Ein Kollateralschaden der aktuellen Afghanistan-Krise ist, dass die rat- und strategielosen Nato-Mächte sich ein weiteres Mal vor dem Despoten-Darsteller Recep T. Erdogan in den Teppichstaub werfen. Traumatisiert durch ihr selbstfabriziertes Syrien-Malheur – ein Luxusproblem, während dortselbst Menschen im Krieg sterben oder hungern – wollen sie, dem Laschet-Duktus folgend, “ein neues 2015 verhindern”, der sozialdemokratische Aussenminister inklusive. Bei Erdogan werfen sie sich in den Staub, aber mit dem Iran wollen sie lieber nicht reden.
Den menschenrechtlichen Unterschied zwischen dem Islamisten Erdogan und dem islamistischen Mullahregime muss mir noch mal irgendeine*r Islamwissenschaftler*in in Ruhe erklären. Ich habs ja nicht so mit Religionen. Aber strategische Tatsache fernab moralischer oder menschenrechtlicher Erwägungen dürfte sein, dass Erdogan Nato-Mitglied ist, und nicht an Russland und/oder China “verloren” gehen soll. Während der Iran seit 1979 als “verloren” gilt und isoliert werden soll. Dazulernen war seitdem nicht vorgesehen, Phasen der Gelegenheit zur Verbesserung der Beziehungen wurden mutwillig übersehen. Jetzt ist wieder ein grosssprecherischer Reaktionär Präsident.
Tatsache ist: nicht Erdogan, sondern der Iran hat bisher 3 Mio. afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Das Regime ist darüber nicht amüsiert (war es noch nie), und hält darum zwei Drittel von ihnen in einem elenden illegalen Status. Im iranischen Rassismus-Ranking, das von den angeblich “arischen Perser*inne*n” angeführt wird, rangieren die Afghan*inn*en ganz unten, weit hinter Turk-Aserbaidschaner*inne*n und Kurd*inn*en. Wo sie das bloss abgeguckt haben?
Jetzt verhandeln sie also mit Erdogan über einen trumpähnlichen Mauerbau. Vielleicht soll der Van-See, durch den die Eisenbahnfähre Richtung Iran verläuft, ein neues Mittelmeer zum Ersaufen werden. Die Türkei soll lukrativ als Frontstaat zur Flüchtlingsabwehr mit neuesten Militär- und Überwachungstechnologien aufgerüstet und als Markt für die entsprechenden Konzerne aufgewertet werden. So haben “alle” was davon. Ausser die Flüchtlinge.
Etwas skurril: tatsächlich ist Erdogan innenpolitisch schon so schwach, dass er scheinbar sogar die Grünen fürchtet (DLF/Susanne Güsten, Audio 5 min). Als ich 2005 selbst in Istanbul war, und mir von einem sehr netten, sich selbst als Grünen vorstellenden Bürgerrechtsanwalt das tolle Istanbuler Nachtleben in Beyoğlu zeigen liess, soll es etwa “16” grüne Parteien in der Türkei gegeben haben. Ob sich das nun konsolidiert hat? Ich fürchte, nicht wirklich. Erdogan braucht Popanze, um sich zuhause zu legitimieren. In seiner gegenwärtigen Schwäche kommt jeder noch so nichtige Anlass wie gerufen. Sogar ein deutscher Aussenminister (früher kam Frau Merkel noch selbst).

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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