Das Friedrichshafener Zeppelin-Museum versteht sich als Museum neuen Typs. Seine jüngste Schau dreht sich um die Grenzen von Staatlichkeit
Eine schmale Glasröhre, gefüllt mit nichts weiter als klarem Wasser, auf schwarzem Grund an einer Betonwand befestigt: Nevin Aladağs Werk „Border Sampling“ wirkt auf den ersten Blick unscheinbar und minimalistisch. Das kleine Objekt hat es freilich in sich. Die Kanüle hat die Künstlerin vor ein paar Jahren mit Wasser gefüllt, das sie bei einer Recherche mit Seeforschern an der tiefsten Stelle des Bodensees gewonnen hat.

Das 63 Kilometer lange Binnengewässer im Alpenvorland ist ein völkerrechtliches Unikum. Obwohl drei Länder an es grenzen, ist es die einzige Gegend in Europa, in der seit 1648 nie klare Grenzen zwischen den Nachbarstaaten festgelegt wurden. Zu wem, so ließe sich Aladağs Arbeit interpretieren, gehört also das Wasser in einem Grenzgewässer? Können klar definierte Grenzlinien im Fluss sein? Oder führt das fließende Element Wasser die Grenze ad absurdum?

Dass das Friedrichshafener Zeppelin-Museum mit seiner Schau „Beyond States“ eine Ausstellung zum Thema Staatlichkeit organisiert, könnte auf den ersten Blick verwundern. Liegt aber angesichts des transitorischen Charakters des Bodensees auf der Hand. Auch die Hardware des Museums steht dafür. Denn frühestens mit den Brüdern Montgolfier, spätestens aber mit der Erfindung des Zeppelins setzt ein Prozess der Deterritorialisierung von Staatlichkeit ein, der sich bis heute fortsetzt. Die Ausstellung mit zehn künstlerischen Positionen und zahlreichen historischen Exponaten ist die jüngste in einer Reihe, mit der das immer noch etwas unter dem Radar der Aufmerksamkeit segelnde Museum an zeitgenössische Diskurse anzuknüpfen versucht.

Als die Kunsthistorikerin Claudia Emmert 2014 die Direktorin des Hauses mit der weltweit größten Sammlung zur Luftschifffahrt übernahm, wollte sie nicht nur brav das Erbe von Friedrich August, Graf von Zeppelin verwalten, dem geltungs- und innovationssüchtigen Sohn der Stadt.

Seit 1996 lagern die Bestände der alten Zeppelinsammlung des 1912 gegründeten, im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstörten Bodensee-Museums in dem schließlich von Star-Architekt HG Merz zum modernen Zeppelin-Museum umgestalteten alten Hafenbahnhof der 60.000 Seelen zählenden Seestadt. Zusammen mit der über 4.000 Werke großen Kunstsammlung machen sie das Haus zu einem spannenden Zwei­spar­ten­haus an der Schnittstelle von Kunst und Technik.

Mit prononcierten Themenschauen versucht Emmert, die sich zuvor als Gründungsdirektorin des Kunstpalais Erlangen einen Namen machte, diesen gewaltigen kulturhistorischen Fundus beherzt nach vorne zu denken. Schließlich steht dieses Gefährt nicht nur für Kunst- und Technikgeschichte, sondern taugt auch als Metapher: Für eine gegen alle Widerstände realisierte Vision. „Fetisch Zukunft“ hat die couragierte Kuratorin denn auch die kommende Ausstellung genannt, die aus Anlass des 25. Museumsjubiläums die Frage nach den „Utopien der dritten Dimension“ auffächern soll.

Auch in der jetzigen Schau gelingt ihr der Sprung vom Konkreten zum Abstrakten. Als 1908 und 1913 das Zeppelin-Luftschiff LZ 4 während seiner Erstflüge über Straßburg kreiste, musste Frankreich das Gefährt als eine Infragestellung seiner Grenzen empfinden. Ein schmaler Brieföffner mit dem Motiv des Flugs und einem Porträt des Grafen avancierte in Deutschland schnell zu einem nationalen Souvenir. Fortan wurde der Zeppelin zu einer Kriegs- und Propaganda-Ikone.

Eine deutsche Postkarte zeigt triumphal den verheerenden Terror, den Zeppelinbomben bei den deutschen Luftangriffen auf Antwerpen 1914 anrichteten. Auf der Online-Plattform debatorial können Be­su­che­r:in­nen über Fragen wie den entgrenzten Luftkrieg oder Staatenlosigkeit diskutieren.

„Wir brauchen mehr Streit. Demokratie lebt davon“, begründet Direktorin Emmert dieses in Deutschland einzigartige Tool für ein interaktives Museum der Zukunft. „Aneignungs- und Diskursorte“ nennt sie die Häuser gern.

Zur Gegenwart unklarer Grenzen schließt die Ausstellung dann mit der Arbeit „Mare Clausum“ auf. Das Video der Gruppen Forensic Oceanography und Forensic Architecture rekonstruiert, wie See­not­helfer von Sea-Watch und die libysche Küstenwache sich im November 2017 einen dramatischen Kampf um die Rettung von 130 Mi­gran­t:in­nen lieferten, die nach Europa fliehen wollten.

Wege in eine Zukunft jenseits von Staatlichkeit kann natürlich auch diese Ausstellung nicht liefern. Die Idee autonomer Mikrostaaten auf schwimmenden Plattformen im Ozean, wie sie Jacob Hurwitz-Goodman und Daniel Keller in ihrem Video über die 2008 gegründete Bewegung „Seasteading Institute“ zeigen, ist für die breite Masse natürlich unerschwinglich. Auch „New World Summit“, der bühnengleiche Rundbau von Jonas Staals 2012 gegründetem Parlament für staatenlose Organisationen mit Sitz in Brüssel, ist höchstens eine Zwischenetappe auf dem Weg zu einer echten Welt „be­yond states“, wie sie die Schau anruft.

Bis es zu der wahrhaft grenzenlosen Assoziation aller Erdenkinder kommen wird, müssen wir uns also mit der digitalen Multinationalität begnügen, die James Bridles Installation „Citizen Ex“ kenntlich macht. Sein downloadbares Netzwerk zeichnet die in den unterschiedlichsten Ländern und juristischen Geltungsbereichen angesiedelten Stationen nach, die User ansteuern und passieren, wenn sie sich im Internet bewegen.

Eine einzige Suchanfrage kann eine „Algorithmic Citizenship“ kreieren, die zu 56,42 Prozent in den USA, 25,53 Prozent in Großbritannien, 7,51 Prozent in China, 1,62 Prozent in den Niederlanden, 1,22 Prozent in Deutschland, 1,01 Prozent in Benin, 0,61 Prozent in Israel, 0,2 Prozent in Kanada und 3,64 Prozent in unbekannten Gefilden ressortiert. Zumindest so kommen die realen Grenzen schon mal ins Schwimmen.

Bis 7. November, Zeppelin-Museum, Friedrichshafen
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).