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Tschernobyl-Fallout in Bonn – Konsequenzen?

Es war genau vor 35 Jahren – der 26. April 1986, an dem der Atomreaktor im Ukrainischen Tschernobyl explodierte. Tagelang hörte der Westen nichts davon, bis das schwedische Fersehen fünf Tage später von erhöhten Radioaktivitätswerten berichtete. Der folgende 3. Mai war ein sonniger Sonntag. Ich erinnere mich gut, dass ich bei herrlichem Wetter Motorrad gefahren bin – eine Tour in die Eifel und zurück und alles durch die frühlingshaft blühende Natur. Gegen 21.30 wieder in der Bonner Südstadt stellte ich die Yamaha hinterm Haus ab, wobei mich erste, vereinzelte Regentropfen trafen. Zur gleichen Zeit befanden sich etwa eine halbe Million Menschen in der Bonner Rheinaue, wo im Anschluß an zahlreiche Konzerte das Feuerwerk “Rhein in Flammen” begann. Sie ahnten nicht, dass sie wenige Minuten später von einem radioaktiven Fallout getroffen werden sollten.

Nachdem der damalige Bonner OB Daniels (CDU) das Festival eröffnet hatte, tobte rund um die zahlreichen Bühnen mit Bands der Bär. Niemand unter den Besucher*innen ahnte, dass die Auswirkungen des Reaktorunfalls im fernen Tschernobyl irgendetwas mit Bonn zu tun haben könnten.  Aber manche Verantwortliche bei den Hilfsorganisationen, die eigentlich die Sicherheit der Festbesucher garantieren sollten, wussten es besser. Wegen des Regens herrschte Alarm, berichtet Jahre später der Bonner Generalanzeiger: “Axel W. war damals als Techniker an der Bühne im Stadtgarten tätig. Als Ehrenamtler beim Technischen Hilfswerk (THW) hatte aber auch er die Warnhinweise an die Einsatzkräfte mitbekommen: „Die Kollegen wurden angewiesen, mit kompletter Kluft unter die Dusche zu gehen, dann alles auszuziehen, die Wäsche zweimal zu waschen und sich selbst auch ordentlich abzuduschen“, erinnert er sich.”  Ob Technisches Hilfswerk oder Rettungskräfte – sie alle wurden vorgewarnt, während wohl niemand in der Stadtverwaltung erwogen hatte, “Rhein in Flammen” abzusagen. Denn was um 21.30 mit ein paar Tropfen begann, steigerte sich zu einem wolkenbruchartigen Gewitter, das nicht nur die gesamten Rheinauen in eine knöcheltiefe Matschwiese versetzte, sondern die Kleidung nahezu aller Teilneher*innen komplett durchnässte.  Mit heftigem radioaktivem Fallout, wie später bekannt wurde.

Wie konnte es dazu kommen?

Seit dem 28. 4. 1986 kamen die ersten Pressemeldungen über einen Atomunfall, die “Tagesschau” berichtete über einen havarierten Reaktor in der Ukraine und Radioaktivitätsmessungen in Skandinavien. Seit Donnerstag war bekannt, dass die radioaktive Wolke, die sich aufgrund einer stabilen Hochdruckwetterlage über dem europäischen Kontinent gebildet hatte, langsam von der Ukraine nach Nordost bewegte.  Zu diesem Zeitpunkt war nicht bekannt, dass sich die strahlungsreichen Teilchen, die der Reaktorbrand bis in die Stratosphäre gejagt hatte, sich in Richtung Weissrussland, Finnland, Skandinavien und westlich über Ungarn die Tschechoslowakei bis nach Bayern und über die DDR ausbreiteten. Das, was sich wegen des stabil schönen Wetters der ganzen Woche nach dem Atomunfall europaweit ausbreiten konnte, begann erst am Wochenende abzuregnen. Die Behörden waren informiert – das erklärt die Vorsichtsmaßnahmen, die den Hilfsdiensten mitgeteilt wurden. Aber warum wurde “Rhein in Flammen” nicht abgesagt? Dieses Festival gehört wie der 1. FC Köln zur Domstadt zur Identität der Stadt Bonn. So etwas sagt eine Bundeshauptstadt Bonn wohl nur ab, wenn ihr der Himmel auf den Kopf fällt.

Eine Frage der Einschätzung

Als sich die Radioaktivität nach dem Reaktorbrand über den ganzen Kontinent ausbreitete, war über Ausbreitungsgeschwindigkeit, die Stärke und Gefährlichkeit der Radioaktivität wenig bekannt. Zwar waren die Strahlungswerte zweifelsohne exorbitant und um ein vielfaches höher als die “normale” radioaktive Belastung durch in die Umwelt freigesetzte Isotope. Die ist an vielen Stellen erhöht, etwa in der Nähe von Bergbau. So weist etwa Köln regelmäßig höhere Radioaktivitätswerte als andere Großstädte auf, weil die Feinstaubbelastung durch den Braunkohletagebau eine Rolle spielt. Orientierungswerte waren in den ersten Wochen nach dem Unfall lediglich Vergleichswerte aus den 60er Jahren, als die Radioaktivität der Atombombentests von USA und UdSSR in der Atmosphäre in Form von Strahlungwolken auch über der Bundesrepublik Deutschland gemessen werden konnten – die 1986er Werte lagen darüber – aber noch war unklar, was das bedeutete, welche Konsequenzen gezogen werden mussten.

Verblüffende Parallelen zur Pandemie

Die Reaktionen der Bundesregierung bestanden zunächst in einer vollkommenen Leugnung jeglicher Gefahr. Bundesinnenminister Zimmermann (CSU) bramabasierte etwas davon, dass “zu keiner Zeit eine Gefahr für die Bevölkerung” bestanden habe und “höchstens 50 km im Umkreis von Tschernobyl” Vertrahlungen zu befürchten seien. Bund und Länder waren auf einen solchen Unfall komplett unvorbereitet – bis auf ein Netz von Meßstellen zur Radioaktivität, das das Bundesinnenministerium, damals auch für Umwelt zuständig, unter Gerhart Baum bundesweit insgeheim installiert hatte. Dieses lieferte erste Meßwerte, die vor allem in Süddeutschland im Schnitt höher ausfielen. Deshalb waren die Reaktionen, Maßnahmen und Grenzwerte der Bundesländer ähnlich wie in der Corona-Pandemie völlig unterschiedlich. Der Bund legte den Grenzwert für Milch auf 500 Bequerel fest, in Schleswig-Holstein musste Milch über 50 Bequerel bereits vernichtet werden. Dort wurden Fahrzeuge aus dem Osten auf Radioaktivität überprüft und jeder 20. LKW strahlte so stark, dass er dekontaminiert werden musste. Andere Bundesländer kontrollierten nicht. In der DDR- das sei nur am Rande erwähnt, lagen die Grenzwerte um ein Vielfaches höher.

Flickenteppich der Werte – unterschiedliche Beurteilungen

Bis in den Herbst 1986 suchten die politisch Verantwortlichen, aber auch die Wissenschaft nach Wegen, die Folgen des Super-GAU einzuschätzen und Konsequenzen zu ziehen. Viele Strahlungsverharmloser saßen damals auf der Regierungsbank. Während etwa die Grünen im Bundestag ein bundesweites Nottelefon einrichteten, bei dem Anrufende sich über Strahlungswerte, Schutzmaßnahmen und z.B. besonders belastete Nahrungsmittel informieren konnten, dominierten auf der Regierungsbank und in Teilen der Wissenschaft  die Interessen der Atomindustrie. Die Strahlenschutzkommission – das damalige Pendant zum RKI in der Pandemie – erklärte die Folgen der Strahlung für weitestgehend unbedenklich. Eine Bundespressekonferenz im Mai, die ich beobachten konnte, brachte eine Wende. Der Vorsitzende der Strahlenschutzkommission verstieg sich zur Behauptung, die Werte bei Milch und Muttermilch seinen irrelevant, weil ja sowieso fast alle Säuglinge Trockenmilchpulver bekämen. Ein irakischer Korrespondent – wohl gerade Vater geworden – hakte nach, woher er denn das wisse, was den Professor zum Stammeln brachte.

Radioaktivitätsleugner in Regierung, Wissenschaft und Bevölkerung

Nacheinander wachten die vorher gelangweilten Journalist*innen auf und bombardierten die Kommission fortan  mit kritischen Fragen. Zeitgleich erarbeiteten die wenige Jahre zuvor gegründeten  Öko-Institute alternative wissenschaftliche Grundlagen zu Radioaktivität und ihren Auswirkungen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Auswirkungen von Tschernobyl in ihrer ganzen Tragweite deutlich und allgemein anerkannt wurden. Und es bedurfte – trotz zwischenzeitlich erfolgreichem Start ins Zeitalter der Wind- und Solarkraft- einer weiteren Atomkatastrophe, dem Super-GAU von Fukushima, um die Verantwortlichen in der Regierung, in diesem Fall die Physikerin Angela Merkel, zum endgültigen Ausstieg aus der nicht beherrschbaren Hochrisikotechnologie zu motivieren. Gleichwohl sitzen in vielen Regierungen der Erde immer noch genügend Leugner der Gefahren und Verharmloser der Risiken der Atomkraft, neuerdings auch wieder in Deutschland, die unter dem Deckmantel angeblicher CO²-Einsparung den Wiedereinstieg in den Irrsinn der Atomkraft betreiben.

Was haben Coronaleugner, Strahlungsrelativierer mit  Digitalnaive gemeinsam?

Obwohl polemisch klingend, ist die Frage sehr ernsthaft und wertfrei gemeint. Offensichtlich scheint es in allen diesen Fällen den Menschen schwer zu fallen, Phänomene, die sie nicht sehen, hören, fühlen, oder riechen können, als Bedrohung zu erkennen und ernst zu nehmen. Radioaktivität ist mit menschlichen Sinnen nicht aufnehmbar, es bedarf der Unterstützung von technischen Geräten und es bedarf insbesondere bei der Einschätzung ihrer Folgen umfassender wissenschaftlicher Analyse. Bei der Corona-Pandemie ist es nicht anders. Wer nicht regelmäßig auf Intensivstationen oder in Lungenkliniken verkehrt und auch sonst keine Kontakte zu Erkrankten hat, kann Gefahr laufen, den Verschwörungserzählungen der Corona-Leugner auf den Leim zu gehen und die Warnungen der Regierungen für völlig überzogen zu halten. Ein ganz ähnliches Phänomen gilt übrigens für naive Smartphone-Nutzer*innen, die ihre persönlichen Daten auf (a)sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder TikTok etc. posten und sich keinerlei Gedanken darüber machen, dass sie von Datenkraken mißbraucht, ihre Gewohnheiten, Konsumwünsche bis hin zur sexuellen Orientierung und politischen Ansicht ausgespäht, zu Objekten von kommerzieller und politischer Fremdbestimmung gemacht werden.

 Nicht sinnlich wahrnehmbare Bedrohungen: Ein ernstes gesellschaftliches Problem?

Unter diesem Blickwinkel betrachtet, stellt sich die Frage, ob die Bearbeitung gesellschaftlicher Bedrohungen durch nicht “erfühlbare” Phänomene nicht unter einer ganz anderen Perspektive angegangen werden muss:

Wie kann die offensichtlich durch glückliche Umstände der starken Anti-AKW-Bewegung und einer rationalen, ökonomischen Erkenntnis beruhende Einsicht in Deutschland, dass Atomkraft nicht nur sicherheitspolitisch unbeherrschbar, sondern auch völlig unökonomisch ist, sich weltweit durchsetzen?

Wie können die in der rational denkenden Mehrheitsgesellschaft als “Corona-Leugner” – sehen wir von den böswilligen, führenden Agitatoren und Funktionären ab – wahrgenommenen Spinner oder Fehlgeleiteten, im Internet manipulierten Menschen wieder erreicht und in demokratische Diskurse zurückgeführt werden? Kann es neben der Manipulationswirkung (a)sozialer Netzwerke auch eine Mitverantwortung der Regierung durch mangelhafte Überzeugungskraft fehlgeschlagener Aufklärung und Ansprache der entsprechenden Gruppen geben?

Könnte es sein, dass es gerade die indifferente und zögerliche Haltung der Regierungen ist, die Nutzer*innen digitaler Medien sowohl durch Aufklärung, Bildung, als auch entsprechende Gesetze, die die Aktivitäten von Datenkraken wie Facebook, Amazon, Google, und vielen anderen nicht konsequent zu unterbinden, dafür ursächlich ist, dass die vielgenannte Diskrepanz zwischen Datenschutz und Bereitschaft zur Selbstenteignung der eigenen Daten besteht? Dass angeblich dieselben Menschen den Datenschutz einfordern (z.B. bei der Corona-App), gleichzeitig bereit seien, auf den (a)sozialen Netzwerken alle möglichen Daten preiszugeben, was sich bei genauerem Hinsehen zumeist als Unwissenheit entpuppt?

Und zu guter letzt: Gilt all dies trotz deutlicherer Anzeichen auch für den Klimawandel und seine Leugner?

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Helmut Luda

    Nun, werter Roland Appel,

    Sie fragen „Wie kann die … Einsicht in Deutschland, dass Atomkraft nicht nur sicherheitspolitisch unbeherrschbar, sondern auch völlig unökonomisch ist, sich weltweit durchsetzen?“

    Nun, die deutschen Steuerzahler werden wohl über die EU den Neubau weiterer AKW mitfinanzieren, denn:

    “Während in Tschernobyl der Atomkatastrophe von 1986 gedacht wird, streitet die EU weiter über Kernkraft. Paris hält sie für unverzichtbar und nachhaltig, was EU-Fördermittel bedeuten würde.”

    finden Sie hier:

    https://www.tagesschau.de/ausland/europa/deutschland-frankreich-atomkraft-101.html

    ….gilt i. Ü. auch für Polen und Tschechien…

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