„Studio Bosporus“: Zum zehnjährigen Jubiläum der Künstlerakademie sind im Kunstraum Kreuzberg die Arbeiten der Stipendiat:innen der Villa Tarabya in Istanbul zu sehen
Eine Gruppe sommerlich bekleideter Menschen auf dem Rasen eines prächtigen Parks. Einzeln oder als Paar sitzen sie in Abstand auf Handtüchern auf dem grünen Rasen. Und sie hören über oder sprechen in bunte Plastikbecher, die durch Bindfäden verbunden sind.
„Schnurtelefon-Netz/Karton Bardak Telefon Ağı“, die Performance der Künstlerin Mehtap Baydu im April letzten Jahres im Garten der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Istanbul war eine kleine Persiflage auf die Kommunikation in Krisenzeiten.
Baydus Variante des Kinderspiels „Stille Post“, wo Nachrichten nur mündlich weitergegeben werden, demonstrierte einen unglücklichen Zustand. Während der Pandemie konnten die Stipendiatinnen der Künstlerakademie Tarabya, die auf dem Gelände residiert, das abgeschirmte Gelände nicht verlassen und mussten Abstand halten.
Die symbolische Rückführung der digitalen Kommunikation ins Analoge verwies aber auch auf die Unschärfen und Verfälschungen dieser Form zu kommunizieren. Und sie ist eine Metapher für die Arbeit in Residencies generell: Verbindungen schaffen.
Residencies eröffnen Künstler:innen einen temporären Raum, in dem sie außerhalb ihrer gewohnten Umgebung arbeiten und nachdenken können. Der geistige Raum, der sich ihnen im günstigsten Fall dabei eröffnet, ist freilich nicht ausstellbar.
Gemessen an diesem Dilemma, bieten die Kurator:innen Pia Entenmann, Stéphane Bauer, Cağla Ilk und Susanne Weiß mit ihrer Schau von 30 Positionen der Bildenden Kunst zum 10-jährigen Jubiläum der Villa immerhin aber doch einen guten Überblick über das Schaffen dort. Auch wenn Baydus „Stille Post“ nicht zu sehen war.
In der 2011, nach langem Tauziehen auf Beschluss des Deutschen Bundestages gegründeten Künstlerresidenz, benannt nach dem Stadtteil Istanbuls, in dem die Villa steht, die Sultan Abdülhamid II. 1880 dem Deutschen Reich schenkte, müssen Resident:innen nicht zwingend eine Arbeit abliefern, schon gar keine politische. Aber viele der dort entstandenen spiegeln natürlich das explosive Reizklima in der 16-Millionen-Metropole.
Dass sie sozusagen „Staatskünstler“ sind, weil das herrliche Ensemble weißer Villen auf exterritorialem Gelände steht, über dem der schwarz-rot-goldene Bundesadler weht sowie einen Soldatenfriedhof mit 667 Gräbern des Ersten Weltkriegs beherbergt, in dem Deutsche und Türken „Waffenbrüder“ waren, scheint die Kreativität der rund 100 Künstler:innen nicht beeinträchtigt zu haben, die die Villa bislang bevölkerten. Ebenso wenig, dass ein „Campus“ des türkischen Staatspräsidenten an die Villa grenzt.
Das Politische kann drastisch ausfallen
wie bei Isaac Chong Wai. Dessen Performance samt Leuchtinstallation „Leaderless – Führerlos“ lässt die Idee der führerlosen Republik Gezi aufleben und nimmt die ruchlose Autokratie aufs Korn, zu der Recep Tayyip Erdoğan die türkische Demokratie entstellt hat. Die Künstlerin Nevin Aladağ hat sich einfach von der urbanen Energie der Stadt inspirieren lassen.
In einem Video ihrer Serie „City Language“ hält eine aus dem geöffneten Seitenfenster eines Autos gestreckte Hand eine Pfeife in den Wind. Je nach Geschwindigkeit, Umgebung und Wetter verändert sich der schrille Pfeifton, der dadurch entsteht. Eines der beeindruckendsten Bilder für die Arbeit am Bosporus hat die Künstlerin Nezaket Ekici gefunden.
Das Foto der Performance, bei der sie in edler Robe in der Schaufel eines riesigen Baggers steht, der während ihres Aufenthalts auf dem Gelände der Villa stand, ist ein grandioses Bild für die Faszination und den Schrecken einer überwältigenden Metropole, die sich politisch, sozial, ökonomisch und architektonisch so rasant verändert wie vielleicht kaum eine andere in der Welt.
Gerieten die Ausstellungen der Stipendendiat:innen in der Vergangenheit zu steifen Repräsentativakten präsentiert die Kulturakademie ihre Bilanz diesmal zeitgemäß und am richtigen Ort. Schlägt der Kunstraum Kreuzberg doch als die kulturelle Herzkammer des multikulturellen, turkophilen Milieus, das sich wie ein Hof um die Akademie zieht.
Das mehrwöchige Veranstaltungsprogramm soll die Schau nicht als splendiden One-Night-Stand, sondern nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein heben. Auch ein Solidaritätsfoto für den inhaftierten türkischen Kunstmäzen Osman Kavala konnte die Szene am rauschenden Eröffnungsabend arrangieren.
Die existenzielle Auffassung von Kunst, um die es in Residenzen freilich zuallererst geht, hat wiederum Mehtap Baydu sinnfällig gemacht. „Durchlässigkeit“ hat sie eine eigens für die Schau geschaffene Porzellanskulptur genannt.
Die ineinanderverfugten Abgüsse ihres Körpers erinnern an das Fragile der Existenz, die Notwendigkeit (nicht nur von Künstler:innen), sich ständig neu zu konstruieren, und von wechselnden Menschen, Situationen und Orten auf der ganzen Welt durchdringen zu lassen. Eine Station dieses lebenslangen Balanceakts heißt Tarabya.
Studio Bosporus. Kunstraum Bethanien, Berlin-Kreuzberg, bis 31. Oktober. Mehr Informationen zum Festival und zur Ausstellung hier. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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