1,4 Mrd. € Schadensersatz erhält der schwedische Energiekonzern Vattenfall aufgrund des deutschen Ausstiegs aus der Atomenergie. Auch die deutschen Energieversorger erhalten Milliardenzahlungen (insgesamt 2,4 Mrd. €). Vattenfall hatte die Drohkulisse einer Klage aufgebaut, von der dann die deutschen Stromversorgen profitierten. Auch die überaus hohen Entschädigungen für den Braunkohleausstieg sind mit einem Verzicht der Konzerne auf Klagen verknüpft. Bei Vattenfall gilt nämlich eine Sonderregelung: Als einziger ausländischer Energieversorger in Deutschland konnte Vattenfall das Schiedsgericht des Energiecharta-Vertrags anrufen und seine Ansprüche dort geltend machen. 6,1 Mrd. € Schadensersatz wurden ursprünglich gefordert.
Der Energiecharta-Vertrag stellt einen Spezialfall von Investitionsschutzabkommen dar. Er soll ausländische Investitionen im Energiesektor fördern, wurde 1998 vereinbart und hat fast 60 Mitglieder. Klagen aus diesem Abkommen können aber nicht nur Investitionen fördern, sondern auch sinnvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel verhindern oder verzögern. Spanien wurde inzwischen mit rund 50 Klagen überzogen, weil es seine früher großzügigen Subventionen für Solaranlagen drastisch zurückgefahren hat.
Damit dürfte die Diskussion über den Nutzen und Schaden solcher Schutzklauseln und Schiedsgerichte neue Relevanz erhalten. Rückblickend betrachtet waren die Bemühungen der EU, ein Netz internationaler Freihandelsabkommen aufzubauen, wenig erfolgreich. CETA, der Vertrag mit Kanada, gilt nur vorläufig und in Teilen, weil einige Ratifizierungen noch ausstehen. Schiedsgericht, Finanzen und Steuern sind nicht in Kraft. TTIP, der Vertragsentwurf mit den USA, wurde von Donald Trump verworfen. Das JEFTA-Abkommen mit Japan ist seit 2019 in Kraft, doch gab es keine Einigung über eine Investitionsschutzklausel. Mit MERCOSUR (Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und sieben assoziierte Staaten) wurde jahrelang verhandelt, dann scheiterte der Entwurf im EU-Parlament. Die Verhandlungen über einen Vertrag mit China (CAI) wurden 2021 auf Beschluss des Europäischen Parlaments abgebrochen.
Solche Freihandelsabkommen sind stets Gegenstand heftiger Kontroversen. Die einen befürworten es, Zölle und andere Handelsbarrieren im grenzüberschreitenden Handel abzubauen und die Märkte auf beiden Seiten stärker zu öffnen. Die anderen sehen in den Abkommen die Gefahr, dass sozial-, umwelt-, verbraucher- und rechtspolitische Standards unterlaufen werden. Ein wesentlicher Streitpunkt sind die in den Verträgen enthaltenen Schiedsgerichte.
Dort ist vorgesehen, dass ausländische Unternehmen vor internationale private Schiedsgerichte ziehen können, wenn sie ihre Investitionen durch politische Entscheidungen in den Vertragsstaaten gefährdet sehen. Multinationale Unternehmen nutzen dieses Recht inzwischen als Machtinstrument. Immer wieder zwingen sie Vertragsstaaten durch Drohung mit hohen Schadensersatzklagen, Gesetze zu ändern und politische Zugeständnisse zu machen. So hat die Stadt Hamburg bei dem umstrittenen Kraftwerk Moorburg (Investor Vattenfall) einem Vergleich zugestimmt und seine Umweltauflagen entschärft.
Inzwischen gibt es Anwaltskanzleien, die auf solche Streitfälle spezialisiert sind, die auf eigene Faust mögliche Entschädigungsfälle recherchieren und die die Unternehmen zu Klagen ermuntern. Teilweise werden solche Klagen sogar von Dritten vorfinanziert, die im Erfolgsfall einen Teil der Entschädigungssumme kassieren, zumeist 30 % bis 50 %.
Von Befürwortern der Freihandelsabkommens wird gern betont, dass Deutschland seit 1960 schon 140 bilaterale Investitionsschutzabkommen abgeschlossen habe, vor allem mit Staaten der Dritten Welt. Diese Gleichsetzung ist falsch und wahrscheinlich bewusst irreführend. Jene Abkommen garantieren den ausländischen Investoren lediglich „eine faire und gleiche Behandlung“. Nur wenn sie gegenüber einheimischen Unternehmen diskriminiert werden, dürfen sie ein internationales Schiedsgericht anrufen. Gesetzliche Regelungen (wie Atomausstieg, Mindestlohn, Frackingverbot u.a.), die die Gewinnerwartungen des Investors schmälern, aber für inländische wie ausländische Unternehmen gleichermaßen gelten, sind dabei keine Rechtfertigung.
Ursprünglich war die Anrufung eines Schiedsgerichts nur den Vertragsstaaten und nicht den Unternehmen zugestanden. Erst später wurden die Verträge durch einen Bezug auf das internationale Schlichtungsorgan ICSID (International Centre for Settlement of Investment Disputes) ergänzt, so dass nun auch Investoren ein Schiedsgericht anrufen können.
Eine solche Regelung macht Sinn, vor allem bei Staaten mit unzulänglichen, korrupten oder politisch gelenkten Rechtssystemen. In Staaten mit funktionierender Justiz braucht man keine privaten Schiedsgerichte. Bedenklich ist zudem, dass die neuen Freihandelsabkommen weitergehende Regelungen vorsehen. Ausländische Investoren können bereits dann vor einem Schiedsgericht klagen, wenn Regierungsmaßnahmen oder Gesetzesänderungen ihre Geschäftstätigkeit und Planungen behindern und damit ihre Gewinnerwartungen beeinträchtigen. Dies soll selbst dann gelten, wenn die staatlichen Maßnahmen dem Schutz der Umwelt oder sozialen und anderen öffentlichen Interessen dienen.
Solche Schiedsgerichte arbeiten hart an der Grenze unseres demokratischen und rechtsstaatlichen Verständnisses. Allein schon die Tatsache, dass sie im Geheimen arbeiten, macht nachdenklich. Klagen dürfen nur ausländische Unternehmen, für die Staaten gibt es nur Pflichten und keine Rechte. Inländischen Unternehmen steht kein Klageweg offen, sie werden diskriminiert. Sogar Parallelklagen sind möglich, also gleichzeitig vor nationalen Gerichten und Schiedsgerichten. Noch unübersichtlicher wird die Thematik dadurch, dass in den Abkommen vorgesehen ist, nachträglich durch einen zwischenstaatlichen Handelsausschusses gemeinsame bindende Leitlinien zur Interpretation des Abkommens für die Schiedsgerichte zu erlassen, wiederum geheim und ohne parlamentarische Mitwirkung.
Die Investoren sehen in allem, was ihre Gewinnchancen mindert, einen unzulässigen und klagebegründenden Eingriff. Das liegt erstens an den weitgefassten Regeln. Die Abkommen versprechen umfassenden Schutz vor “Handelshemmnissen” und “Ungleichbehandlung”. Darunter fallen nicht nur Zölle und Steuern, sondern auch Beihilfen an Konkurrenten, Wirtschaftsförderung für andere Branchen, Regelungen zu Sozialversicherung, Arbeitsrecht und Verbraucherschutz, Lebensmittelrecht, Umweltauflagen, Sicherheitsstandards, Kapitalmarktregulierung oder Rechtsregeln im Schul-, Wissenschafts- und Kulturbereich.
Zweitens enthalten sie unbestimmte Rechtsbegriffe wie „faire und gerechte Behandlung“ oder „indirekte Enteignung“, womit Beanstandungen und Klagen erleichtert werden. Drittens sind Schiedssprüche für alle Verwaltungsebenen verbindlich: EU, Bund, Länder, Gemeinden. Sie entziehen diesen die Möglichkeit einer demokratisch legitimierten Politik, im Extremfall verhindern sie sogar Volksentscheide. Spannend würde es, wenn Investoren Schadensersatz fordern, weil die EU politisch begründete Sanktionen verhängt, die die uneingeschränkte wirtschaftliche Betätigung einengen.
Möglicherweise sorgt die Corona-Pandemie für weiteren Ärger. US-Kanzleien informieren bereits über Klagemöglichkeiten. Es ist nämlich fraglich, ob Schiedsgerichte im Streitfall das Argument der betroffenen Regierungen akzeptieren, sie hätten im Interesse der Gesundheit ihrer Bevölkerung gegen Investoreninteressen handeln müssen. Wie die Erfahrung gezeigt hat, wird diese Begründung nur anerkannt, wenn die Maßnahmen nachgewiesenermaßen nur im geringstmöglichen Maße ins Wirtschaftsleben eingegriffen haben.
Derzeit werden jährlich rund 50 Klagen vor Schiedsgerichten eingereicht (früher waren es deutlich weniger). Viele enden mit einem Vergleich, etwa die Hälfte gewinnen die Investoren, oft mit erschreckenden Urteilen. Hier einige Beispiele: Ecuador muss eine Milliarde US-Dollar wegen der Kündigung von Ölförderverträge im Amazonasgebiet zahlen. – Uruguay droht eine Schadensklage, weil es den Raucherschutz verschärft hat. – Ägypten wurde wegen Einführung eines Mindestlohns verklagt, El Salvador wegen Versagung einer Bergbaukonzession, Australien wegen der Gefahrenhinweispflicht auf Zigarettenschachteln, Mexiko wegen einer Steuer auf besonders süße Getränke und Argentinien, weil es einen Staatsauftrag wegen Korruption annulliert hat. Der deutsche Energiekonzern RWE klagt wegen des Kohleausstiegs gegen die Niederlande.
Bemerkenswert ist das Vorgehen eines kanadischen Ölunternehmen. Es klagt wegen des Frackingsverbots gegen den eigenen Staat, aus rechtlichen Gründen jedoch über seine Tochtergesellschaft in den USA. Inzwischen haben sich erste Staaten geweigert, auslaufende Verträge zu verlängern (u.a. Bolivien, Ecuador, Venezuela und Südafrika). Und die Forderungen, die Energiecharta zu kündigen, werden lauter.
Wegen der kritischen Punkte und des öffentlichen Widerstands hat es mehrere Ansätze zur Nachbesserung gegeben, z:B. die Reformvorschläge der europäischen sozialdemokratischen Handelsminister vom Februar 2015; das Konzept des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom Mai 2015 oder das Diskussionspapier der Europäischen Kommission vom Mai 2015. Einige Anregungen sind durchaus sinnvoll, so die Pflicht zur vorherigen außergerichtlichen Streitbeilegung, die Begrenzung des Schadensersatzes auf die tatsächlich entstandenen Verluste ohne Einbezug von Gewinnerwartungen oder die Schaffung eines ordentlichen internationalen Handelsgerichts.
Letztlich bleibt jedoch die zentrale Frage unbeantwortet, warum solche Investorenstreitigkeiten nicht der nationalen Rechtsprechung übertragen werden. Die Schiedsabkommen sind offenkundig eine unkontrollierbare private Paralleljustiz. Daher haben sich der Rechtsausschuss und der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments 2015 gegen Schiedsgerichte in jeder Form ausgesprochen und auf die nationalen Rechtswege verwiesen.
Hier lohnt ein Blick auf die Rechtslage. Es gibt nämlich verschiedene Punkte im EU-Recht und im Grundgesetz, an denen die derzeitige Ausgestaltung der Schiedsverfahren rechtlich scheitern könnte und denen man nachgehen sollte. So hat der Europäische Gerichtshof bereits entschieden, dass private Schiedsverfahren zwischen EU-Mitgliedstaaten unzulässig sind, weil dadurch europäische Gerichte verdrängt werden und weil die Auslegung von europäischem Recht nicht privaten Dritten überlassen werden darf. Daher haben inzwischen alle EU-Staaten 2020 ihre bilateralen Investitionsabkommen gekündigt. Wahrscheinlich gilt diese Position des EuGH auch für den Energiecharta-Vertrag. Zumindest vertritt der EuGH-Generalanwalt diese Ansicht. Die deutsche Zahlung an Vattenfall war also möglicherweise voreilig.
Das Argument des Vorrangs von EU-Recht könnte durchaus auch auf Klagen externer Investoren gegen EU-Mitgliedstaaten Anwendung finden. Und die Tatsache, dass nur ausländische, nicht aber inländische Unternehmen Schiedsverfahren anstrengen dürfen, ist eine klare Diskriminierung der Inländer und damit ein Verstoß gegen fairen und freien Handel.
Aus deutscher Sicht bietet sich eine Prüfung von Art. 24 des Grundgesetzes an, das die Übertragung von Hoheitsrechten (z.B. durch ein Freihandelsabkommen) nur für Streitigkeiten zwischen Staaten erlaubt. Bedenklich ist auch die Bestimmung solcher Abkommen, dass die Rücknahme von Deregulierungen und Privatisierungen untersagt ist bzw. unbezahlbar würde. Dies kollidiert offenbar mit den Artikeln 14 und 15 GG, in denen Enteignung und Vergesellschaftung geregelt werden.
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