Artikel 138 der Weimarer Verfassung von 1919 bestimmt: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“ Art. 140 des Grundgesetzes besagt, dass dieser Verfassungsauftrag fortbesteht. Anlass für die Staatsleistungen war die Tatsache, dass die Kirchen Anfang des 19. Jahrhunderts viele ihrer Besitztümer und Ländereien verloren hatten, in der Regel gegen vertraglich zugesicherte Entschädigungszahlungen.

Mehr als einhundert Jahre lang hat sich nichts getan. Weder CDU noch SPD trauten sich an diese Thematik heran. Über die Gründe mag man spekulieren. Wahrscheinlich wollten sich die Parteien nicht mit den Kirchen anlegen. Zudem schreckt die Vorgabe, dass die Staatsleistungen „abgelöst“ werden sollen, was Konflikte über die Höhe von Entschädigungszahlungen erwarten lässt. Letztlich half der Hinweis, dass die Weimarer Verfassung keine Frist vorgegeben hatte.

Also zahlen die Bundesländer bis heute an die Kirchen. Allein seit 1949 (für die Zeit davor fehlen Angaben) sind rund 19 Mrd. € an die Kirchen geflossen. Im Jahre 2020 betrugen die Zahlungen 550 Mio. €, übrigens aufgebracht aus öffentlichen Mitteln, also letztlich von allen Steuerzahlern finanziert, ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit.

Die Staatsleistungen sind nicht die einzigen Privilegien der Kirchen. 1919 wurde zwar die Staatskirche abgeschafft, doch gewähren das Konkordat mit der katholischen und vergleichbare Verträge mit der evangelischen Kirche eine Reihe von rechtlichen und faktischen Sonderrechten. Daran konnte bislang auch eine entgegenstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nichts ändern: „Das Grundgesetz … legt dem Staat als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.“ (BverfG vom 14.12.1965)

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Da gibt es vor allem die Kirchensteuer, die von staatlichen Stellen anhand der persönlichen Steuerdaten ermittelt und zugunsten der Kirchen eingezogen wird. Im Jahre 2018 waren das 12,4 Mrd. €. Ähnliche Regelungen gibt es nur in wenigen anderen Staaten. Die Kirchen betreiben eigene, weitestgehend staatlich finanzierte Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäuser, Jugend-, Alten- und Pflegeheime, in denen sie ihr eigenes Arbeits- und Sozialrecht praktizieren dürfen. Sie haben Sitze in der Ethikkommission, in Rundfunkräten und vielen anderen Gremien. Es gibt christliche Feiertage, Religionsunterricht und kirchliche Fakultäten an den Universitäten, staatlich finanziert und mit Vetorecht der Kirchen bei der Besetzung der Lehrstühle.

Die Kirchen genießen Befreiungen bei der Einkommen- und Erbschaftsteuer und bei den Grundbesitzabgaben sowie Sonderregeln im Eigentums- und im Strafrecht.. Sie erhalten kostenlose Sendezeiten im Rundfunk und Fernsehen. Der Staat gestattet und finanziert ihre Militär-, Polizei-, Gefängnis- und Krankenhausseelsorge. Bemerkenswert ist gewiss auch, dass der Austritt aus der Kirche (in die man nie willentlich eingetreten ist) nur als Verwaltungsakt und nicht per Kündigung erfolgen kann.

Nun scheint sich in der Frage der Ablösung der Staatsleistungen etwas zu bewegen. Dem von Grünen, FDP und Linken gemeinsam getragenen Bundestagsantrag „Grundsätzegesetz zur Ablösung der Staatsleistungen“ zufolge soll eine rechtssichere Ablösung der Staatsleistungen erfolgen. Als Entschädigung sollen die Kirchen – einmalig oder in Raten – 10,6 Mrd. € erhalten. Bis zur vollständigen Bezahlung dieses Betrags, die sich auf bis zu 20 Jahre erstrecken darf, sind die Staatsleistungen wie bisher zu erbringen.

Der Antrag war zunächst am 12. April Thema einer Anhörung im Innenausschuss. Die eingeladenen sieben Verfassungs- und Kirchenrechtler begrüßten den vorgelegten Plan und empfahlen die Annahme des Antrags. Einige Experten regten jedoch an, die Höhe der Entschädigung Verhandlungen zwischen den Kirchen und den Ländern zu überlassen.

Bei der 1. Lesung im Bundestag am 6. Mai zeigten Redner von Union und SPD zwar Verständnis und Anerkennung für den Antrag, doch wurde dieser in namentlicher Abstimmung mit 444 zu 179 Stimmen abgelehnt. CDU/SPD kündigten eine erneute Beratung in der nächsten Legislaturperiode unter Beteiligung der Länder an. Ein Antrag der AfD, der eine ersatzlose Streichung der Staatsleistungen ab 2027 vorsah, wurde von allen anderen Fraktionen zurückgewiesen.

Die Befürchtung der Oppositionsparteien, dass das Thema erneut ausgesessen werden soll, ist nicht abwegig. In der Vergangenheit sind bereits mehrere Versuche gescheitert, die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen. Der Verfassungsauftrag muss nach 102 Jahren endlich erfüllt werden. Angesichts der immensen Zahlungen, die in diesem Zeitraum erfolgt sind, ist eine Ablösungsentschädigung nicht mehr erforderlich. Die Zahlung der Staatsleistungen sollte daher sofort beendet werden.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.