Beinahe wäre er nicht auf die Bühne gekommen – bei der größten Friedensdemonstration im Herbst 1983, als 500.000 auf der Bonner Hofgartenwiese gegen die NATO-Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen demonstrierten. Wolfgang Clement war damals SPD-Parteisprecher und Willy Brandt als SPD-Parteivorsitzender sprach ein halbes Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl zur Friedensbewegung, als hätte es Kanzler Helmut Schmidt, den Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses, nie gegeben. Die Ordner an der überlasteten Haupttribüne, deren Stärke eher das Körperliche war, kannten Clement nicht und hätten ihn nicht durchgelassen, wären Manni Stenner, die Legende der Friedensbewegung und ich nicht dazwischen gegangen.
Vom gelernten Journalisten zum Kronprinzen Johannes Raus
Wolfgang Clement war gelernter Journalist, verbrachte Jahre bei der Hamburger Morgenpost 1986-89) und der Westfälischen Rundschau (1968-86), und das prägte seine Politik. Er war eigenwillig bis zum Eigensinn, was seiner Karriere in der SPD nicht immer zuträglich war. Und er war ungeduldig, wollte Politik mit schnellen Entschlüssen beschleunigen. Böse Zungen behaupten, er habe als Politiker wie ein Journalist gehandelt: Drei Meldungen pro Tag über dpa abzusetzen, sei ihm wichtiger gewesen, als Ziele nachhaltig und zäh gegen Widerstände in der Bürokratie durchzusetzen. 1989 berief ihn Johannes Rau zum Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei NRW. Nach der Landtagswahl 1990 galt er als rechte Hand und designierter Nachfolger Raus. 1995 endete die Zeit der absoluten Mehrheiten der NRW-SPD und sie war mehr gezwungen, als willens – die FDP war an der 5% Hürde gescheitert – mit den ungeliebten Grünen zu koalieren.
Die Koalitionsverhandlungen in der damaligen Landesvertretung beim Bund in Bonn zogen sich über sechs Wochen hin. Clement spielte dabei als Manager gemeinsam mit dem beamteten Chef der Staatskanzlei, Rüdiger Frohn, eine Schlüsselrolle. Denn Rau hatte sich nach dem Wahlschock von “nur” 46 % für die SPD und 10 % für die Grünen nach der Eröffnung der Gespräche völlig zurückgezogen. Gerüchte sickerten durch, er wolle nicht mehr antreten und an Clement übergeben. Clement verhandelte hart, aber verbindich-freundlich, sein Widersacher um die Kronprinzenrolle, Klaus Matthiesen, inzwischen SPD-Fraktionsvorsitzender hart, aber herzlich-verlässlich. Der Tagebau Garzweiler II erwies sich von Anfang an als Sollbruchstelle der Koalition. Als sich nach sechs Wochen ein mögliches Rot-Grünes Bündnis abzeichnete, war plötzlich Johannes Rau wieder an Bord und übernahm das Ruder. Seitdem galt Clement trotz seines mächtigen Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr als “Prinz Charles” an Raus Hof.
Der Rot-Grün an die Wand fahren wollte
Möglicherweise war es diese Enttäuschung, die ihn dazu bewog, schon in den ersten vier Wochen gemeinsamer Regierungsarbeit die Kompromisse des Koalitionsvertrages in Frage zu stellen, mit einem Stück Autobahn in Bochum für Opel, dem Ausbau der Dortmunder Start- und Landebahn und seiner RWE-freundlichen Strategie brachte er die Koalition schon nach drei Monaten an den Rand des Abgrunds. Er veranlasste Finanzminister Schleusser im Koalitionsausschuß zur Äußerung: “Einen Partner, mit dem man vereinbart hat zu regieren, schmeißt man nicht ein paar Monate später aus dem Fenster!” Ungeduldig förderte er den Strukturwandel – er wollte NRW zum Medienland machen, mit Hollywood gleichziehen und verzettelte sich dabei. Der Vergnügungspark Bottrop, digitale Filmbearbeitungsstudios HDO (High Definition Oberhausen), Mediapark Köln – Medienstiftung, Filmstiftung NRW, Filmbüro – überall schob er mit Subventionen an, ohne dass es ein Konzept oder eine Strategie gab. Das brachte ihm, kaum Ministerpräsident, schon einen Untersuchungsausschuss ein.
Im Mai 1998 wurde er Nachfolger von Johannes Rau – mit elf Gegenstimmen – mehr aus der SPD als von den Grünen, von denen bei einer Probeabstimmung, auf der ich als Fraktionsvorsitzender bestanden hatte, nur vier gegen seine Wahl votiert hatten. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit – ich habe zwar seine Wahl sichergestellt, ihn selbst aber nicht gewählt. Die Richtigkeit dieser Entscheidung bestätigte sich keine 24 Stunden später: Er teilte mit, Fritz Behrens zum Doppelminister für Inneres und Justiz zu ernennen – ein offensichtlicher Verfassungsbruch. Wolfgang Clement, so sagte er später in einem Interview im Deutschlandfunk, fühlte sich als Sozialliberaler. Ich will als ehemaliger Jungdemokrat nicht beurteilen, wie sozial er wahr – er war auf keinen Fall liberal, sonst hätte er diesen kapitalen Fehler nicht begangen. Wir Grüne haben die Zusammenlegung öffentlich mißbilligt und das Landesverfassungsgericht hat uns wenige Wochen später Recht gegeben. Als er mir seine nächste Personalentscheidung mitteilte, Reinhard Rauball (“Wer zum Teufel ist das?”) zum Justizminister zu ernennen, ahnte ich nichts gutes: Er trat nach 7 Tagen im Amt zurück – der kürzeste Minister der Geschichte von NRW.
Symbolpolitik und politische Schnellschüsse
Nein, bei Personalentscheidungen hatte Wolfgang Clement keine glückliche Hand – vielleicht weil er zu einsamen Entscheidungen neigte. Völlig anders als Johannes Rau, der abwog, sich mit seinen SPD-Bezirksvorsitzenden und politischen Freunden beriet, bevor er jemanden berief, war Clement ein Anhänger von Schnellschüssen. So verkündete er öffentlich nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, die seiner Meinung nach popelige Staatskanzlei am Horionsplatz zu verlassen und ins gläserne “Düsseldorfer Stadttor” umzuziehen. Finanzminister Schleusser tobte, denn der Vermieter des bis dahin zum Hälfte leer stehende Super-Bürogebäude, konnte nun jede Miete verlangen – Clement hatte sich ja öffentlich festgelegt. Verlässliche Absprachen erforderten es manchmal, mit Franz Müntefering zu telefonieren. Nach der Landtagswahl 2000 wollte er die Grünen demütigen, indem er öffentlich Jürgen Möllemann zu Gesprächen in der Staatskanzlei empfing. Aber die behielten die Nerven und führten letztlich die Koalition fort.
Überhaupt – die gläserne Treppe in der neuen Staatskanzlei: Nicht nur mit Möllemann, auch mit Bill Gates fuhr Clement auf dieser Treppe medienbewusst, bildmächtig und pressewirksam nach oben. Während 2000 die Stadt München und andere führende öffentliche Verwaltungen längst auf Open Source setzten, verordnete Clement der Landesverwaltung NRW eine Überdosis Microsoft. Wieder war es der Journalist in ihm, dem eine schnelle und sensationelle Meldung wichtiger war, als eine gut abgestimmte und überlegte, nachhaltige IT-Strategie. Im Jahr 2002, selbst schon längst Unternehmensberater und mit dem Aufbau einer Stiftung betraut, durfte ich seinen Wechsel von Düsseldorf nach Berlin live in der Grünen Fraktionssitzung erleben – ein einzigartiges, politikwissenschaftlich interessantes Schauspiel:
Von NRW in den Bund exportiert
Bundeskanzler Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, sein Wirtschaftsminister Peer Steinbrück, einst von Heide Simonis nach NRW abgeschobener Finanzminister, der SPD-Landesvorsitzende Harald Schartau, sowie Birgit Fischer, stellvertretende Landesvorsitzende der SPD, kamen in die Grüne Fraktionssitzung. Schröder leitete ein, dass man ja nun wie in NRW in Berlin die Rot-Grüne Koalition fortführen wolle, und dafür brauche er Wolfgang Clement, weil “der von uns Sozis am meisten vor Wirtschaft versteht”. Deshalb müsste er ihnen leider ihren MP nehmen und zum Bundeswirtschaftsminister machen. Es folgte der Auftritt des um Fassung ringenden Harald Schartau, der, obwohl als SPD-Landesvorsitzender erste Wahl, mangels eigenem Landtagsmandat erklären musste, dass nicht er, sondern Steinbrück der nächste Ministerpräsident werden würde. Auch bei dieser Personalentscheidung hat Clement keine glückliche Hand bewiesen: Die Landtagswahl 2005 ging erstmals seit 1966 an die CDU verloren.
Clement erwirkte in Berlin als “Superminister für Wirtschaft und Arbeit” vor allem für die Hartz IV-Reformen, die Lockerung der Gesetze über Leiharbeit, Arbeitnehmerüberlassung und Scheinselbständigkeit, und wirkte an den Gesetzen zur Öffnung der Finanzmärkte, der Steuerfreiheit der Gewinne aus Unternehmensverkäufen mit, und ermöglichte damit nicht nur einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, sondern eine neoliberale Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte. Er setzte als Sozialdemokrat einen Abbau von Arbeitnehmerrechten durch, den eine CDU-Bundesregierung wahrscheinlich niemals in diesem Umfang erreicht hätte. Schon vor dieser Zeit war er Mitglied des Aufsichtsrates der neoliberalen “Initiative neue soziale Marktwirtschaft“, einer Ideologiefabrik, finanziert vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall, die zwar vielleicht neu, aber keineswegs sozial war. Für ihn persönlich war das nicht von Schaden: Er wurde 2006 in den RWE-Aufsichtsrat berufen, in die Stiftung des Zeitarbeitsunternehmes Adecco, in verschiedenste Aufsichtsräte und Unternehmergremien, sowie undurchsichtige, den Arbeitgebern nahestehende Beratungsinstitutionen.
Irrtümer eines tragischen SPD-Helden
Persönlich erlebte ich Wolfgang Clement als einen umgänglichen, freundlichen, nahezu kumpelhaften Menschen ohne Vorbehalte oder Dünkel. Ein stolzer Vater von fünf Töchtern, liebender Ehemann und Bonner Bürger. Bei allem, was er tat, war er sicher überzeugt, das Richtige zu tun, er war auf tragische Weise im umgekehrten Faust’schen Sinn der Geist, der stets Gutes will, doch dabei das Böse schafft. Als ich ihn das letzte mal persönlich traf, 2007, kurz vor seinem Austritt aus der SPD, schien er mir leicht abgehoben. “Wenn Sie dann erst mal in einigen Aufsichtsräten sind…” wollte er mir raten – doch als Berater von kleinen und mittleren Unternehmen war es weder meine Absicht, noch mein Ziel, dorthin zu kommen. Aber es dämmerte mir, in welchen Sphären er sich inzwischen bewegte, auf welchen Wolken er schwebte und wie er dachte. Ein Sozialdemokrat, der den Verlockungen der Wirtschaft erliegt, ohne sie wirklich zu verstehen, und der viel zu überzeugt neoliberalen Think-Tanks als Aushängeschild dient – was können sich Unternehmensvertreter der “alten Wirtschaft” besseres wünschen?
Seine Verstrickung in diese Strukturen machte ihn mehr als viele andere zum tragischen Helden der Sozialdemokratie. Dass er 2012 die inzwischen illiberale und zu Steuersenkungspartei verkommene FDP für unterstützenswert hielt, unterstreicht seine späte politische Geschmacksverirrung. Aufsichtsratssitze in Zeitarbeitsunternehmen wie der DIS, der Citibank, der Dussmann-Gruppe oder 1&1 u.v.a. deuten auf einen zunehmenden politischen Kontrollverlust über die eigene Glaubwürdigkeit, wie sie in ähnlicher Weise bei Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel diagnostiziert werden muss. Als Kind des Ruhrgebiets hatte er eine natürliche Bindung an die Arbeiterschaft in die Wiege gelegt bekommen, die er aber wohl irgendwann vergass. Das ist schade, denn persönlich konnte er seine Herkunft nie verleugnen. Wolfgang Clement konnte gut trinken, rauchte viel und joggte um so mehr. Der Lungenkrebs hat ihn am Ende eingeholt. Das passt irgendwie. Friede sei mit Dir, Wolfgang Sozialdemokrat!
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