will schon sterben? Niemand.“
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 437 Juli/Aug. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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