von Laura Held & Gert Eisenbürger
Der schwierige Siegeszug der Kartoffel in Europa
Die Kartoffel, diese merkwürdig geformte Knolle, hat ganze Großreiche ermöglicht, weil sie die Grundversorgung der (armen) Bevölkerung auch auf kargen Böden sicherstellte, vom Inkaimperium über Preußen und Russland bis Britannien. Doch es brauchte zwei Jahrhunderte, bis sich die Knollen aus den Anden in Europa durchsetzen konnten.
Schon Columbus erzählte von essbaren Knollenpflanzen, die er bei seinem ersten Besuch auf der Insel Hispaniola (die sich heute Haiti und die Dominikanische Republik teilen) kennenlernte. Er meinte aber die batate, die Süßkartoffel. Auf den Karibikinseln betrieben die Taíno-Indígenas damals eine ausgeklügelte Landwirtschaft mit Hügelbeeten und genau berechneten Fruchtfolgen, zum Beispiel Kombinationen aus Maniok, Kürbissen und Bohnen mit den Knollenfrüchten, die dem Boden Mineralien und Kaliumkarbonat zuführen.
Columbus vermerkte am 4. November 1492 in seinem Tagebuch: „Am Abend lehrten uns die Eingeborenen die Zubereitung eines unscheinbaren Knollengewächses, an dem wir bisher achtlos vorbeigingen. Ich werde einige dieser seltsamen Äpfel, die wie Kastanien schmecken und von den Indianern batate genannt werden, nach Europa mitnehmen.“
Trüffel oder Erdapfel?
Doch nun zur Kartoffel, deren Heimat das Andenhochland ist. Deren spanische Bezeichnung patata ist eine Mischung aus der papa, Quechua für Kartoffel, und batata, Taíno für Süßkartoffel. Der Name beruht also auf einer Verwechslung, denn die batate ist ein Windengewächs, kein Nachtschattengewächs. Das deutsche Wort Kartoffel beruht wiederum auf dem italienischen tartofuli – was Trüffel bedeutet, weil die Kartoffeln angeblich Trüffeln ähneln. Heute heißen Kartoffeln auch in Italien patata. Im deutschsprachigen Raum gibt es viele Namen und Dialektbezeichnungen für die Kartoffel, die meisten leiten sich von den botanisch zwar nicht korrekten, aber wegen der äußeren Ähnlichkeit assoziierten Bezeichnungen „Erdapfel“ (franz. Pommes de Terre) oder „Grundbirne“ ab, so das bönnsche/kölsche „Äädäppel“ oder das moselfränkische „Grumbiere“ bzw. „Grumbere“.
Die Kartoffel kam bereits 1535 nach Sevilla, und zwar zuerst als Chuños in getrocknetem Zustand. Weil die wie schwarze Kieselsteine aussehen, wurden sie als nicht essbar betrachtet. Auch als die frischen Knollen ankamen, lösten sie auf der iberischen Halbinsel keine Begeisterung aus. Von Spanien kam die Kartoffel nach Italien, in die Schweiz, nach Burgund und weiter nach Deutschland und Südosteuropa. Ein anderer Weg führte von England über die Niederlande und Frankreich nach Norden. So wurde die Kartoffel zwar früh bekannt, aber es dauerte lange, bis sie ab Ende des 18. Jahrhunderts die Ernährungsgewohnheiten und die Küche des europäischen Kontinents völlig umstellte. Bis dahin waren dessen Ernährungsgrundlage Fladen oder Brei von Hirse, Gerste, Roggen und anderem Getreide.
Zierpflanze und Teufelsapfel
Die Kartoffel diente dem europäischen Adel zunächst als Zierpflanze. Ihre zarten weißen Blüten waren sehr geschätzt, die französische Königin Marie-Antoinette trug sie als Blumenschmuck. In England, wohin die Knolle vermutlich über „Beutestücke“ der spanischen Armada kam, wurden die Blüten der Kartoffel den Orchideen gleichgesetzt. In London war es zeitweilig Mode, sie als Brautschmuck zu tragen.
Die Botaniker pflanzten sie eifrig in ihren Versuchsgärten, als Kuriosität und Heilpflanze. Sie wurde auch Tieren, vor allem Schweinen, als Futter vorgesetzt, als menschliche Nahrung schien sie zunächst wenig attraktiv. Ihr Ruf war, außer bei besagten Botanikern, eher schlecht. Als Nachtschattengewächs galt sie als Hexenkraut, es hieß, sie würde Lepra übertragen, wahlweise auch Tuberkulose oder Syphilis. Andere meinten, sie würde impotent machen, wieder andere behaupteten das Gegenteil und priesen sie als Aphrodisiakum. Der Legenden und Mythen gab es viele. Erzählt wurde auch, eine Inka-Prinzessin hätte sich mit der giftigen Knolle unliebsamer Ehemänner entledigt. Zar Peter der Große scheiterte damit, sie als Nahrungsmittel in Russland durchzusetzen, die orthodoxe Kirche wetterte gegen den „Teufelsapfel“. Es sei eine Heidenfrucht, hieß es, die unter der Erde wachse, missgebildete Knollen produziere und den Boden vergifte. Als Beweis wurde angeführt, in der Bibel sei nie von einer Kartoffel die Rede gewesen und selbst in den antiken Schriften fände sich kein Wort von der Kartoffel. Noch im 19. Jahrhundert gründete sich in Großbritannien ein sehr aktiver Verein gegen die unwholesame diet der spud, wie die Kartoffel abwertend genannt wurde. Das Osmanische Reich hingegen übernahm die Kartoffel über seine engen Beziehungen mit Venedig und so wurde sie im gesamten Nahen Osten eher heimisch als in Europa.
Wenn der Hunger zu arg wurde: preussische Kartoffelbefehle
Während also im 17. Jahrhundert Kartoffeln in Europa bekannt waren, als Kuriosität immer wieder mal bei Fürstentafeln aufgetischt und fleißig unter den Botanikern getauscht und erforscht wurden, weigerten sich die Bauern, die Knollenfrucht anzupflanzen. Nur in Irland und im spanischen Galizien kamen sie auf den Tisch, wenn der Hunger zu arg wurde.
In Preußen setzte Friedrich II. in seiner langen Regierungszeit (1740-86) die Kartoffel als Grundnahrungsmittel durch. Der Militärstaat Preußen strebte eine weitgehende landwirtschaftliche Autarkie an, um im Kriegsfall (und den gab es häufig) nicht von Nahrungsmittelimporten abhängig zu sein. Das war angesichts der kargen sandigen Böden in großen Teilen des preußischen Kernlands ein Problem. Die Kartoffel war die einzige Ackerfrucht, deren Kultivierung versprach, Armee und Bevölkerung ernähren zu können. Ab 1746 erließ der preußische König insgesamt 15 Kartoffelbefehle bzw. -erlasse, die verfügten, dass jeder Bauer und Gärtner eine bestimmte Menge Kartoffeln anzubauen habe. Die Pfarrer der protestantischen Staatskirche wurden verpflichtet, für den Anbau von den Kanzeln zu werben, weswegen sie im Volksmund bald „Knollenprediger“ genannt wurden. Bei Zuwiderhandlungen gegen die Kartoffelbefehle drohten drakonische Strafen.
In Frankreich hat ihr der Pharmazeut und Botaniker Antoine Parmentier, der während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) zeitweilig als Kriegsgefangener in Preußen war, zum Durchbruch verholfen. Nach einer Hungersnot 1769 setzte die Académie Française einen Preis für die beste Abhandlung aus, welches Agrarprodukt am ehesten das Brot ersetzen könne. Ausgezeichnet wurde am Ende Parmentiers Schrift über die Vorteile des Kartoffelanbaus. Soweit die Fakten. Weiter wird erzählt, Parmentier habe empfohlen, vor den Toren von Paris Kartoffeln anpflanzen und von Soldaten bewachen zu lassen, aber nur tagsüber, damit sie nachts gestohlen werden konnten. Ob dies so stimmt, ist zweifelhaft, zumal dieses Vorgehen auch Friedrich II. angedichtet wird.
In Russland erreichte Katharina die Große in ihrer Regierungszeit (1762-96) das, woran Peter der Große ein halbes Jahrhundert zuvor noch gescheitert war, den massenhaften Anbau von Kartoffeln durchzusetzen.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde so die Kartoffel in vielen Ländern Europas zunächst zur Armenkost. Im 19. Jahrhunderts trat sie ihren Siegeszug an und kam auch beim Bürgertum und der wohlhabenden Landbevölkerung auf den Tisch. Während sie aber bei den einen zur täglichen Beilage wurden, ernährten sich die Ärmeren fast ausschließlich von Kartoffeln.
Irland: Kartoffelfäule führt zu Hungersnot mit 1 Mio. Toten und 2 Mio. Flüchtlingen
Eine die Pflanze befallende Krankheit, die Kartoffelfäule, war zwischen 1845 und 1849 Auslöser der schlimmsten Ernährungskrise in der jüngeren europäischen Geschichte, der „Großen Hungersnot“ in Irland, der eine Million Menschen, rund zwölf Prozent der damaligen irischen Bevölkerung, zum Opfer fielen. Das Ackerland in Irland gehörte britischen Grundherren. Für diese musste die irisch-katholische Bevölkerung Getreide anbauen und Vieh halten. Auf kleinen Flächen durften die irischen Familien Kartoffeln für die Eigenversorgung anbauen. Als die Kartoffelfäule die Pflanzen befiel, kam es zur Katastrophe. Während die Grundherren und die britische Kolonialmacht auf der Ablieferung des Getreides und Viehs bestanden, verhungerten in Irland die Menschen. Zwei Millionen Iren und Irinnen emigrierten in der Folge, vor allem nach Nord-, einige auch nach Südamerika.
Als der Kartoffelanbau in Europa durchgesetzt wurde, veränderte er die Gesellschaftsstruktur nachhaltig. Es konnten viel mehr Nahrungsmittel auf weniger Fläche erzeugt werden. Die Landbevölkerung wuchs rasant und dadurch wurden erst die vielen Arbeitskräfte frei, die später in den Manufakturen und Fabriken für Hungerlöhne schufteten. Die industrielle Revolution wäre ohne die Kartoffel nicht möglich gewesen.
Quellen: Myriam Sagarribay, Esto no estaba en mi libro de Historia de la Gastronomía. Almuzara, Córdoba (España) 2017 * Ingrid Haslinger, Es möge Erdäpfel regnen. Eine Kulturgeschichte der Kartoffel. Mandelbaum, Wien 2007 * Matthias Steinbach (Hg.), Kartoffeln mit Flöte. Friedrich der Große, Reclam, Stuttgart 2011
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 446 Juni 2021, hrsg, und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt,
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