Seit Wochen steht die Daimler-Aktie auf Höchstkurs – obwohl der Konzern vor großen Problemen steht, weil er aufgrund des hohen Anteils von großkalibrigen Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren die Wende zur Elektromobilität scheinbar nur langsam zu bewältigen scheint und aus unerfindlichen Gründen den einzigen Europäischen Brennstoffzellen-PKW gerade aufgegeben hat. Die MTU-Aktie steht auf Superkurs, obwohl MTU Triebweke für den Airbus herstellt und derzeit niemand Flugzeuge kauft. Der Kapitalriese Blackrock ist in der Corona-Krise massiv gewachsen, berichtete vorgestern “Monitor” – vor allem durch profitable Beteiligungen an CO² treibenden Techniken wie Kohlekraftwerken. Gestern wurde bekannt, dass der neue Impfstoff von Biontech-Pfizer nicht in 100 Mio. Dosen, sondern wahrscheinlich nur bis zu 50 Mio. zur Verfügung steht – wen wundert dies, wenn in der Kühlkette minus 80 Grad eingehalten werden müssen – aber die Börse reagiert sofort mit Panik, die Aktie verlor 7%. Während die Corona-Todesraten steigen, spekuliert oder besser zockt sich das Finanzkapital fett und fetter. Und die Bundesregierung?
Sie hangelt sich wie die Länderchefs von Krisengipfel zu Krisengipfel, ohne eine wirkliche Linie. Sie verzettelt sich im Klein-Klein. Klar mussten die Verantwortlichen in der ersten Jahreshälfte “auf Sicht fahren”, wie es die Kanzlerin zurecht genannt hat. Aber spätestens im Sommer war zu erkennen, dass es durch diese Krise, die niemand verschuldet hat, tragische Verlierer*innen, aber auch krasse Gewinner*innen geben wird. Die Frage eines Impfstoffes, die vor 30 Jahren wahrscheinlich von Universitätsprofessor*innen mit nüchternen Fakten und wissenschaftlicher Zurückhaltung – aber wahrscheinlich auch im Schneckentempo – beantwortet worden wäre, ist heute vor allem zum Börsenhype geworden. So überbieten sich die Pharmariesen bei den Ankündigungen, die Finanzmärkte reagieren gierig und spekulativ. Die Kurse internationaler Konzerne werden häufiger diskutiert, als die offene Frage, wieviel denn über die Langzeitwirkungen der praktisch unerforschten, zweifellos “gentechnisch eleganten MRNA-Impfstoffe”, wie es eine befreundete Expertin kürzlich nannte, wirklich bekannt ist: praktisch nichts.
“Golfpolitik”: Stolpern von Loch zu Loch
Spätestens in den Sommerferien und bei derzeit steigenden Infektionen war nicht mehr zu erklären, wieso die Zeit der Schulschließungen und die Sommerpause nicht genutzt worden sind, um die zum Teil bestialischen Zustände auf Schultoiletten zu beheben, bis heute fehlende Waschgelegenheiten und Desinfektionsmöglichkeiten in den Klassen zu ergänzen, massenhaft Luftreinigungsgeräte zu besorgen und vor allem die Schulen schleunigst zu digitalisieren. Auch die Überfüllung der öffentlichen Verkehrsmittel hätte bereits im Sommer durch intelligentes Schulzeit- und Fahrplanmanagement vermieden werden können. Die Bundesländer von Schulminister*inne*n bis zu den Lehrer*innen*verbänden verwechseln “auf-Sicht-fahren” mit Nichtstun. Auch wenn Präsenzunterricht pädagogisch besser und die Eltern entlastender sein mag: Allein die nötige Vorsorge für ein weiteres Anhalten der Pandemie wäre Grund genug, nicht nur die Qualität der Geräte, sondern vor allem den digitalen Kenntnisstand, Datenschutzbewusstsein und digitale Mündigkeit der Schüler*innen drastisch zu steigern.
Das gilt in ähnlichem Maße für Student*innen. Das Angebot von Bildungsministerin Karliczek, die Hilfen für Studierende vor allem in Form von Studienkrediten zu geben, hat wirkungsvoll dafür gesorgt, dass die Anmeldezahlen an den Universitäten drastisch gesunken sind. Eine große Zahl Studierender ist darauf angewiesen, ihre Bildung durch Nebenjobs in Kneipen, Fitnessstudios oder anderen Branchen zu verdienen. In Branchen, die gerade durch die Corona-Krise stark betroffen sind. Das gilt ebenso oder noch schlimmer für die Lage der Künstler*innen*szene, die Veranstaltungsbranche ebenso wie für Schausteller*innen, Nagel- und Tatoostudios, Hotels bis hin zur Prostitution. Corona hat eine breite gesellschaftliche Schneise von Verlierer*inne*n geschaffen, von denen viele auch durch die Corona-Hilfen nicht entschädigt werden. Sie brauchen reale Hoffnung auf Solidarität. Sie auf vereinfachtes Hartz 4 zu verweisen, ist weder gerecht, noch zumutbar, weil sie nicht durch eigenes Zutun in die soziale Schieflage geraten sind.
Es fehlt eine überzeugende soziale Strategie
Aber es gibt auch jede Menge Gewinner der Krise. Medizinprodukte, Masken, Impfstoffe, Tests und Schnelltests werden zu Riesengewinnen der Pharmaindustrie beitragen. Paket- und Versanddienste suchen händeringend nach Mietsklaven, die Oligopole von Internet-Riesen wie Amazon, Microsoft, Google und Facebook wachsen exponentiell. Der Online-Handel boomt. Viele Geschäftsmodelle rund um das Internet, Streamingdienste und Spielekonsolen boomen. Was also läge näher, als dass die Bundesregierung, die zumindest dem Namen nach auch von Sozialdemokraten getragen wird, sich nicht darauf beschränkt, mit Milliardensubventionen die Lufthansa, die Automobilbranche zu retten? In der Krise, die keine Schuldigen kennt, außer ein Virus, das nicht belangt werden kann, würde eine soziale Strategie bedeuten, anzuerkennen und auch zu kommunizieren, dass soziale Ungerechtigkeiten entstehen und zu versprechen, diese in und nach der Krise solidarisch auszugleichen.
Es kann nicht angehen, dass die üblichen Auguren des Neoliberalismus jetzt schon wieder das Jammern beginnen, dass man doch schnell zur “Schwarzen Null” und zur “Schuldenbremse” wieder zurückkehren müsse, gerne garniert mit dem Tränendrüsen-Argument, dass man sonst “unseren Kindern und Enkeln” einen unvermeidlichen “Schuldenberg” hinterlasse. Eine der dümmsten und plattesten finanzpolitischen Lügen angesichts einer Weltwirtschaft, in der Staaten derzeit für ihre Schuldenaufnahme Negativzinsen bekommen. Wir leben in einer Zeit, in der der Staat sich noch nie so günstig Geld leihen konnte, um seine Infrastruktur, marode Brücken, Straßen, vor allem aber Schulen und Hochschulen zu sanieren und dabei einen ebenso nachhaltigen Boom auszulösen, wie durch eine umfassende Digitalisierung der Schulen.
Schluss mit den Sparmärchen und der “schwäbischen Hausfrau”
Dafür sollte und müsste allerdings SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz seine Märchenerzählung, “wir können uns das alles leisten, weil wir in den letzten Jahren gut gewirtschaftet haben” aufgeben und sich stattdessen ernsthafte Gedanken machen, wie der Staat die Gewinner der Krise besteuern und in die Solidarität mit den Verlierern herbeiführen könnte. Denn es ist einfach politischer Unsinn, wenn mit dem aktuellen Streit zwischen Bund und Ländern über die Finanzierung der Corona-Kosten gezielt der Eindruck erweckt wird, Geld sei in der Krise ein knappes Gut und nun müsse trotz der Pandemie ans Ändern des Verteilungsschlüssels der Steuern oder gar ans Sparen gedacht werden. Wenn Staaten wirklich so denken müssten, hätte schon der erste Golfkrieg 1993 gar nicht erst geführt werden dürfen – für den allein das Land NRW eine Milliarde Mark zahlen musste – ich durfte selbst als Abgeordneter der Opposition folgenlos dagegen stimmen – ganz zu schweigen vom aktuellen Irrsinn des NATO-Rüstungsziels von 2% vom Bruttosozialprodukt, das auch in der Corona-Krise geradezu götzenhaft tabuisiert wird.
Enteignungen sind legal, sie treffen aber die falschen
Corona ist in mehrfacher Hinsicht eine viel tiefgreifendere Krise als ein solcher regionaler Krieg. Indem es nämlich in der Pandemie für Regierungen keine Entschuldigung gibt, die betroffenen, wirtschaftlich geschädigte Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Unsere verfassungsgemäße Rechtsordnung lässt solches Handeln auch gar nicht zu: Die Schließung von Gastronomie und vielen anderen Branchen kommt im übertragenen Sinne einer teilweisen Enteignung gleich – aus Sicherheitsgründen und um Leben zu schützen. Enteignungen sind nach Artikel 14 Grundgesetz durchaus möglich – aber nicht entschädigungslos. Und diese Entschädigungsbereitschaft der Regierungen muss klar den nutzlosen und wahnwitzigen Steigerungen der Rüstungsausgaben vorgehen, an denen die Regierung als Ziel gegen jede Vernunft festhält.
Die GroKo ist unfähig, sichere Perspektiven aufzuzeigen
Das Klammern an den Status Quo verbunden mit der Illusion, durch die Impfstoffe sei bald alles wieder beim Alten, ist eine große Gefahr für die Regierungen von Bund und Ländern. Sollten sich Zweifel an der Wirksamkeit der Impfung, wie sie nicht nur von ideologischen Impfgegnern geäußert werden, durchsetzen, wird es eng für die bisherige Nicht-Strategie der Bundesregierung. Schon jetzt zeigen sich die ersten Risse und Zweifel an der Eignung des von Bund und Ländern für den Jahreswechsel verkündeten, gelockerten Teillockdown. Geradezu tödlich für die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und damit für die berechenbare Möglichkeit der Wirtschaft, sich auf die Situation einzustellen, sind schon jetzt die so geweckten Zweifel an der Bereitschaft des Staates, das Land mit ökonomischen Hilfen durch die Krise zu führen. Ursächlich sind die aktuellen Querelen zwischen Bund und Ländern, wie sie der CDU-Fraktionsvorsitzende Brinkhaus befeuert hat und mit denen er andeutet, dass die Mittel zur Stützung der Wirtschaft ab Januar nicht mehr im bisherigen Umfang zur Verfügung stehen werden. Das ist mitten in der sich verschärfenden Pandemie nicht nur unklug, es ist stümperhaft.
Das alles macht deutlich: Die Groko ist durch die Krise ausgelaugt, Merkel kann nur noch partiell in der Rolle der strengen Mutti gegen die Lockerungslümmel aus den Bundesländern punkten. Aber auch das ist nur oberflächliche Taktik jenseits einer wirklichen Strategie. Mehr noch: Durch die mangelnde Bereitschaft, gestalterisch gesellschaftliche Entwicklungen zu denken und zu entwickeln, die im Kern nur eine solidarischere Gesellschaft als die jetzige bedeuten können – etwa mit bedingungslosem Grundeinkommen, einer Neubestimmung.politischer Prioritäten zu mehr Klimaschutz, zu echter sozialer Gerechtigkeit – entsteht durch das “Fahren auf Sicht” eine tiefe gesellschaftliche Gefahr auch für die Demokratie gerade im Wahljahr 2021.
Den Gesellschaftsvertrag neu begründen
Völlige Gerechtigkeit kann keine Regierung herstellen – das wissen die Menschen, aber sie kann das Problem erkennen, benennen und sich sichtbar darum kümmern, das erwarten sie zurecht. Dabei muss es endlich ernsthaft darum gehen, die Superreichen, Milliardäre, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten sprunghaft gestiegen ist, zu einem großen Akt der Solidarität auf den Boden der Realität zurück zu holen. In diesem Zusammenhang wird es darum gehen, diejenigen mit zur Solidarität heranzuziehen, die in der Krise privilegiert waren und sind.
Lastenausgleichsgesetz nannte man das nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland. “Europäischer Verantwortungsbeitrag” könnte so ein Gesetz heissen, das bestenfalls natürlich nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern über alle europäische Staaten hinweg durchgesetzt werden sollte. Dabei sollten diejenigen korrupten Regierungen, die das 750 Mrd. € Rettungspaket der EU derzeit hintertreiben, nämlich Ungarn und Polen, durchaus zu einem Sonderopfer herangezogen werden – als Schadensersatz für Korruption und Verstoß gegen die Grund- und Freiheitsrechte der Gemeinschaft und als Soli gegenüber den besonders von Corona betroffenen Staaten wie Italien, Spanien und Griechenland.
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