von Thorsten Faas und Arndt Leininger / Otto Brenner Stiftung
Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters
7. Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit

Das Wahlalter kann man absenken oder nicht. Am Ende ist eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung zu treffen. Im internationalen Vergleich wie auch in Deutschland mit Blick auf die Situation in den Bundesländern sind einige Länder, im Gegensatz zu anderen, diesen Schritt bereits gegangen. Dies führt einerseits zu durchaus problematischen Mustern, wenn junge Menschen bei manchen Wahlen in manchen Bundesländern bereits wählen dürfen, in anderen dagegen nicht. Solche Unterschiede zwischen Bundesländern eröffnen aber auch Chancen für Forschung, um die Hintergründe und möglichen Folgen von Wahlaltersabsenkungen ergründen zu können und so der bislang häufig sehr normativ geführten Debatte eine stärkere empirische Unterfütterung zu geben. Eine solche Gelegenheit war die Motivation für unser Projekt, die Jugendwahlstudie 2019, das die Grundlage für die vorliegende Publikation geschaffen hat: Am 1. September 2019 fanden in Brandenburg und Sachsen zeitgleich Landtagswahlen statt – allerdings einmal mit Wahlalter 16 (Brandenburg) und einmal mit Wahlalter 18 (Sachsen). Vor dem Hintergrund dieser günstigen Ausgangssituation wollten wir dann aber nicht nur betrachten, ob junge Menschen wählen oder nicht, sondern einen breiteren Blick auf das „Wählen mit 16“ werfen: Wie sehen die politischen Grundeinstellungen junger Menschen aus? In welche Kontexte und Informationsumfelder sind sie eingebettet? Und was folgt daraus für ihre Wahlfreudigkeit?
Am Ende unserer Analysen und Ergebnisse ergibt sich ein Muster, das an vielen Stellen jedenfalls nicht gegen eine Absenkung des Wahlalters spricht. Die politischen Grundeinstellungen – Interesse, Selbstwirksamkeit, Wissen – von 16- und 17-Jährigen liegen auf einem sehr ähnlichen Niveau wie bei älteren jungen Menschen; auch haben wir diesbezüglich keine gravierenden Unterschiede zwischen den beiden hier betrachteten Bundesländern finden können. Die Sorgen der Skeptiker*innen, dass es „diesen jungen Leuten“ an Reife fehle, scheinen nicht begründet.
Den Skeptiker*innen stehen Befürworter*innen gegenüber, die vor allem darauf verweisen, dass die Kontextsituation von 16- und 17-Jährigen im Vergleich günstiger sei: Sie wohnten häufiger noch zu Hause oder gingen noch zur Schule und befänden sich damit noch eher in Reichweite wichtiger Sozialisationsagenturen, die gezielt für eine Wahlteilnahme werben oder die junge Menschen einfach mitnehmen können. Tatsächlich haben wir gesehen, dass sich die Wohn- und Schulsituation, aber auch das Informationsumfeld junger Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren gravierend ändert: 16- und 17-Jährige wohnen überwiegend noch zu Hause und gehen zur Schule. Für ältere Kohorten gilt dies in zunehmend geringerem Maße. Dies mag auf den ersten Blick trivial erscheinen und allgemein bekannt sein. Und dennoch hat es wichtige Implikationen für die Debatte rund um das Wahlalter. Die Chance, junge Menschen zu Hause oder in der Schule gezielt auf ihre erste Wahl vorzubereiten, bietet sich eben nur in einem engen Zeitfenster.
Dabei gilt es zu bedenken, dass ein Wahlalter von 16 Jahren nicht bedeutet, dass tatsächlich alle jungen Menschen auch tatsächlich im Alter von 16 oder 17 Jahren an ihrer ersten Wahl teilnehmen. Manche werden auch bei einer unteren Wahlaltersgrenze von 16 Jahren trotzdem schon 18 oder 19 Jahre alt sein, ehe sie an ihrer ersten Wahl teilnehmen dürfen. Das hängt letztlich vom konkreten Zeitpunkt der Wahlen ab. Und mit 18 oder 19 wird man sie nicht mehr in gleichem Maße auf ihre Wahl vorbereiten können wie 16- oder 17-Jährige. Unter dem Aspekt demokratischer Gleichheit ist dies nicht unproblematisch. Auch von anderer Warte aus betrachtet gibt es problematische Muster: Wenn man bedenkt, wer mit 17, 18 oder 19 Jahren noch die Schule besucht, so werden das mit höherer Wahrscheinlichkeit junge Menschen sein, die das Abitur anstreben – die also ohnehin schon in eher privilegierter Position sind.
Über diese rein strukturelle Perspektive hinaus haben auch unsere substanziellen Analysen mit Blick auf elterliche, schulische und Informationskontexte bemerkenswerte Ergebnisse zutage gefördert. Denn es sind tatsächlich die 16-Jährigen, die am häufigsten von Gesprächen mit den Eltern über die Wahl berichten; auch mit ihren gleichaltrigen Peers sprechen sie am häufigsten über Politik und die Wahl. Für Gespräche in der Schule finden sich dagegen weniger klare Muster. Zudem finden wir bei allen Kommunikationsfaktoren erhebliche Unterschiede auch zwischen den jungen Menschen gleichen Alters – während also einige sehr intensiv über Politik sprechen, tun andere dies gar nicht. Und dies hat Folgen, denn junge Erstwähler*innen, die sich intensiv kommunikativ mit Politik auseinandersetzen, nehmen häufiger an den Wahlen teil als andere. Auch hier zeigt sich also, dass der Faktor der Gleichheit bedeutsam im Kontext der Wahlaltersdebatte ist. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Nutzung des „Wahlomats“: sowohl in Brandenburg bei den 16-Jährigen als auch in Sachsen bei den 18-Jährigen – also jeweils den jüngsten Erstwähler*innen – finden wir höhere Nutzungsraten, gerade im Vergleich zu Personen, die die Wahlberechtigung knapp verpasst haben, da sie erst nach der Wahl ihren 16. (Brandenburg) beziehungsweise 18. (Sach-sen) Geburtstag feierten. Hier handelt es sich tatsächlich um einen Effekt der frisch erlangten Wahlberechtigung: Diese führt offenkundig zu einem erhöhten Informationsbedarf und entsprechend sehen wir sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen einen sprunghaften Anstieg, sobald die jungen Menschen wahlberechtigt sind – in Brandenburg eben bei 16, in Sachsen bei 18.
In der Gesamtschau ergibt all dies ein ambivalentes Bild. Eine Absenkung des Wahlalters schafft Optionen, junge Wahlberechtigte in politikaffineren heimischen oder schulischen Kontexten mit Politik in Verbindung zu bringen. Aber nur, wo dies tatsächlich passiert, stellen sich die erhofften positiven Effekte auch ein – dort aber besonders deutlich. Unter dem Aspekt demokratischer Gleichheit ist dies problematisch und zeigt, dass eine Absenkung des Wahlalters kein Selbstläufer ist, sondern ggf. mit gezielten und effektiven Maßnahmen flankiert werden muss, damit sich wünschenswerte Wirkungen – mehr Beteiligung, weniger Ungleichheit – auch einstellen.
Angesichts der Ambivalenz der Ergebnisse wäre es vermessen, daraus eine eindeutige Empfehlung für oder gegen eine Absenkung des Wahlalters abzuleiten. Eine entsprechende Empfehlung hängt letztlich auch davon ab, wen man in der Begründungsschuld sieht. Müssen die Befürworter*innen begründen, warum man den Status Quo mit einer Grenze von 18, mit der man ja alles in allem in den letzten 50 Jahren nicht schlecht gefahren ist, ändern will? Oder müssen die Skeptiker*innen begründen, warum man nicht absenken sollte? Immerhin gilt doch ein allgemeines Wahlrecht, das grundsätzlich jeder Person zusteht. Wenn dann die Empirie zeigt, dass sich 16- und 17-Jährige in mancherlei Hinsicht, etwa mit Blick auf ihre politischen Grundeinstellungen, nicht fundamental von Älteren unterscheiden, dass sie in anderer Hinsicht – etwa mit Blick auf ihre kontextuelle Einbettung – sogar günstigere Voraussetzungen mitbringen, dann kann man daraus stringent eine Forderung nach Senkung und einer breiteren tatsächlichen Anwendung des allgemeinen Wahlrechts ableiten. In dem Fall aber gilt es auch sicherzustellen, dass dies keine Maßnahme ist, die nur privilegierten Menschen Vorteile verschafft und dadurch bestehende, problematische Strukturen weiter festigt.
Dieser Beitrag ist die Übernahme des Schlusskapitels des Arbeitspapiers 92 “Wählen mit 16”, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Otto Brenner Stiftung. Den vollen Wortlaut finden Sie hier.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.