von Valentin Sagvosdkin (Vorwort: Jupp Legrand) / Otto Brenner Stiftung
Zur Pluralität der wirtschaftsjournalistischen Ausbildung in Deutschland
Vorwort
Glaubt man einem Bericht auf tagesschau.de aus dem Frühjahr 2021, befinden wir uns gegenwärtig in einer „leisen, professionellen und gleichzeitig hocheffizienten Revolution“: Die Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik unter Präsident Joe Biden mit ihren Billionen schweren Investitionsprogrammen stelle das bisherige amerikanische Wirtschaftssystem und die vorherrschende Wirtschaftstheorie „vom Kopf auf die Füße“, schreibt Arthur Landwehr aus dem Studio der ARD in Washington. Auch der langjährige Chefökonom der Financial Times Deutschland, Thomas Fricke, frohlockt in einer Spiegel-Kolumne Anfang April, dass von Biden nun endlich das „marktliberale Wirtschaftsdogma“ entsorgt wird, denn schließlich habe es keine „Wirtschaftsideologie gegeben […], die zugleich so sehr danebenlag und so dramatische Schäden verursacht hat“. Nicht zuletzt betont auch der US-Präsident selbst in seiner ersten Pressekonferenz: „Ich will einen umfassenden Paradigmenwechsel“.
Auf den Wirtschaftsjournalismus, so lässt sich schlussfolgern, dürften in den nächsten Jahren also besonders arbeitsreiche und spannende Zeiten mit vielen neuen Herausforderungen zukommen. Zu vermuten ist, dass dieser Wandel nach und nach auch in Europa um sich greifen wird – zumal die Corona-Krise und der Klimawandel dazu beitragen, die Doktrin vom alles selbstregulierenden Markt als Illusion zu entlarven. Der Wirtschaftsjournalismus sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Geschichte zu beschreiben, während sie noch dampft: Die zu erwartenden großen wirtschaftspolitischen und -theoretischen Umbrüche müssen für die Leser*innen verständlich dargestellt, kenntnisreich eingeordnet, historisch kontextualisiert und in profunden Kommentaren bewertet werden. Sind angehende Wirtschaftsjournalist*innen für diese verantwortungsvolle und komplexe Aufgabe gerüstet? Wird den Leitartikler*innen von morgen schon heute ein breites Bild von Wirtschaft vermittelt, das eine Anpassung auf neue Gegebenheiten erleichtert? Oder werden sie zu Expert*innen ebenjenes Dogmas ausgebildet, das nach Einschätzung vieler soeben zu Grabe getragen wird?
Die Otto Brenner Stiftung hat mit Valentin Sagvosdkin einen kompetenten und engagierten Wissenschaftler für die Untersuchung dieser Fragen gewonnen. Der Forscher der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung hat die wirtschaftsjournalistische Ausbildung in Deutschland mit Blick auf die Vielfalt der vermittelten Wirtschaftstheorien und -paradigmen analysiert sowie die Rolle, die reflexive Inhalte wie wirtschaftshistorische oder -ethische Fragestellungen einnehmen, untersucht. Seine Auswertung von mehr als 300 Lehrveranstaltungen aus über 17 Studiengängen von neun Ausbildungsstätten liefert eine Bestandsaufnahme, die als Weckruf verstanden werden muss. Durchschnittlich 80 Prozent der untersuchten Inhalte vermitteln eine einzige, spezifische Sichtweise auf Wirtschaft, die unter der Bezeichnung „orthodox“ als wirtschaftswissenschaftliches Fundament des von Fricke benannten „wirtschaftsliberalen Dogmas“ gelten muss. Von einer zukunftsfesten Vermittlung vielfältiger Perspektiven kann, von Ausnahmen abgesehen, definitiv nicht gesprochen werden. Auch um die Reflexivität der Lehrinhalte ist es nicht gut bestellt: Meist liegt der Anteil von Fächern wie Ideen- oder Wirtschaftsgeschichte, die zur historischen Kontextualisierung aktueller Umbrüche befähigen, deutlich unter 20 Prozent, in einigen Ausbildungsgängen sind sie überhaupt nicht vorgesehen. Die wirtschaftsjournalistischen Ausbildungsstätten, so das Fazit der Studie, sind gut beraten, über eine Erweiterung ihrer Lehrinhalte nachdenken und auf größere Vielfalt in der Vermittlung wirtschaftswissenschaftlicher Perspektiven zu setzen. Nur so können angehende Journalist*innen mit Inhalten vertraut gemacht werden, die auch „wirtschaftspolitische Revolutionen“ überdauern.
Dass dies keine leichte Aufgabe wird, hängt auch mit dem Zustand der wissenschaftlichen Bezugsdisziplin des Wirtschaftsjournalismus – den Wirtschaftswissenschaften – zusammen. Schon in unserer kritischen Untersuchung der Berichterstattung zur Finanzmarktkrise wurde vor über elf Jahren konstatiert: „Journalismus ist […] sehr abhängig von dem vielfältigen Sachverstand der dazu gehörenden Wissenschaft [und] die deutsche Volkswirtschaft ist in ihrem Denken und Forschen sehr homogen neoliberal“. Die aktuelle Studie zeigt nun, dass diese (neo)liberale Dominanz auch heute noch besteht – allerdings gibt es auch in den Wirtschaftswissenschaften Anzeichen „leiser“ und „professioneller“ Revolutionen in Form von neuen Theorien, die die orthodoxe Sichtweise infrage stellen.
Besonders hervorzuheben ist, dass unser Autor Valentin Sagvosdkin die kritische Analyse der Journalist*innenausbildung mit der Debatte um eine Pluralisierung der Wirtschaftswissenschaften in einen konstruktiven Dialog bringt. Dieser Ansatz sollte aus Sicht von Stiftung und Autor zukünftig verstärkt und in die journalistische (Ausbildungs-) Praxis überführt werden. Die vorliegende Studie möchte einen Teil dazu beitragen, um den Wirtschaftsjournalismus von der ökonomischen Orthodoxie zu emanzipieren und die angehenden Journalist*innen für die vielfältigen – leisen und lauten – Transformationen der Zukunft zu stärken.
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7. Zusammenfassung, Fazit, Ausblick
Wirtschaftsjournalismus kommt – nicht zuletzt angesichts gesellschaftlicher Krisen, die immer und oftmals sehr zentral mit wirtschaftlichen Aspekten verwoben sind – die wichtige Rolle zu, mit vielfältigen und kontroversen Perspektiven zu einer fundierten Meinungsbildung und damit lebendigen Demokratie beizutragen. Der wirtschaftspolitische Journalismus steht jedoch in der Kritik, dabei nicht ausgewogen und vielfältig genug zu berichten und wenigen prominenten (männlichen) Ökonomen als „Experten“ bestimmter Theorieschulen eine Diskurshoheit einzuräumen. Gleichzeitig gibt es in der Bezugsdisziplin der Wirtschaftswissenschaft, aus der wichtige Interviewpartner*innen, Quellen und Akteure wirtschaftsjournalistischer Berichterstattung kommen, seit nun zwei Jahrzehnten eine Pluralismus-Debatte: Empirische Befunde konstatieren eine mangelnde Pluralität in der volkswirtschaftlichen Lehre, in Studien zum Einfluss von Studium und Standardlehrbüchern wird gar der Vorwurf der theoretischen Einseitigkeit sowie der Beeinflussung und Indoktrination der Studieren-den erhoben.
Die vorliegende Studie führt diese Diskurse zusammen und wirft die folgende Frage auf: Wie (wirtschaftswissenschaftlich) plural und reflexiv werden Wirtschaftsjournalist*innen qualifiziert?
Zugänge in den Wirtschaftsjournalismus
Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurden im Rahmen der vorliegenden Studie zunächst idealtypisch vier Zugänge in den Wirtschaftsjournalismus unterschieden: (1) Ein (volkswirtschaftliches) Studium mit anschließendem Volontariat, (2) die Ausbildung an Journalist*innenschulen (für Wirtschafts-journalismus), (3) fachspezifische Bachelorstudiengänge und (4) fachspezifische Masterstudiengänge. Der erste Zugang ist im Hinblick auf volkswirtschaftliche Studiengänge in Deutschland unter anderem mit der Econ-Plus-Studie bereits relativ gut erforscht (Beckenbach et al. 2016), wenngleich in den letzten Jahren neue Studienangebote mit pluralem Anspruch entstanden sind, die jedoch (bisher) nicht direkt mit einer wirtschaftsjournalistischen Ausbildung gekoppelt sind. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden vor allem die Zugänge (3) und (4) angegangen, teilweise sind die Ergebnisse aber auch für die Zugänge (1) und (2) bedeutsam, sodass der wesentliche Teil der Forschungslücke hier geschlossen wird. Dabei wäre es wünschenswert, die untersuchten Studiengänge zukünftig mit anderen Forschungsmethoden nochmals vertiefter zu betrachten. Die vorliegende Studie hat untersucht, welche Art wirtschaftswissenschaftlichen Fachwissens in Studiengängen vermittelt wird, die direkt für die Qualifizierung von Wirtschaftsjournalist*innen relevant sind – entweder, weil es sich um Studiengänge mit wirtschaftsjournalistischen Inhalten handelt oder weil es volkswirtschaftliche Studiengänge sind, die unmittelbar für die wirtschaftsjournalistische Qualifizierung bedeutsam sind.
Besondere Relevanz der Kölner Journalistenschule
Im Hinblick auf die qualitative Relevanz der Zugänge gibt es einen wachsenden Trend in Richtung Studiengänge. Besonders relevant scheint zudem die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft zu sein, wie zumindest eine exemplarische Auswertung der Lebensläufe von Wirtschaftsredakteur*in-der F.A.Z im Rahmen der vorliegenden Arbeit nahelegt. Des Weiteren zeigt die Liste der Absolvent*innen eine starke Reichweitenrelevanz der Kölner Journalistenschule, wobei für die meisten anderen Zugänge keine oder wenig vergleichbare Daten vorliegen. Durch die parallel zur Ausbildung zu absolvierenden Studiengänge an der Universität zu Köln wurde dieser Zugang hier indirekt mit untersucht.
Relevante Studiengänge untersucht
Untersuchungsgegenstand waren Modulhandbücher mit (volks-) wirtschaftlichem Bezug aus den für die wirtschaftsjournalistische Qualifizierung bedeutsamen Studiengängen (sowie in einem Fall ergänzend ein Gliederungsdokument sowie VWL-Klausur-Aufgaben). Das Material wurde zum einen im Hinblick auf „Pluralität“ und zum anderen im Hinblick auf „Reflexivität“ untersucht:
Für die Analyse der Pluralität konnte ein Sample von 303 relevanten Modulbeschreibungen aus 17 Studienzugängen von sechs Universitäten und drei Hochschulen herangezogen werden, die Einblick in die Inhalte der Lehrveranstaltungen geben. Aufgrund von Überschneidungen wurden zu besseren Übersichtlichkeit jedoch nur 15 Zugänge unterschieden. In Anlehnung an die Econ-Plus-Studie 2016 wurden zwei voneinander unabhängige Kategorisierungen von Pluralität verwendet (Mainstreams vs. Sidestream sowie eine kritischere Konzeption Orthodox vs. Heterodox) und mittels Text-Mining-Analyse nach jeweiligen Begriffstreffern gesucht:
Pluralitätsmaß Mainstream vs. Sidestream
In der ersten Kategorisierung überwiegen bei zehn Studienzugängen der Mainstream, bei fünf der Sidestream. Beim spezifischen Blick auf Pflicht- und Basismodule lässt sich der Trend ablesen, dass Wahlmodule tendenziell pluraler sind. Damit kann gesagt werden, je relevanter die Module, umso weniger ausgeglichen plural und umso stärker mainstream sind sie. Auch in der Unterscheidung zwischen Bachelor- und Master-Studiengängen findet sich dieses Muster im Durchschnitt wieder.
Bereits Bäuerle et al. (2020: 174f.) haben in ihrer umfangreichen Erhebung aufgezeigt, dass die Grundlagenveranstaltungen im VWL-Studium als maximal reglementiert und fremdbestimmte Tunnelerfahrung charakterisiert werden können, während in höheren Semestern eine durch eine relative Wahlfreiheit geprägte Studienphase folgt. Im Sinne dieser Studienautor*innen muss auch hier nachdrücklich betont werden, dass wirtschaftswissenschaftliche Pluralität gerade in den Pflicht- und vor allem in den Grundlagenveranstaltungen entscheidend ist, weil vor allem die Studieninhalte zu Beginn des Studiums prägend sind. Es kann insofern nicht argumentiert werden, dass in einem VWL-Studium oder in einer wirtschaftsjournalistischen Qualifizierung erst einmal die „klassischen Grundlagen“ studiert werden sollten, um sich dann je nach Interesse anderen Theorieschulen als einem Bonus im Wahlbereich zuzuwenden.
Für einen direkten Vergleich mit der Econ-Plus-Studie 2016 wurden die vorliegenden Module ergänzend in Einführung in die VWL, Mikroökonomik und Makroökonomik und andere Module gruppiert: Es zeigte sich, dass in den ersten drei Fächer der Mainstream relativ ähnlich dominiert: Bei EVWL und Makroökonomik mit rund 67% und 68% und etwas stärker die Mikroökonomik mit ca. 78%. Damit ist in allen drei Fächern der Sidestream etwas stärker als bei der Econ-Plus-Studie 2016, wo der Mainstream jeweils um die 80% ausmachte. Andere Module (nicht Gegenstand der Econ-Plus-Studie) sind mit etwas über 50% mainstream und leicht unter 50% sidestream vergleichsweise ausgeglichen.
Die zweite, kritischere Kategorisierung von Pluralität zeigt eine überdeutliche Dominanz orthodoxer Perspektiven: In insgesamt 13 Fällen überwiegt die Orthodoxie und nur in einem Fall die Heterodoxie (ein Studiengang hatte hier keine Treffer). Im Durchschnitt machen damit die orthodoxen Perspektiven rund 78% und die heterodoxen nur etwa 21% aus.
Die oben beschriebene Tendenz ist hier ein klarer Trend: Je verpflichtender und relevanter die Module, umso orthodoxer und weniger plural sind sie. Bei Pflicht- und Basisinhalten ist jeweils nur ein Studiengang überwiegend heterodox. Im Durchschnitt überwiegen orthodoxe Inhalte bei verpflichtenden Modulen mit fast 80% und bei den wichtigen Basismodulen sogar mit fast 90%. Im Vergleich Bachelor- und Master ist der steigend orthodoxe Trend bei Pflicht- und vor allem Basismodulen stark ausgeprägt, wobei die Master-Studiengänge im Durchschnitt etwas orthodoxer als die Bachelor-Studiengänge sind (Bachelor insgesamt: rund 72% orthodox; Master insgesamt: rund 83% orthodox).
Im Vergleich mit der Econ-Plus-Studie 2016 können mit kleinen Abweichungen die gleichen Trends wieder bestätigt werden: Im Fach Einführung in die VWL dominiert die Orthodoxie mit 80%, in Mikro- und Makroökonomik sogar mit über 95%. In anderen Modulen überwiegen orthodoxe Inhalte „nur“ mit rund 72%. Es kann also gesagt werden, dass sich ausgeglichene oder plurale Perspektiven am ehesten in Veranstaltungen finden lassen, die nicht typische VWL-Kurse sind.
Pluralitätsmaß Orthodox vs. Heterodox
Für den wichtigen Ausbildungszugang der Kölner Journalistenschule kann konkret der Schluss gezogen werden, dass im Vergleich der vier hier untersuchten Studiengänge an der Universität zu Köln, der Bachelor Sozialwissenschaften am ausgeglichensten und pluralsten ist, gefolgt von dem Bachelor VWL sozialwissenschaftlicher Richtung. Über alle Ausbildungszugänge hinweg sticht der Master Konvergenter Journalismus der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) mit ungewöhnlich vielen sidestream und heterodoxen Treffern heraus (wobei ein detaillierter Blick in die Beschreibungen nur wenig Aufschluss über die tatsächlichen wirtschaftswissenschaftlichen Inhalte vermittelt).
Neben der Pluralitätsanalyse wurde ergänzend mittels Schlagwort-Suche nach Inhalten mit journalistischer und wirtschaftswissenschaftlicher Reflexivität gesucht und die Relevanz des jeweiligen Umfangs als „gering“, „mittel“ oder „hoch“ eingestuft.
Wichtigkeit reflexiver Inhalte
Die zentrale Wichtigkeit reflexiver Module, wie Ideengeschichte und Wissenschaftstheorie, kann nicht zu hoch eingeschätzt werden. Sie ermöglichen überhaupt erst, zwischen einer Pluralität von Theorieschulen zu unterscheiden und wirtschaftswissenschaftliche Paradigmen als solche zu erkennen. Äußerungen wirtschaftswissenschaftlicher Expert*innen, beispielsweise aus der universitären und außeruniversitären Forschung, von Beratungsinstituten oder aus der Politik, könnten von solcherart geschulten Journalist*innen kontextualisiert und als Sichtweise einer Theorieströmung – nicht jedoch als Erkenntnis „der“ Wirtschaftswissenschaft an sich – eingeordnet werden. Sie ermöglichen Wirtschaftsjournalist*innen, eine kritische Distanz zu wirtschaftswissenschaftlichem Fachwissen und andere Perspektiven einzunehmen sowie (eigenes oder fremdes) Nicht-Wissen als solches zu erkennen, um proaktiv nach anderen Theorien oder Perspektiven zu suchen. Reflexive Inhalte erhöhen außerdem die Wahrscheinlichkeit für Pluralität sehr. Wie eine ergänzende Text-Mining-Analyse zeigt, sind diese Fächer in der Tendenz deutlich pluraler aufgestellt als andere (wenngleich im Einzelnen Themen wie Ethik oder Nachhaltigkeit nicht zwingend die mainstream oder orthodoxe Perspektive verlassen müssen). Ein Mindestmaß an wirtschaftswissenschaftlicher Pluralität in der Qualifizierung von Wirtschaftsjournalist*innen ist im Bereich ökonomischer Reflexivität somit auf jeden Fall gegeben.
Ergebnisse zur ökonomischen Reflexivität
Die Analyse zeigt, dass in 12 von 14 Zugängen Inhalte ökonomischer Reflexivität studiert werden können, wenngleich in stark unterschiedlichem Umfang (zwischen rund einem und 35% im Hinblick auf den jeweiligen Studiengang). Mit nur zwei Ausnahmen fehlt jedoch das wichtige Fach ökonomische Ideengeschichte. Spitzenreiter sind dabei die Studiengänge M.Sc. Economics an der Universität Köln (35% mit allen fünf Fächern), der M.Sc. International Economic Policy an der Universität Würzburg (31,25% mit vier Fächern) sowie im Bachelor die drei Studiengänge der Universität zu Köln mit jeweils drei bis vier Fächern und zwischen ungefähr 15 und 20% reflexiven Inhalten, die absolviert werden können. Alle diese Studiengänge hatten vor allem im Bereich Ethik/Nachhaltigkeit viele Treffer zu verzeichnen. Insgesamt gibt es jedoch relativ wenige reflexive Inhalte – bei der Hälfte aller Studiengänge sind unter zehn Prozent der Inhalte reflexiv und können im Laufe des Studiums tatsächlich absolviert bzw. anerkannt werden. Noch gravierender sind die Ergebnisse, wenn nur verpflichtende Module betrachtet werden: In zehn Studiengängen gibt es keine einzige Pflichtveranstaltung aus dem Bereich ökonomischer Reflexivität, bei den vier anderen lediglich im Umfang zwischen einem und vier Prozent im Hinblick auf das Gesamtstudium. Ethik/Nachhaltigkeit und politische Ökonomie fehlen komplett als Pflichtfach.
Mit diesen Befunden kann insgesamt das Fazit gezogen werden, dass es eindeutige Defizite in der wirtschaftsjournalistischen Qualifizierung im Hinblick auf die Ausgeglichenheit der ökonomischen Perspektiven gibt. Zukünftig sollten deutlich mehr plurale Inhalte in die Ausbildung einfließen. Mehr Pluralität in der wirtschaftsjournalistischen Qualifizierung ist ein wichtiger Baustein zu mehr Vielfalt in der wirtschaftspolitischen Berichterstattung – wenngleich weitere Faktoren wie etwa die Tradition oder politische Orientierung bestimmter Medienverlage oder eine „ökonomische“ Medienlogik, die sich auf bestimmte prominente Expert*innen fokussiert, ebenfalls nicht außer Acht zu lassen sind.
Die vorliegende Studie stellt eine erste, aber sicherlich keine abschließende Forschungsarbeit zur wirtschaftswissenschaftlichen Pluralität im Wirtschaftsjournalismus dar. Neben erwähnten Methoden zu Diskurs- und Netzwerkforschung, könnte die Qualifizierung durch wirtschaftsjournalistische Ausbildungsschulen und Volontariate Gegenstand vertiefender Forschung sein, insbesondere die Frage, wie angehende Wirtschaftsjournalist*innen die ihnen angebotenen Inhalte tatsächlich rezipieren. In der vorliegenden Arbeit wurden exemplarisch die Studiengänge untersucht, die durch die gängigen Studiensuchmaschinen auffindbar waren. Hier könnten noch weitere beforscht werden, alternativ könnte mittels Befragungen erhoben werden, welche Studiengänge Wirtschaftsjourna-list*innen tatsächlich belegen und inwiefern plurale Studiengänge darunter sind.
In der erwähnten Studie über die VWL-Lehre von Bäuerle et al. (2020) ist ein zentrales Ergebnis, dass im Sinne eines „Primats der Studienstrukturen“ (ebd.: 35f.) nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form des Studiums entscheidend prägt. Insofern könnten die Fragen, durch welche Strukturen und Formen angehende Wirtschaftsjournalist*innen lernen und wie sich etwa die Form einer Ausbildung von der eines Fachstudiums unterscheidet, weitere relevante Untersuchungsfelder sein.
Einladung zur gemeinsamen Weiterentwicklung
Forschung zur Pluralität im Wirtschaftsjournalismus sollte dabei nicht als Mittel zum Zweck der destruktiven Kritik oder gar Bloßstellung der Qualifizierungsinstitutionen (miss)verstanden werden. Vielmehr kann sie eine Einladung zum forschenden Lernen sein und zur gemeinsamen Weiterentwicklung einer pluraleren (wirtschafts-)journalistischen Praxis beitragen.
Drei Bausteine als wirtschaftsjournalistische Qualitätskriterien
In welchem Ausmaß plurales (wirtschaftswissenschaftliches) Wissen für Wirtschaftsjournalist*innen notwendig ist, soll hier nicht abschließend geklärt werden, sondern Gegenstand einer anzustoßenden Debatte oder eines fruchtbaren Dialogs zwischen (Wirtschafts-)Wissenschaftler*innen und (Wirtschafts-)Journalist*innen sein. Es wird jedoch dafür plädiert, (wirtschaftswissenschaftliche) Pluralität als Qualitätskriterium im wirtschaftspolitischen Journalismus zu etablieren. Insbesondere könnten drei Kernbausteine zum Standard im Rahmen einer wirtschaftsjournalistischen Ausbildung werden: Erstens ein Überblicks- und Kontextwissen zur pluralen Ökonomik, was die Kenntnis inhaltlicher Schwerpunkte von Theorieschulen mit einschließt. Dies würde ermöglichen, Aussagen von Expert*innen einzuordnen und proaktiv kontroverse Standpunkte ergänzend einzubeziehen. Dafür müsste das konkrete Wissen vermittelt werden, an welchen Universitäten oder Forschungsinstituten andere Perspektiven angesiedelt sind und Quellenmaterial und Interview-Partner*innen herangezogen werden können. Des Weiteren kann so weiterführendes Wissen, etwa in Bezug auf gesellschaftliche Krisen, berücksichtigt werden.
Pluralität als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Krisen
Das Thema Nachhaltigkeit sollte angesichts der gesellschaftlichen Lage zentral behandelt und multiperspektivisch betrachtet werden. Zweitens die Fähigkeit zur Meta-Reflexion der Ökonomik: So sollte im Rahmen einer journalistischen Ausbildung die politische Nicht-Neutralität von wissenschaftlichen Theorien thematisiert werden, etwa vor dem Hintergrund wissenschaftstheoretischer und ideengeschichtlicher Überlegungen. Drittens sollte Wissen über den Zustand der VWL vermittelt und Debatten um eine Plurale Ökonomik auf der einen und wirtschaftsjournalistische Vielfalt auf der anderen Seite thematisiert und kritisch reflektiert werden. Mit Kenntnissen über die blinden Flecken in wirtschaftspolitischen Diskursen kann Pluralität so proaktiv vorangebracht werden, sodass der Wirtschaftsjournalismus seinen Beitrag bei den anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen (besser) zu leisten vermag.
Den kompletten Wortlaut der Studie (inkl. Statistiken, Schaubildern, Literaturverzeichnis) finden Sie hier.
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