Nach der Wahl: SPD hat drei Viertel gegen sich – Union ist Opfer und Täter zugleich
Die SPD wurde bei der Bundestagswahl mit einem knappem Vorsprung die stärkste Partei. Drei Viertel der Wähler stimmten gegen sie. Aus diesem Resultat leitet sie den Anspruch ab, nur ihr Spitzenkandidat Scholz könne Kanzler werden. Eine Woche nach der Bundestagswahl findet diese Ansicht eine deutliche Mehrheit. Deutschland steht kopf.
Opfer erfolgloser Parteifreunde
Die Union ist Täter und Opfer zugleich. Ihr Kanzlerkandidat, der CDU-Vorsitzende Laschet, wird den Erwartungen der Mehrheit nicht gerecht. Er beschädigte sich und seine Partei.
Ihn bedrängen erfolglose Parteifreunde, die ihn beerben wollen: Söder und Merz schlug er aus dem Feld, Spahn schaffte es nicht, zeitig Impfstoff zu beschaffen, Söder schwächt die CSU seit Jahren ohne Laschets Zutun.
Merz scheiterte dreimal: an Merkel, Kramp-Karrenbauer und jüngst auch an Laschet. Röttgen ruinierte 2012 die NRW-CDU. Damals wurde er vom Hof gejagt. Nun sieht man ihn kreisen und weiß: Es gibt etwas zu holen.
Politisch nahezu vernichtet
Die Ost-CDU lehnt Laschet ab, weil er Merkels Zuwanderungspolitik stützte. Im Osten hat sich die Partei dem Druck der AfD ergeben. Sie verstärkt dort die Volksmeinung, die Einheit wäre eine Bringschuld des Westens.
Junge Union und Konservative lehnen Laschet ab, weil er zu liberal ist. Sie wollen die CDU fundamentalisieren. Wer mit einer verengten, nach rechts gerückten Union koalieren soll, kümmert sie nicht.
Die Union hat sich auf beispiellose Weise demoliert, ihren Parteichef und Kanzlerkandidaten politisch nahezu vernichtet, ihren Ruf als Garantin von Sicherheit ruiniert und sich ihren Konkurrenten zum Ausschlachten dargeboten.
Nicht sicher sein
Bei so viel Elend gerät schnell aus dem Blick, dass die SPD sich selbst betrügt und Wähler in die Irre führt. Sie beansprucht, den Kanzler zu stellen, kann das Amt jedoch nicht erzwingen. Den Kanzler berufen FDP und Grüne.
Die SPD ist es gewohnt, sich stärker zu machen, als sie ist. Vor Monaten drohte sie unter die 10-Prozent-Marke zu rutschen. Dass sie 25,7 Prozent gewann, verleitet sie dazu, sich Wünschen hinzugeben statt zu rechnen.
Grüne und FDP kommen mit 118 Sitzen der Grünen und 92 der FDP auf 210 Mandate, vier mehr als die SPD vorweisen kann. Scholz kann aller 206 SPD-Abgeordneten nicht sicher sein. Viele verhinderten, dass er SPD-Chef wurde.
Den Plan durchkreuzt
Der rechte Sozialdemokrat Scholz hat in der Bundestagsfraktion mit einer Mehrheit der SPD-Linken zu tun. Sie lehnten Scholz ab, weil er die Große Koalition bevorzugte. Sie ist den SPD-Linken verhasst.
In der Rolle des Kanzlerkandidaten trugen sie Scholz nur widerwillig mit. Immerhin bemühten sie sich, ihre Differenzen mit ihm und mit dem rechten SPD-Flügel zu verkleistern.
Scholz mochte sich im Wahlkampf auf keine Koalition festlegen. Die SPD-Linken hatten sich festgelegt. Sie wünschten Rot-grün-rot. Die Wähler haben diesen Plan durchkreuzt.
Vor der Wahl verglüht
Sie wollen offenbar nicht, dass die SPD Deutschland im Bündnis mit den Grünen und der Linken führt. Ein solches Bündnis steht bei der Mehrheit der Bürger im Verdacht, er könnte aus Deutschland Phantasialand machen.
Die SPD ließ vor der Wahl die Große Koalition verglühen. Die Wähler entmachteten beide Ex-Volks- und Regierungsparteien. Nicht sie, sondern FDP und Grüne entscheiden, wo es lang gehen soll und wer mitgehen darf.
Sie wollen nun der Motor der Modernisierung werden. Während der Pandemie hatte sich gezeigt, wie viel die Bündnispartner CDU, CSU und SPD versäumt haben und wie dringlich es ist, die Republik umfassend zu erneuern.
Vertreter des „Weiter so“
Die vielen Defizite aus der Zeit der Großen Koalition rücken die Behauptung, Scholz habe einen glänzenden Wahlkampf geführt, in ein trübes Licht. Es entspringt einer bemerkenswerten Gedächtnislücke.
Die SPD hat bei der Wahl zwar kräftig zugelegt. Ihr Kanzlerkandidat lief jedoch in die falsche Richtung. Scholz thematisierte nicht die Modernisierung, sondern die Sicherung des Bestands. Er kopierte Merkel bis hin zur Raute.
Den Wähler vermittelte er unablässig den Eindruck, er werde regieren wie die langjährige Kanzlerin. Scholz trat als Vertreter des „Weiter so“ auf. Er versprach den Wählern Kontinuität.
Die Laufrichtung ändern
Er trat als männliche Kopie der Kanzlerin auf und gewann viele Merkel-Wähler. Sie bauten darauf, dass er nach der Wahl sein Wort halten werde.
Es zeigt sich: Scholz stand quer im Stall. Nun fragt sich: Kann er in einer Koalition mit den Grünen und der FDP sein Versprechen halten, Kontinuität zu wahren und die Merkel-Ära fortzusetzen?
FDP und Grüne haben angekündigt, sie wollten die Ära Merkel überwinden und die deutsche Politik grundlegend verändern. Will die SPD einbezogen werden, muss Scholz seine Laufrichtung ändern.
In die falsche Richtung geritten
Die Modernisierung, die FDP und Grüne anstreben, könnte Scholz zu einem Relikt einer alten Zeit machen. Die SPD tritt dem Eindruck entgegen, sie ließe sich trotz ihres Wahlerfolgs vom Herd drängen und zum Kellner degradieren.
Diese Gefahr abzuwenden, beansprucht die Partei. Die Hoffnung ihrer linken Mehrheit, mit Rot-grün-rot zu regieren, ist geplatzt, und Scholz bemüht sich zu verbergen, dass er in die falsche Richtung geritten ist.
Der Richtungs- und Rollenwechsel klemmt. Die SPD fordert von den Modernisierern FDP und Grüne, den rechten SPD-Mann Scholz zum Kanzler zu machen, den die linke SPD-Mehrheit kaum erträgt, weil er die Ära Merkel fortsetzen will.
Von Parteifreunden demontiert
Der SPD spielt in die Karten, dass sich die Union als Alternative zur SPD aus dem Rennen nahm. Sie ist dabei, ihren Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Laschet politisch zu vernichten.
Sie muss zuschauen, wie Scholz vergessen macht, dass er ein Jahr lang als Kanzlerkandidat des „Weiter so“ durch die Republik lief. Nun eignet er sich auch noch Laschets Forderung an, die Republik müsse modernisiert werden.
Nach dem Identitätsklau bei Merkel folgt der Themenklau bei Laschet. Er beschämt nicht nur Scholz und die SPD, sondern auch die Union, die gerade dabei ist, ihren CDU-Vorsitzenden Laschet in die Enge zu treiben und zu demontieren.
Vieles versäumt
Während Scholz unverdrossen Kontinuität propagierte und die SPD-Linke von Rot-rot-grün träumt, ist NRW-Ministerpräsident Laschet seit 2017 dabei, im Bündnis mit der FDP das größte Bundesland NRW zu modernisieren.
Erste Etappen haben CDU und FDP hinter sich. Vor diesem Hintergrund erscheint der Identitäts- und Themenklau des Merkel-Imitators Scholz als Ausdruck von Ideen- und Hilflosigkeit.
Die Modernisierer Grüne und FDP liegen weit auseinander. Ihre Differenzen schienen unüberbrückbar. Sie möchten die Kluft überwinden, weil die Wahl die Chance bietet, Union und SPD vieles versäumten und vieles zu erneuern ist.
In Verruf geraten
In der Großen Koalition wollte jeder Partner viel von dem durchsetzen, was in seinen Reihen als vordringlich galt. Diese Projekte befriedigten vor allem die Funktionäre, Mitglieder und Anhänger der Union oder der SPD.
Manches Projekt war gar nicht dringlich. Union und SPD übersahen manchen Bedarf. Über manchen einigten sie sich nicht. Vieles fiel durch das Rost. Kompromisse standen im Verruf. Man verlegte sich auf Gegengeschäfte.
Kompromisse wurden in der Großen Koalition nur zähneknirschend und mit großem Zeitverzug geschlossen. FDP und Grüne wollen nun Kompromisse aufwerten. Sie sollen bisher Unvereinbares miteinander verbinden.
Brücken bauen
Dieser Schritt fällt den künftigen Koalitionspartnern nicht leicht. Sie haben sich bisher gegeneinander profiliert und erst auf der Kommunal- und Landesebene eine noch schwach ausgeprägte Kooperationskultur etabliert.
Es ist absehbar, dass zwischen FDP und Grünen in einer Bundesregierung große Reibungspunkte entstehen werden. Diese Aussicht prägt die Rolle, die der dritte und größte Partner der Dreierkoalition zu spielen hat.
Soll sie funktionieren, muss der Dritte im Bunde, die ehemalige Volkspartei, die viele der Defizite zu verantworten hat, zwischen FDP und Grünen Brücken bauen und sie pflegen. Mit autoritärem Gehabe geht es nicht mehr.
Umsichtig vorgehen
Der Dritte kann nicht mehr bestimmen. Er muss moderieren. Er darf nicht nur seine Interessen ins Spiel bringen. Er muss sie auch mit denen der beiden anderen verzahnen, wenn die Dreier-Koalition erfolgreich sein soll.
FDP und Grüne liegen zwar in manchen Fragen weit auseinander. Sie bringen aber einen großen Vorteil ein, der es ihnen gestattet, mutig aufeinander zuzugehen. Beide Parteien scheinen gefestigt und weitgehend geschlossen.
Der Befund trifft auf Union und SPD, die als dritte Partner infrage kommen und bisher die Regierung bildeten, nicht zu. FDP und Grüne tun daher gut daran, bei der Auswahl des Dritten sorgsam und umsichtig vorzugehen.
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