Der Zentralrat der Juden hat heute erstmalig in seiner Geschichte einen Aufruf gestartet, eine im Bundestag vertretene Partei nicht zu wählen. Dass es soweit kommen musste, kann Margot Friedländer, fast 100-jährige KZ-Überlebende im ZDF erklären, die 69 Jahre in New York lebte und 2010 zurück nach Berlin kam: “Es ist seit etwa sieben Jahren viel schlimmer geworden.” Und über ein Wahlplakat der faschistischen Partei “Der III.Weg” mit dem Slogan “Hängt die Grünen” – sagt sie im ZDF beim berüchtigten konservativen Politiksimulator Markus Lanz : “ja, so hat es damals angefangen – vielleicht ein bisschen härter – aber so hat es angefangen.”  Die Frage stellt sich, wieso nur in München diese Plakate mit dem Aufruf zum politischen Mord abgehängt wurden, in anderen Bundesländern aber nicht. Und warum der Aufschrei der rechtsstaatlichen politischen Mitte ausbleibt. Aber das ist nur ein Symptom.

Keine Nachrichtensendung, keine Tagesschau, keine Tagesthemen, auch kein “Heute” hat über diesen Aufruf berichtet. Die Untaten der Taliban gegen Journalisten in Afghanistan, – okay – aber der Erfolg einer “Influencerin”, eines oberflächlichen Werbesternchens auf Instagram vor dem Bundesgerichtshof, war wichtiger. Der Sieg der Nationalmannschaft über die (Kreisliga-) Nationalmannschaft von Island auch.  Was wird auf Redaktionskonferenzen heute eigentlich noch beraten? Prioritäten? Oder werden nur die Mainstream-Schnipsel einfach gesendet?

Was ist publizistisch los in diesem Land, dass zum einen der Zentralrat zu einem solchen Mittel greifen muss und andererseits, dass die demokratische Öffentlichkeit so ignorant ist und selbst im feierlichen Jahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” nicht weiss, was es bedeutet, dass Antisemitismus und Judenhass anwachsen und diese sich zur Bundestagswahl äußern? Es wäre also eigentlich Aufgabe der deutschen Mehrheitsgesellschaft gewesen, einen Aufruf in dieser Klarheit zu verfassen. Dies ist nicht geschehen. Er soll hier deshalb dokumentiert werden:

Aufruf jüdischer Organisationen und Verbände zur Bundestagswahl 2021

Am 26. September entscheidet sich, ob die AfD erneut im Deutschen Bundestag, dem Herzen unserer Demokratie, ihr Unwesen treiben kann. Eine Partei, in der Antisemiten und Rechtsextreme eine Heimat gefunden haben. Eine Partei, bei der der Verfassungsschutz aus gutem Grund genauer hinschaut. Eine Partei, in der Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit ihren Nährboden finden.

Die AfD ist nach unserer Überzeugung eine radikale und religionsfeindliche Partei. Politiker der Partei relativieren die Schoa. Sie betrachten Minderheiten als minderwertig und spalten unsere Gesellschaft. Die AfD stellt sich gegen die Europäische Union und damit gegen das europäische Friedensprojekt.

Die AfD ist keine Alternative bei der Bundestagswahl!

Juden bzw. jüdisches Leben werden im Wahlprogramm der AfD ganze drei Mal erwähnt. Dabei geht es aber nicht um die Bedürfnisse der Juden im Land. Sondern nur darum, dass Muslime Juden bedrohen. Juden dienen im Programm der AfD einzig und allein dazu, den antimuslimischen Ressentiments der Partei Ausdruck zu verleihen.
Die AfD schiebt Juden vor, um ihre rassistischen und antimuslimischen Parolen unter das Volk zu bringen. Aber dieses Feigenblatt wollen und werden wir nicht sein.
Die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit Millionen getöteter Juden, Sinti und Roma, Homosexueller und politisch Verfolgter ist für den Fraktionsvorsitzenden der AfD lediglich ein „Vogelschiss“. Die darin zum Ausdruck gebrachte Haltung verharmlost in unerträglicher Weise die Gräuel der Geschichte. So wie vor wenigen Jahren bei Pegida oder in Chemnitz laufen AfD-Politiker nun bei Querdenker-Demos neben Hooligans und Rechtsextremen. Dort, wo sich Menschen mit Anne Frank oder Sophie Scholl vergleichen und mit dem Tragen des sog. Gelben Sterns das erlittene Leid von Millionen Opfern der Schoa verhöhnen.

Wir, die unterzeichnenden jüdischen Verbände und Organisationen und die Jüdinnen und Juden in Deutschland sind so vielseitig wie dieses Land. Wir haben unterschiedliche Hintergründe, Lebensgeschichten und Muttersprachen. Wir vertreten verschiedene Einstellungen und politische Positionen. Wir sind geprägt von unterschiedlichen Lebensrealitäten. Was uns jedoch alle eint, ist unsere Überzeugung, dass die AfD eine Gefahr für unser Land ist.

Sie ist keine Alternative für Deutschland. Daher appellieren wir an Sie:
Wählen Sie am 26. September 2021 eine zweifelsfrei demokratische Partei und helfen Sie mit, die AfD aus dem Deutschen Bundestag zu verbannen!

Für ein weltoffenes, friedliches, tolerantes und demokratisches Deutschland.

Ich würde mich freuen, wenn sich NGOs, Bürgerrechtsorganisationen, Sportvereine, Sozialverbände, Kirchen, Schauspieler*innen, Autor*Innen, Musiker*innen, Unternehmer*innen – und wer auch immer – aus der Zivilgesellschaft den “Arsch huh” bekommen würden, genau so etwas hinzubekommen. Vielleicht sollten die aktuellen Selbstabfeierer wie Wolfgang Niedecken, mal drüber nachdenken, ob sie nicht die verdammte Pflicht hätten, auch und gerade in Corona-Zeiten nicht nur Bob Dylan und Bruce Springsteen zu feiern – nix dagegen – sondern sich der Gegenwart zu stellen und vor dieser historischen Wahl Farbe zu bekennen.  Herbert Grönemeyer, Jan Josef Liefers, Ulrike Folkerts, Maria Furtwängler, Shary Reeves und wie sie alle heissen, wären sicher sofort dabei.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net