von Inga Triebel
Die Stellung von Mensch und Tier im „amerindischen Perspektivismus“ von Eduardo Viveiros de Castro

Der Stellenwert von Mensch und Tier wird seit Jahrhunderten in Alltag und Wissenschaft diskutiert. Einer westlich geprägten Weltanschauung zufolge ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier in dem, was dem Menschen eigen ist, begründet. Der Brasilianer Eduardo Viveiros de Castro entwirft mit seinem Konzept des „amerindischen Perspektivismus“ eine radikale Alternative zur Betrachtung von Mensch und Tier. Grundlage dafür liefern ethnographische Begegnungen mit verschiedenen indigenen Gemeinschaften der Amazonasregion.
Mensch und Tier
Stellen wir uns einmal vor, wie die Welt geordnet ist. Vielleicht denken wir zunächst an die Besonderheiten dieser Erde: Berge, Flüsse, Wälder, bestimmte Landzonen, die durch große Meere voneinander getrennt sind. Überall gibt es Tiere, die diese verschiedenen Gebiete bewohnen. In einigen Teilen, zum Beispiel auf den Kontinenten, leben Menschen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt für uns auf der Hand, schließlich benutzen wir verschiedene Begriffe. Sie unterscheiden sich äußerlich, durch Körpermerkmale, wie dem Besitz von Beinen, Flossen oder Flügeln, aber auch innerlich voneinander. Die Menschen besitzen „Verstand“, also die Fähigkeit zu denken, Schlüsse zu ziehen und unterschiedliche Begriffe zu bilden. Welche Beziehung beide zueinander haben, lehren uns viele wissenschaftliche Arbeiten: Mensch und Tier haben sich in Evolutionsprozessen entwickelt, wobei der Mensch als „Krone der Schöpfung“ daraus hervorgeht und sich Tier und Natur systematisch zu Nutzen macht. Beide besitzen Körper, mit denen sie die Welt wahrnehmen und in ihr leben. Die Frage, worin sich Mensch und Tier unterscheiden, muss demnach in dem liegen, was nur dem Menschen eigen ist: der Seele.
Dualismen
Die Unterscheidung von Mensch und Tier geht einher mit weiteren Zweiteilungen (Dualismen), die während der Jahrhunderte in verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen des Westens herausgearbeitet wurden. Dazu gehören auch Dualismen wie Frau-Mann, Körper-Seele oder Natur-Kultur. Das letzte Paar wird zusammen mit der Unterscheidung Mensch-Tier grundlegend für die spätere Heranführung an Viveiros de Castros „amerindischen Perspektivismus“. Seine Betrachtung beruht auf seinen vorherigen Auseinandersetzungen mit den Theorien des Strukturalismus, Poststrukturalismus sowie einer Kritik an der Postmoderne. In allen Theorien geht es dabei zum einen um den Bezug von Sprache auf die Welt, da vor allem Sprache das Werkzeug ist, mit dem wir uns die Welt erklären. Strukturalist*innen sehen Sprache und damit auch die Welt als ein System, in dem einzelne Wörter oder Dinge Teile einer klaren, universellen Struktur sind. Dadurch ist es ihnen möglich, soziale Regeln zu formulieren, die ähnlich wie grammatikalische Regeln als grundlegende Struktur gelten müssen. Das Ergebnis ist eine oft dichotome Betrachtungsweise der sozialen Welt. Dagegen setzen Poststrukturalist*innen, dass es zwar Strukturen gibt, die Gesellschaften formen, diese aber niemals feststehend und somit veränderbar sind. Die Regelstruktur sei eine Illusion der Idee, dass Sprache unser Denken und damit auch die Welt formt. Zuletzt ist die Postmoderne diejenige Strömung, die versucht, mit den Idealen der Moderne zu brechen. Aufklärung, Vernunft, Fortschritt und Wissenschaft seien demnach keine universellen Ideen „einer Menschheit“, sondern aufgezwungene Ideale eines vorherrschenden Westens. Mit der Kritik an den Prinzipien der Moderne und der Entromantisierung der essentialistischen Darstellung einer Art des Indigen-Seins, entstehen neue theoretisch-praktische Ausrichtungen in den Amerikas.
Der ausführende Arm der staatlichen Verwaltung
Eduardo Viveiros de Castro beginnt im Rio de Janeiro der 1970er-Jahre, sich mit den Theorien des Strukturalismus und des darauffolgenden Poststrukturalismus auseinanderzusetzen. In einem Interview zu seinem 2013 veröffentlichten Buch „La Mirada de Jaguar“ (im Portugiesischen ist der Titel 2009 unter dem Namen „Encontros“ erschienen) mit dem Anthropologen Salvado Schavelzon erzählt er, dass er viel mit der linken Künstlerszene Rio de Janeiros in Berührung kam. Zu dieser Zeit begann dort die Debatte zweier linker Positionen, die eine „nationalistisch-populistisch“, die andere „internationalistisch“. In diesem Zusammenhang meint er, dass die Indigenen kein anerkannter Teil der sozialen Struktur Brasiliens waren. Die ethnologische Forschung in Brasilien war daher klar ausgerichtet: Ethnolog*innen und Anthropolog*innen waren der ausführende Arm der staatlichen Verwaltung indigener Gemeinschaften. Anstatt ihre Position in Brasilien anzuerkennen, sollten die Indigenen durch die Forschung in die brasilianische Gesellschaftsstruktur überführt werden, indem sie erst zu camponeses (Kleinbauern und -bäuerinnen) werden sollten und damit befähigt, sich in die bereits bestehende Arbeiterklasse einzugliedern. In Abgrenzung zu dieser staatlichen Regulation untersuchte Viveiros de Castro, wie Brasilien von den Indigenen gedacht wird. Dafür setzte er sich mit anderen Autor*innen auseinander, etwa dem strukturalistischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, dem poststrukturalistischen Philosophen Michel Foucault oder dem postmodernen Soziologen Bruno Latour, sowie mit seinen eigenen Forschungsergebnissen zu den Tupinambá (1) und seiner eigenen Feldforschung mit den Araweté. Zusammen mit der Lektüre weiterer Ethnographien anderer Forscher*innen entwickelte er seine Theorie des „amerindischen Perspektivismus“.
Der Unterschied liegt in der “Kultur” – das Dilemma der Anthropologie
Denken wir noch einmal an die bereits erwähnte Vorstellung zum Verhältnis von Mensch und Tier. Wahrscheinlich ist es uns leicht gefallen, den gemeinsamen Ursprung in der Natur von Mensch und Tier anzuerkennen, schließlich gibt es dazu viele wissenschaftliche Belege. Der Unterschied beider liegt in der „Kultur“, diese würden wir den Menschen zuschreiben, da sie dieses abstrakte Konzept geschaffen haben. Menschen sehen wir also als Subjekte, die Objekte, also etwas „Anderes“ erschaffen. Diese Vorstellung von einer einheitlichen Natur des Menschen und unterschiedlichen Kulturen bezeichnet Viveiros de Castro als das Dilemma der Anthropologie, da ihr Ziel niemals universelle oder relative Wahrheiten sein sollten. Der „amerindische Perspektivismus“ setzt an dem Punkt an, an dem der Mensch als alleiniger Schaffender von Kultur verstanden wurde und dies den Tieren abgesprochen wurde. Für Viveiros de Castro liegt der Unterschied nicht im Besitzen einer Seele, die zum Beispiel „Kultur“ schaffen kann, sondern in der Körperlichkeit. Er benutzt die westlichen Dualismen, um diese radikal umzudeuten und aufzubrechen. Nach amerindischer Konzeption ist die Grundlage von allem das Menschliche: „tudo é humano“ (alles ist menschlich). Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt demnach nicht in der Menschlichkeit, denn auch Tiere waren zu irgendeinem Zeitpunkt Menschen. Sie nehmen sich selbst ebenso wahr, wie die Menschen sich selbst wahrnehmen; der Unterschied liegt allein in der Perspektive: „Was für den Jaguar Blut ist, ist für den Menschen Maniokbier“. Es gibt eine Menschlichkeit, die alle Wesen besitzen, der Unterschied liegt in den verschiedenen Körpern, die die Perspektive schaffen, also: eine Kultur, viele Naturen. So sind auch alle Beziehungen, die Menschen und Tiere oder andere Wesen eingehen, soziale Beziehungen. Der Begriff der „Gesellschaft“ weitet sich, diese besteht nun auch zwischen Mensch und Tier. Damit verabschiedet er sich von der Annahme, Menschen eine privilegierte Position innerhalb der Spezies zuzusprechen. Ist alles menschlich, dann könnte auch alles zum Subjekt werden und somit soziale Beziehungen eingehen. Perspektivismus bedeutet, dass wir das grundlegend Gemeinsame in den verschiedenen Spezies nachvollziehen, denn „für ein Subjekt, das nur einen Hammer besitzt, ist alles ein Nagel“.
Körper, Seele, Mensch, Tier, Natur, Kultur
Mit diesem Konzept übersetzt Viveiros de Castro die westlichen Konzepte in eine amerindische Perspektive. Er übernimmt die Vorstellungen von Körper, Seele, Mensch, Tier, Natur und Kultur und überträgt diese in umgekehrte Zusammenhänge. Dieses neue Verhältnis von Mensch und Tier, oder auch von Mensch und Natur, bietet in Lateinamerika die Möglichkeit, Tier- und Naturrechte auf eine eigene Art und Weise autonom zu bestimmen.
Anmerkung
1) Die Tupinambá, die während der europäischen Kolonialisierung an der Küste Brasiliens lebten, wurden durch viele westliche Berichte mit rituellem Kannibalismus in Verbindung gebracht.

Eduardo Viveiros de Castro, „Die Unbeständigkeit der wilden Seele“, Turia + Kant Verlag 2017, 458 Seiten, 42 Euro. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 492 Dez. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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