von Antje Vollmer
Haben die liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts noch eine Zukunft? – Überheblich, arrogant und unfähig, aus eigenen Fehlern zu lernen: Das ist die Lage der liberalen Demokratien 30 Jahre nach dem Sieg im Kalten Krieg. Und jetzt?
Die Blütenträume und die Euphorie der großen Zeitenwende von 1989/90 sind verflogen. Kein Wort mehr von einer neuen Friedensära, von einer multilateralen Weltordnung bei Stärkung der Uno, von dem Epochenziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok oder gar von der weltweiten Akzeptanz und Durchsetzung westlicher Werte und Gesellschaftsmodelle.
Wie ist es dazu gekommen? Worin liegen die Ursachen dieses Verlustes? In äußeren Faktoren oder im eigenen Unvermögen der Akteure?
Immer deutlicher wird: Es waren nicht die unvermeidlichen Mühen der politischen Ebenen, es war nicht allein der 11. September 2001 mit seinen Folgekatastrophen, nicht die Finanzkrise von 2008 und auch nicht die Wahl Donald Trumps, die diese Träume zerstört haben. Es war eine grundsätzliche Unfähigkeit der westlichen Demokratien Europas, einen guten Plan für die Zeit nach dem unerwartet glücklichen Ende des Kalten Krieges zu entwickeln.
Es gab zwar Pläne, aber die waren weitgehend nicht in Europa, sondern in Amerika ersonnen, in den neoliberalen und neokonservativen Thinktanks und transatlantischen Beraterkreisen. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um die Siegerposition aus dem Ost-West-Systemkonflikt konsequent auszuschöpfen. „America First“ war zwar erst viel später die Leitparole von Donald Trump, aber der Sache nach war es der Leitstern, dem alle US-Regierungen stets folgten.
Das sowjetische Vielvölkerreich war in instabile Nationalstaaten zerfallen, Russland durch die neoliberalen Wirtschaftsexperimente der Jelzin-Ära ökonomisch und sozial geschwächt. Es wurde zur Regionalmacht herabgestuft. Die Führungen aller postkommunistischen Staaten strebten in die Nato und die EU und sehnten sich nach der Übernahme des westlichen Lebensstils. Das aufsteigende China wurde bald als neuer Gegner und geopolitischer Konkurrent ausgemacht. Der Kampf um die Ressourcen des Nahem Ostens mit dem Erzfeind Iran eskalierte zu offenen Kriegen oder Bürgerkriegen (Irak, Afghanistan, Syrien, Libanon, Jemen).
Der neoliberale Glaube ging verloren
Es dauerte eine ganze Weile, bis immer mehr Menschen in diesen Staaten der Glaube daran verloren ging, sie seien nach 1989 in einer glücklicheren Welt der Freiheit aufgewacht. Es dauerte, bis Zweifel daran aufkamen, ob Globalisierung und Digitalisierung wirklich nur ein Segen für die Menschheit seien, ob Privatisierung und Deregulierung des Wirtschaftslebens und unbegrenzte Allmacht des internationalen Finanzkapitals wirklich die Garanten des Wohlstands für alle wären.
Es war eine echte, aber andere Revolution, die stattgefunden hatte. Sie wurde nur nicht so genannt. Es war ein propagandistisch begleitetes Meisterstück politischer Strategie, das daherkam im Gewand eines Befreiers, der vorgab, die tiefsten Sehnsüchte der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zu erfüllen.
Und tatsächlich gab und gibt es solche Sehnsüchte bei den jungen Eliten in Ost und West, besonders in den sozialen Medien, die die entfesselten Freiheiten mit allen Sinnen auskosten und dabei individuelle Karrieren und eine Kreativität nie gekannten Ausmaßes entwickeln. Nicht wenige von diesen kamen aus den abgelösten Oligarchien des Sowjetsystems, andere aus dem Kreis der Dissidenten.
Es scheint aber inzwischen so, dass auch diese Revolution das Schicksal aller großen Revolutionen teilt: Nach dem Rausch kommt die Ernüchterung. Und der bohrende Zweifel, ob das große Freiheitsversprechen wirklich eingelöst wurde.
Ernüchterung und Wut
Alle rechtspopulistischen Strömungen in Ost und West haben in dieser Ernüchterung und in der daraus folgenden Wut ihre Ursache. Darum sind sie so gefährlich. Darum muss man begreifen, was eigentlich falsch gelaufen ist. Denn der Kern dieses Zweifels zielt auf das westliche Gesellschaftsmodell selbst.
Demokratien können sich nicht durch Gewalt und Unterdrückung behaupten wie Diktaturen. Sie werden auf Dauer auch nicht durch moralische Ansprachen und Propaganda begründet und verteidigt. Der Kern ihrer Daseinsberechtigung liegt darin, dass sie glaubhaft und dauerhaft den Menschen einen Rahmen von gerechtem Chancenausgleich, eine stabile Rechtsordnung, persönliche Freiheit, Friedenssicherung nach innen und außen, eine verlässliche soziale Daseinsvorsorge und gute Zukunftsaussichten für die nächste Generation garantieren.
Ob die westlichen Demokratien dies alles noch für die Mehrheit ihrer Bevölkerungen leisten, ob sie wirklich als Modell für alle Gesellschaften der Erde taugen, das ist der Kern ihrer heutigen Infragestellung und Krise.
Infragestellung und Krise
Konkrete Beispiele: Nach Jahrzehnten und trotz gigantischen Militär- und Propagandaeinsatzes ist kein Frieden in Afghanistan eingekehrt. Der Nahe Osten versinkt in Bürger- und Stellvertreterkriegen. Millionen von weniger Privilegierten leiden an völliger Erschöpfung wegen der Unsicherheit ihrer Lebensperspektiven. Mangelnde Qualifikationen für die Erfordernisse der digitalen Welt verstärken ihre Existenzunsicherheit. Die Finanzkrise von 2008 hat ganze Volkswirtschaften ruiniert und den obszönen Reichtum weniger ins Unfassbare gesteigert. Die deregulierten Börsen haben sich umfassend von der Realwirtschaft und jeglicher politischer Kontrolle abgekoppelt. Die Klimakrise wird zur vorherrschenden Gattungsfrage. Die europäische Union ist durch den brutalen Umgang mit Griechenland, den immerwährenden Streit mit Ungarn und Polen, durch den Brexit, die ungeregelte Migration, die ständigen Rüstungsanforderungen und den Sanktionsdruck aus Washington geschwächt.
Vor diesem Hintergrund stößt die Corona-Pandemie bereits auf eine geschwächte Vertrauensbasis. Der Gipfel dieser Zweifel aber wird durch die Tatsache gestützt, dass das sogenannte Mutterland der Demokratie, die USA, nicht nur einen Donald Trump legal gewählt und vier Jahre lang ertragen hat, sondern diesen immer noch mit einer Zustimmung von 74 Millionen stützt.
Sind Eliten zu Selbstkritik in der Lage?
Es ist eine Illusion zu glauben, dieser Schaden sei mit der Wahl Joe Bidens dauerhaft behoben und Amerika werde – mit Unterstützung der EU und diverser transatlantischer Fanklubs – zu alter Weltbedeutung und Vorbildfunktion zurückkehren. Das ist ein Trugbild. Es wird nicht so kommen.
Alles hängt in diesem kritischen Moment davon ab, ob die politischen, intellektuellen und medialen Eliten der westlichen Demokratien noch zu einer umfassenden Selbstkritik in der Lage sind. Und zu den notwendigen Konsequenzen daraus.
Sie müssen endlich erkennen, dass ihr Glücksversprechen stark den eigenen Interessen, den eigenen Freiheits- und Machtbedürfnissen verpflichtet war und denen von Ihresgleichen in den zu beglückenden neuen Demokratien. Der Applaus aus den eigenen Reihen reicht aber nicht mehr. Ganze Bevölkerungsschichten und deren Bedürfnisse und Ängste wurden außer Acht gelassen. War es früher noch eine akzeptierte Richtschnur, dass Demokratien darauf zu achten hätten, dass mindestens zwei Drittel der Bevölkerung an der positiven Entwicklung des Gemeinwesens und des kulturellen Gesellschaftsvertrags partizipieren sollten, ist dies längst obsolet geworden. An die Stelle echter Kenntnis der Volksmeinung sind mediale Kampagnen der political correctness getreten. Manches Elitenprojekt – von der Sternchen/Gender-Sprachverhunzung bis zu den extremsten Zügen der Lifestyle-Libertinage – trägt skurrile Züge. Das mag liebenswert erscheinen, entbehrt aber trotzdem jeder demokratischen Absegnung und kann Menschen anderen Lebensstils tief verunsichern.
Auf hohem Ross in der Blase
Viele Führungskräfte in Politik und Medien leben in einer eigenen Blase, mit eigenen Wertmaßstäben. So werden die innereuropäischen Konflikte, ob mit Griechenland und Italien, ob mit Ungarn und Polen oder gar mit Russland, in der Regel vom hohen Ross eines moralischen Imperialismus ausgefochten. Insbesondere die glücklichen Deutschen und Teile des europäischen Parlaments neigen seit 1990 zu dieser unangenehmen Form des Nicht-Dialogs. Sie sollten allmählich erkennen, dass diese Methode der Auseinandersetzung zwischen unabhängigen Staaten in der realen Außenpolitik regelmäßig scheitert.
Völlig entbehrt dieser hochfahrende Gestus jeglichen Verständnisses für die echten Schwierigkeiten, eine schwach entwickelte Volkswirtschaft von heute auf morgen der Konkurrenz einer hochentwickelten auszusetzen (Griechenland), oder für die Mühen ganz Ost- und Mitteleuropas, eine tief verunsicherte Gesellschaft mit rechtstaatlichen Institutionen und Verhaltensweisen auszustatten. (Die Deutschen haben nach zwölf Jahren NS-Diktatur mehr als drei Jahrzehnte dafür gebraucht.)
Gigantische Probleme Russlands
Besonders ärgerlich ist die fehlende Empathie gegenüber den gigantischen Problemen Russlands – immer noch ein Riesenreich, das in einer neuen Weltordnung einen angemessenen Platz sucht. Die Geschichte bietet wenige Vorbilder für gelungene Transformationen dieser Art. Wenigstens die Tatsache, dass Russland entscheidend war beim Zustandekommen der deutschen Wiedervereinigung und für den Gewaltverzicht in den Umbruchprozessen, hätte einen anderen Verlauf des deutsch-russischen Verhältnisses verdient gehabt.
Heute muss der Westen erleben, dass ein autoritär geführtes Land wie die VR China in den Augen von immer mehr Staaten die großen Welt- und Daseinsprobleme offenbar wirksamer zu bewältigen versteht als die eigene Führungsmacht. Ob es die Pandemie-Bekämpfung ist, die Tatsache, dass 800 Millionen Menschen der absoluten Armut entrissen wurden, das Entwicklungsmodell der Neuen Seidenstraße, die Anstrengungen im Klimaschutz und bei der Ausbildung einer CO2-neutralen Wirtschaft und Infrastruktur, der Erwerb eigener unabhängiger Kompetenzen im Internetbereich, die Fähigkeit, eigene Bündnisse und Freihandelszonen zu schmieden, und zwar ohne ständige moralische Bevormundung – das alles ist Grund genug, ins Grübeln über das westliche Fortschrittsversprechen zu kommen. Zwar ist das alles ohne unser Demokratieverständnis gekommen, auf das wir nicht verzichten wollen und werden. Der Verweis auf Tibet, die Uiguren und die Hongkong-Dissidenten ist nicht unberechtigt, reicht aber nicht hin, den Aufstiegs Chinas zu erklären oder gar zu verhindern.
Geliebte Annahme: Überlegenheit
Wenn die westlichen Demokratien nicht dauerhaft verlieren wollen, müssen sie endlich ihre Lage begreifen und über Fehlentwicklungen der letzten 30 Jahre diskutieren. Sie müssen sich von der geliebten Annahme der selbstverständlichen, unbestreitbaren Überlegenheit ihres Systems in Form und Inhalt verabschieden. Sie müssen ganz neu anfangen, ihre eigenen Feindbilder und Hysterien zu bekämpfen, die längst einen neuen Kalten Krieg vorbereiten. Sie müssen wieder lernen, diplomatische Kompromisse zu schließen: mit China, mit Russland, mit dem Iran, mit Griechenland, Polen und Ungarn. Sie müssen alles auf die Karte der Uno setzen. Sie müssen endlich den internationalen Konzernen, Banken und Hedgefonds, Google und Amazon, Steuern und Regeln verordnen, sie dürfen vor US-Sanktionen nicht länger kuschen. Sie müssen die Rüstungsausgaben begrenzen und umgehend mit einer weltweiten Entspannungspolitik ernst machen. Sie müssen sich neu als Demokratie erfinden.
Die Autorin ist ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Grünen-Politikerin, Mitglied in der Gruppe „Neubeginn“, einem Kreis linker Intellektueller, Schriftsteller und Politiker aus Ost und West (Ingo Schulze, Daniela Dahn, Michael Brie, Gabi Zimmer, Peter Brandt. Dieter Klein, Ludger Volmer). Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der Berliner Zeitung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
Warum fällt es unseren verantwortlichen Politikern so schwer diese Erklärungen ernst zu nehmen???