Wer derzeit die Nachrichten aus Afghanistan verfolgt, dem kann schon das Gruseln kommen. Wie immer sich selbst Pazifisten fühlen werden – die Einnahme von Kundus durch die Taliban ist schon eine Meldung, die nahe geht – war das doch ein vertrauter Name, Stationierungsort der Bundeswehr, die ähnlich wie die US-Armee fluchtartig Afghanistan verlassen hat. Ich teile die Ansicht eines Offiziers der Bundeswehr, der schon vor Jahren dort zur Überzeugung kam, dass die Bundeswehr dort nichts zur dauerhaften Verbesserung der Verhältnisse ausrichten könne. Zeit, so seine Erkenntnis, sei der entscheidende Faktor, von dem die Taliban unendlich viel haben, der Westen aber nur begrenzt. Weil Besatzung Geld, Ressourcen und Menschenleben kosten, über die Parlamente entscheiden, die Ergebnisse sehen wollen. Die Taliban aber, solange sie nicht kämpfen, haben keine Kosten – sie müssen nur abwarten. Wie der Abzug jetzt stattfand, ohne Rücksicht auf das Schicksal der Menschen, die versucht haben, dort etwas aufzubauen, muss Anlass sein, den Sinn des Unterfangens kritisch zu hinterfragen.
Noch mehr Gruseln erweckte beim Autor ein Interview in der “Tagesschau” dieser Tage mit einem Provinzverwalter, der sich vor den Taliban im ehemaligen Feldlager der Deutschen verschanzt hatte. Wird er das Schicksal des außenpolitischen Sprechers der afghanischen Regierung teilen, fragte ich mich, den die Taliban am vergangenen Freitag brutal ermordet haben, nur, weil er “mit dem Westen geredet” hat? Welche Chance hat der Mann in Kundus noch? Die Bundesregierung habe, so hieß es, in der vergangenen Woche, mit den Taliban Gespräche geführt. Es soll um das Schicksal der verbliebenen Ortskräfte gegangen sein. Die Frage stellt sich, welchen Nutzen solche Gespräche haben können. Sicher ist es nie falsch, zu reden, aber haben die Taliban nicht seit Monaten gezeigt, dass sie sich an keinerlei Absprachen halten? Warum werden die Menschen, die sich in Lebensgefahr begeben haben, um der ISAF, insbesondere der Bundeswehr zu helfen, nicht großzügig mit ihren Familien ausgeflogen? Warum wird stattdessen mit beamtenspitzfindiger Tücke zwischen Dolmetschern, die direkt für die Bundeswehr arbeiteten und solchen, die für deutsche Privatunternehmen tätig waren, unterschieden? Die Taliban werden beide ermorden, wenn sie sie kriegen! Wie kann es sein, dass Horst Seehofer, der im übrigen schleunigst zurücktreten sollte, noch immer in ein solches Land abschiebt?
Wie glaubwürdig war der Einsatz?
War das, was die NATO versucht hat, um in Afghanistan den Taliban den Nährboden zu entziehen, überhaupt sinnvoll? Nach der Vertreibung der Taliban, die militärisch quasi besiegt waren, hat die internationale Truppe auf regionale Warlords gesetzt, die seit Jahrhunderten vor Ort um Einflusszonen kämpfen und dabei die Bevölkerung vor Ort relativ unbehelligt lassen. Wieso konnten die Taliban, die offensichtlich von Pakistan und seinen islamistischen Koranschulen unterstützt werden, derart zurück an die Macht kommen? Warum hat man auf eine durch und durch korrupte Zentralregierung gesetzt, die nie eine Basis im Land gefunden hat? Und wenn schon die Illusion von einer demokratischen Gesellschaftsordnung aufgrund der eingefahrenen Hierarchien und autoritären Strukturen schwer zu etablieren war – wurde über stabile Strukturen nachgedacht, die eine nicht oder wenigstens gemäßigt islamistische Ordnung ermöglichten? Gab es überhaupt eine Strategie? Auf diese Fragen wird es wohl keine schlüssigen Antworten geben. Außer einer einfachen, aber politisch brisanten:
Afghanistan als Alibi
Afghanistan war von Anfang an ein Krieg, der nicht zu gewinnen war. Das Kanzler-Schröder-Wort von der “uneingeschränkten Solidarität” – vielen läuft es noch heute kalt den Rücken herunter, wenn sie an die Bundestagsdebatte nach dem 11. September 2001 denken. Afghanistan, das war der politisch kleinere Preis, er gab der rot-grünen Bundesregierung die Möglichkeit, später beim Krieg gegen den Irak “nein” zu sagen, ohne das prinzipielle Bündnis mit den USA infrage zu stellen. Das war mutig. Aber Afghanistan war von Anfang an eine politische Alibiveranstaltung. Weder war Bin Laden in Afghanistan, noch wusste die NATO wirklich, worauf sie sich dort einliess. Jahrhundertealte Strukturen, die Ortskundige so beschreiben, dass sogar der Bau einer Strasse von Einheimischen vor Ort abgelehnt wurde, von der die “Aufbaukräfte” glaubten, dass sie doch nützlich sei, die in einem Land rivalisierender Clans aber Dörfer verwundbarer gegenüber dem Nachbarclan machte. Oder Brunnen, deren Bau das dörfliche Gleichgewicht störten, weil die Frauen nicht mehr tagsüber weite Strecken zum Wasserholen nutzen konnten, um sich der Kontrolle ihrer Männer zu entziehen und deshalb die neue Errungenschaft selbst zerstörten.
Kundus – scheinbar sichere Ausgangsbasis
Als die NATO in Afghanistan einmarschierte, gab es folglich auch keinen gemeinsamen Plan, wie bei der “Befriedung” des Landes vorzugehen sei. Wenn etwa ein deutscher Offizier mit einem Dorfältesten ausmachte, dass der zustimmte, dass die Mädchen in die Schule gehen durften, wenn er gleichzeitig einige Mohnfelder zur Opiumproduktion vorhalten durfte, konnte es vorkommen, dass eine Einheit der US-Truppen ohne Absprache ein halbes Jahr später genau diese Felder abbrannte und die Plantagen zerstörte, ohne dass die betroffenen Dörfer eine Alternative hatten. So kann man keine sozialen Umbaupläne umsetzen. Schon gar nicht, wenn diese Umbaupläne in Teilen der Gesellschaftsstruktur des Mittelalters, die in einigen Regionen außerhalb der Großstädte bis heute herrscht, auf Skepsis oder Widerstand stoßen. Diese Erfahrung mussten die kolonialen Briten bis 1919, die besetzenden Russen bis 1989, wie auch die ISAF-Truppen bis heute machen, wobei die nur ausführen konnten, was die Regierungen politisch nicht untereinander abgestimmt hatten. Eine weitere Unmöglichkeit. Ergo: Die Analphabetenquote lag trotz nahezu 15 Jahren Besatzung 2015 bei 61,8%, davon 75,8% Frauen. Kundus war für die Bundeswehr ein idealer Standort, weil dort keine pashtunischen Warlords Anspruch auf Gebiete erhoben – aber trotz der relativ gemäßigten Region musste auch die Bundeswehr einen wachsenden Blutzoll zahlen.
Pakistanischer Geheimdienst ISI als Brutstätte der Taliban
Nach der militärischen Niederlage der Islamisten drängt sich schon die Frage auf, welche Kräfte sowohl den ideologischen Rückhalt als auch den militärischen Nachschub der wiedererstarkten Taliban herbeigeführt haben. Wikipedia erläutert: “Eine Analyse der London School of Economics and Political Science aus dem Jahr 2010 führt aus, dass der pakistanische Geheimdienst (ISI) eine „offizielle Politik“ der Unterstützung der Taliban betreibe. Der ISI finanziere und bilde die Taliban aus.[76] Dies passiere, obwohl Pakistan sich offiziell als Verbündeten der NATO ausgebe. Als Ergebnis hält die Analyse fest: „Pakistan scheint ein Doppelspiel erstaunlichen Ausmaßes zu spielen.“[76]Amrullah Saleh, der ehemalige Geheimdienstchef Afghanistans, kritisierte 2010: „Wir reden über all diese Stellvertreter [Taliban, Haqqani, Hekmatyar], aber nicht ihren Meister: Die pakistanische Armee. Die Frage ist, was will Pakistans Armee erreichen […]? Sie wollen an Einfluss in der Region gewinnen.“ Warum hat es die NATO nicht geschafft, sich gegen die Urheber und wirklichen Hintermänner in Stellung zu bringen? Weil es sich bei Pakistan um eine Atommacht handelt. So einfach ist das.
Von vornherein aussichtslos
Der Einsatz der ISAF war von Anfang an ein politisches Abenteuer auf dem Rücken der Streitkräfte: Die USA mussten innenpolitisch zur Beruhigung ihrer Bevölkerung einen Schuldigen für die Anschläge des 11. September suchen und fanden ihn in Afghanistan. Die Deutschen und andere ISAF-Mitglieder leisteten NATO-Solidarität und wussten im Prinzip, dass dabei nicht viel herauskommen würde – spätestens, nachdem sie einige Jahre vor Ort im Einsatz waren. Wenn sich Politik ehrlich machen wollte, müsste sie sich dieses politische und strategische Desaster eingestehen. Stattdessen phantasieren Kramp-Karrenbauer und andere etwas von angeblichen Teilerfolgen wie die Ausbildung von Frauen. Dabei hätte die Bundesregierung wenig zu verlieren, würde sie sich ehrlich machen. Die rot-grüne Bundesregierung hatte aufgrund der Einbindung in die NATO 2001 keine Alternative. Sie hat vielmehr die bessere, die mini-Kriegsversion gewählt, um den Irak-Krieg verweigern und damit das kleinere Übel wählen zu können. Das war richtige Schadensbegrenzung und dafür verdient sie bis heute Anerkennung. Allerdings würde eine solche Ehrlichkeit auch das Eingeständnis bedeuten, dass Kriege eben nicht um der Menschenrechte willen geführt werden, dass deren Verteidigung in Afghanistan ein reiner Vorwand war.
Opfer eines gut gemeinten Versuchs
Leidtragende werden nun vor allem die Frauen in Afghanistan sein und alle, die sich gegen die patriarchalisch-mittelalterlichen Ideologen der Taliban zur Wehr gesetzt haben, wie die Gründerin einer Frauenuniversität und zahllose Lehrerinnen, die seit nun fast 20 Jahren Mädchen unterrichten. Aber zur Ehrlichkeit gehört auch, zu erkennen, dass jahrzehntelang in Kabul vieles möglich war, im Rest des Landes aber nicht geduldet wurde. Vielleicht ist es ja möglich, dass solche Experimente vielleicht sogar überleben könnten, wenn die Taliban sich gegenüber früheren Verhältnissen mäßigen oder die Regierung sich halten kann. Aber darauf darf niemand bauen. Konsequent müssten die EU-Staaten Frauen aus dem Bildungssystem und ihren Familien in Afghanistan, die es wünschen, eine erleichterte Einwanderung in die EU ermöglichen. Darüber hinaus wäre eine großzügige Lösung für Flüchtlinge aus dem unterstützenden Umfeld der Bundeswehr und der mit ihr kooperierenden Unternehmen sowie Personen, die Unterstützung geleistet haben, unumgänglich. Denn diese Menschen sind, so sieht es derzeit aus, durch die Taliban vom Tode bedroht. Denen, die es sich leisten können, wird nur die Flucht bleiben.
Trumps Zynismus und die Flucht Bidens – was bleibt nun übrig?
Trump stümperte 2020 eine “Verhandlung” mit den Taliban in den Emiraten zustande. Seine dilettantische Administration ohne aussenpolitische Erfahrung setzte diese Verhandlungen weitgehend in den Sand. Um mit dem Ergebnis eines baldigen Truppenabzugs innenpolitisch glänzen zu können, ließ Trump die eigenen Soldaten und vor allem die der verbündeten Ortskräfte im Ergebnis über die Klinge springen. Dass dies den USA und den ISAF-Truppen nicht gerade den Ruf der Zuverlässigkeit und Bündnistreue oder gar Berechenbarkeit einbringt, liegt auf der Hand. Joe Biden hat diese Situation nach dem Prinzip “Rette sich, wer kann” gelöst – verdenken kann man es ihm nicht. Geradezu aberwitzig sind jedoch Forderungen, wie die von Norbert Röttgen, außenpolitischer Sprecher der CDU: den Krieg wieder anzufachen und dadurch nicht nur einen nicht gewinnbaren Konflikt zu verlängern, sondern auch die Illusion zu nähren, in Afghanistan hätte derzeit eine auch nur annähernd demokratische Gesellschaftsordnung eine reelle Chance.
Der “Fehler” besteht in dem, was eigentlich offensichtlich ist, aber ungesagt bleibt: Wer in Afghanistan hätte etwas bewegen wollen, hätte den Bauern alternative Erwerbsquellen zum Opiumanbau erschließen und die Clan-Kartelle der Händlersippen entmachten müssen, (etwa: https://de.wikipedia.org/wiki/Popalzai).
Zudem: Der Opiumanbau war vor 2001 durch die Taliban reguliert, siehe https://www.unodc.org/pdf/publications/report_2000-12-31_1.pdf. Zuletzt – 2020 – war er auch reguliert, aber nicht mehr durch die Taliban. Und zuletzt – 2020 – war die Anbaumenge gestiegen und der Preis der Drogen-Rohware gefallen, https://www.unodc.org/documents/crop-monitoring/Afghanistan/20210503_Executive_summary_Opium_Survey_2020_SMALL.pdf.
Worauf lässt das schließen? Auf Dummheit oder Plan? Gegebenenfalls: wessen Dummheit? Und wessen Plan?