von Marilene de Paula
Rassismus und Polizeigewalt in Brasilien
Nirgendwo in Lateinamerika werden so viele Menschen von der Polizei getötet wie in Brasilien. Doch davon sind längst nicht alle gleich betroffen. Die Gesellschaft teilt sich in zwei Gruppen, meint die Autorin Marilene de Paula: die „Tötbaren“ und die „guten Bürger*innen“.
Mitten in der Corona-Pandemie, im Mai 2020, wurde der 14-jährige João Pedro in Rio de Janeiro in seinem Zuhause von der Polizei erschossen. 72 Schüsse wurden in den Wohnräumen abgegeben. Wie in den meisten Fällen verwiesen die Behörden anschließend auf den Drogenkrieg. So auch im Fall der achtjährigen Agatha Félix, die im September 2019 auf dem Schulweg getötet wurde, als die Polizei auf vorbeifahrende Motorradfahrer schoss. Solche Fälle sind nichts Ungewöhnliches. Die landesweiten Schlagzeilen über den Tod der Kinder bewegten die Nation. Woher aber kommt die vom Staat verübte Gewalt, der Kinder und Jugendliche ununterbrochen zum Opfer fallen? Was legitimiert einen Beamten, seine Waffe zu ziehen und wahllos um sich zu schießen? Wie kann er sicher sein, dass das, was er tut, ungestraft bleiben wird? Die Antwort auf diese Fragen erfordert eine Reihe von Erklärungen. Doch es gibt ein Phänomen, das eine entscheidende Rolle bei diesen Vorfällen spielt: der strukturelle Rassismus.
Institutionen vertiefen Ungleichheit
Strukturell ist der Rassismus, weil er fest in den brasilianischen Institutionen verankert ist und sich dort durch Zwang und Hierarchie fortsetzt. Die Institutionen wiederum vertiefen die Ungleichheit und sorgen dafür, dass Schwarze in der Subalternität bleiben, beispielsweise durch schlechtere Bildungschancen oder die Verweigerung von Wohnraum, Gesundheit und Sicherheit. Struktureller Rassismus schafft die materiellen Bedingungen dafür, dass die Machtpositionen der einen Gruppe gegenüber der anderen Gruppe statisch bleiben. Er schließt 55 Prozent der Bevölkerung von Vielem aus. So normalisiert der strukturelle Rassismus die bestehenden Hierarchien und Ungleichheiten. Wir nehmen ihn hin, weil er Teil davon ist, wie unsere Gesellschaft „funktioniert“. Schließlich handelt es sich nicht um das Verhalten einer rassistischen Einzelperson, sondern vielmehr um eine Reihe von Aktionen, die einen klaren Verstoß gegen die Rechte eines wesentlichen Teils der Gesellschaft darstellen.
Darum sieht sich die Polizei im Recht, an bestimmten Orten zu extremer Gewalt zu greifen, ohne dabei die Konsequenzen abzuwägen. Sie muss Feinde eliminieren, dabei sind ihre Feindbilder durch soziale und rassistische Stereotype geprägt.
Massaker von Jacarezinho
Nun hatte der Oberste Gerichtshof festgelegt, dass es in Rio de Janeiro während der Pandemie keine Polizeieinsätze geben darf, nur in Ausnahmefällen. Das hat das tägliche Morden allerdings nicht gestoppt. Das Massaker von Jacarezinho im Mai 2021, bei dem 27 zivile Opfer und ein Polizist getötet wurden, ist sinnbildlich. Der Einsatz wurde mit 21 Haftbefehlen wegen Drogenhandel begründet. Als sich zivilgesellschaftliche Organisationen gegen das Massaker aussprachen, entgegnete die Polizei, alles sei „nach Vorschrift“ gelaufen. Vizepräsident Hamilton Mourão sagte, er sei sich „fast sicher“, dass sich der Einsatz gegen Banditen gerichtet habe. Die für den Einsatz verantwortliche Zivilpolizei von Rio de Janeiro verfügte eine fünfjährige Geheimhaltung der Dokumente zu diesem Einsatz, übrigens der tödlichsten Polizeiaktion in der Geschichte des Bundesstaates, sowie aller Dokumente zu Polizeieinsätzen ab Juni 2020, dem Zeitpunkt, ab dem es eigentlich pandemiebedingt keine Einsätze mehr geben sollte.
Die Bilder zeigen Leichen, die durch die Straßen der Favela geschleift werden. Das deutet darauf hin, dass die jeweiligen Tatorte für spätere Untersuchungen durch Expert*innen unkenntlich gemacht werden sollen. Ein achtjähriges Mädchen wird Zeugin einer Hinrichtung, überall Blut. Der Vater des Mädchens fragt: „Was ist mit der mentalen Gesundheit meiner Tochter, wenn sie diese Hinrichtungsszenen sieht?“ Anwohner*innen und Aktivist*innen stellen sich die üblichen Fragen: Fühlt sich die Bevölkerung von Jacarezinho durch das Vorgehen der Polizei sicherer? Werden die Drogenhändler durch diese Aktion beeinträchtigt und werden sie die Favela Jacarezinho deswegen verlassen?
Was in Jacarezinho passiert ist, verstärkt den Eindruck, dass das Leben unterschiedlich viel wert zu sein scheint, je nachdem ob man zu den „Tötbaren“ oder den guten Bürger*innen gehört. Das Profil beider Gruppen ist ziemlich klar definiert: Die „Tötbaren“ sind in der großen Mehrheit Schwarze Jugendliche, die unterbeschäftigt und unsichtbar auf dem informellen Arbeitsmarkt arbeiten, ohne soziale Sicherheit, die in prekären Verhältnissen und weit entfernt von ihrem Arbeitsplatz wohnen und keinen Zugang zu öffentlichen Freizeiteinrichtungen haben. „Gute Bürger*innen“ sind weiße Männer und Frauen, meist aus der Mittelschicht, mit einem guten Bildungsniveau, Arbeitsplätzen mit mittlerem Einkommen, die in den sichersten Gegenden der Stadt wohnen, in denen die Anzahl von Gewaltverbrechen etwa so hoch ist wie in europäischen Ländern.
Die Rolle der Polizei besteht unter anderem darin, den materiellen Schutz der privilegierten Klassen zu gewährleisten, ihre Privilegien also gegenüber den „gefährlichen Klassen“ zu sichern. Zu diesem Zweck wird sowohl physische als auch symbolische Gewalt eingesetzt. Selbst die Schwarzen Männer und Frauen, die den wirtschaftlichen Aufstieg geschafft haben, sind deshalb ständig von der Konfrontation mit der rassistischen Gesellschaft verfolgt.
Geografie des Todes
Brasilien ist das Land mit der zweithöchsten Mordrate in Südamerika und das Land, in dem die Polizei die meisten Menschen tötet. Im Zeitraum von 2018 bis 2019 wurden 11520 Menschen von der Polizei getötet. Die Geografie des Todes überrascht nicht: Zu den meisten Todesfällen durch die Polizei kommt es in der Peripherie, den Favelas und den städtischen Vororten, also den Orten, wo die Schwarze Bevölkerung Wohnraum findet. In Rio de Janeiro kommt es täglich zu Schusswechseln zwischen Polizei, Drogenhändlern und Milizen. Hier sterben auch die meisten Polizist*innen. Regierungen und Behörden scheinen aber kein Problem mit diesem Gemetzel zu haben – es sei denn, man kann es im Wahlkampf für sich nutzen.
Bei der letzten Wahl hatten sich viele Kandidat*innen das Thema der öffentlichen Sicherheit auf die Fahne geschrieben. Im Bundesstaat Rio de Janeiro erklärte Gouverneur Wilson Witzel öffentlich, dass die Polizei jeden „abschlachten“ solle, der bewaffnet sei, auch wenn er keinen Widerstand leiste und kein Risiko von ihm ausginge: „Auf den Kopf zielen und – Feuer.“ Diese „Politik des Schlachtens“ wurde von einem Teil der Bevölkerung billigend hingenommen, womit das alltägliche brutale Vorgehen der Polizei in den Armenvierteln als legitim dargestellt werden konnte. Im Jahr 2019 schossen Polizist*innen aus Helikoptern wahllos auf Verdächtige in diesen Vierteln. Solche Manöver werden als Teil der Sicherheitspolitik gesehen. Nicht nur in Rio, auch auf nationaler Ebene war das politische Projekt erfolgreich, das Gewalt und politische Säuberung gegenüber allen predigte, die sich ihm in den Weg stellen sollten. Im Jahr 2021, als von einem drohenden Putsch die Rede war, forderte Präsident Jair Bolsonaro die Bevölkerung dazu auf, Gewehre zu kaufen. „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt werden“, sagte er. Unter seiner Regierung ist die Gesetzgebung zum Verkauf und Besitz von Schusswaffen gelockert worden. Seit 2017 steigen die Verkaufszahlen, allein im Jahr 2020 wurden 179000 Schusswaffen bei der Bundespolizei registriert. Unter Bolsonaro hat es einen Anstieg um 183 Prozent gegeben. Im vergangenen Jahr kamen 79,3 Prozent der von Brasilianern gekauften Waffen aus Österreich. Der Waffenhandel profitiert von Brasiliens aufstrebender Rüstungsindustrie.
Diese Diskurse hielten auch Einzug ins Parlament, wo teilweise erfolgreich versucht wird, die Gesetzgebung zur öffentlichen Sicherheit zu verschärfen. Die bancada da bala, die „Waffenfraktion“ aus ehemaligen Polizei- und Militäroffizieren, die die Bewaffnung der Bevölkerung und härtere Maßnahmen des Staates gegen Kriminelle fordern, ist ein wichtiger Verbündeter der Regierung Bolsonaro.
Antirassistische Bewegungen gewinnen Kraft
Soziale und politische Errungenschaften der vergangenen Jahre haben in Brasilien und weltweit zum „Coming-out“ von Teilen der Bevölkerung geführt. Bestärkt durch die antirassistischen, feministischen und LGBTIQ*-Bewegungen lehnen sie sich täglich gegen ihren Platz in der Subalternität und dem Gehorsam auf. In dieser zerbröckelnden symbolischen und materiellen Welt gewinnen die antirassistischen Bewegungen an Kraft. Die sozialen Kräfte ordnen sich neu, sowohl im linken als auch im rechten Spektrum. Das bedeutet, dass die nahe Zukunft von permanenten Konflikten gezeichnet sein wird.
Der Kampf gegen Rassismus ist nicht neu. Seit jeher bringt er, abhängig von den vorherrschenden Bedingungen und materiellen Möglichkeiten, neue Formate und Akteur*innen hervor. Der heutige Aktivismus verfügt über die technischen Mittel seiner Zeit: die sozialen Netzwerke. Die Bewegungen sind fragmentiert, mit mehreren Führungsfiguren und neuen Gesichtern.
Wie in den USA, haben sich auch in Brasilien Teile der weißen Bevölkerung den Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt angeschlossen. Prominente und Fußballspieler mit Millionen Follower*innen geben Schwarzen Denker*innen und Aktivist*innen in ihren sozialen Netzwerken Raum für Debatten. Dass die eigenen Lebensumstände und Privilegien nicht das Ergebnis von Leistung, sondern des Weiß-Seins sind, ist eine Einsicht, die sich in dieser Zeit stark verbreitet. In dieser Zeit ein politisches Projekt zu unterstützen, das weiterhin das Leben und die Rechte derer missachtet, die von Macht und Einfluss ausgeschlossen sind, ist rassistisch. Der Kampf gegen Rassismus kann nicht nur die Aufgabe der Schwarzen sein. Ihn zu überwinden und zu delegitimieren ist die Aufgabe aller.
Die Proteste in den USA und Brasilien zeigen, dass die gewaltsame Unterdrückung eines Teils der Gesellschaft nicht länger ohne Widerstand als natürlich dargestellt werden kann. Das stärkt die Bewegungen von Müttern der Opfer von Polizeigewalt, die Proteste innerhalb der Favelas, die Zusammenschlüsse junger Journalist*innen sowie die wachsende und erstarkende Bewegung der Schwarzen Frauen, um nur einige der in Brasilien repräsentativsten Bewegungen zu nennen. Antirassistischen Widerstand gibt es jedoch nicht nur innerhalb der organisierten Bewegungen. Er findet auch dort statt, wo die Schwarze Geschichte und Identität besonders präsent ist, wie in Kultstätten und Zentren der Religionen afrikanischen Ursprungs, in den aus den Siedlungen entflohener Sklav*innen entstandenen Quilombola-Gemeinden und in der Kultur, die sich im Verborgenen und in der Peripherie entwickelt.
Netzwerke für Schutz und Solidarität stärken
Dieser Jahrhunderte währende Kampf hat wichtige Fortschritte hervorgebracht, wie beispielsweise die Anerkennung der Quilombola-Gemeinden und die Vergabe von Landtiteln, die Quotenregelungen und Inklusionsprogramme an Universitäten und im Öffentlichen Dienst, oder die Regierungssekretariate für ethnische Gleichstellung. Bedauerlicherweise leugnet die aktuelle Regierung die Existenz von Rassismus. Der Präsident selbst zeigt sich in seinen Erklärungen rassistisch und sexistisch und fördert fortwährend den Abbau der Institutionen und der Politik zu diesem Thema.
Wir wissen, dass die entscheidenden Impulse von denjenigen gegeben wurden, die tagtäglich unter den Auswirkungen von Rassismus leiden. Aus diesem Grund müssen die Netzwerke für Schutz und Solidarität gestärkt werden, um Hilfesuchende aufzunehmen, Debatten anzuleiten und Änderungen und Stellungnahmen einzufordern. Dies bedeutet auch, von den politischen Akteur*innen der Linken einzufordern, den antirassistischen Kampf zu einer Priorität zu machen, sowohl bei der politischen Auseinandersetzung als auch bei der Vergabe von einflussreichen Positionen an Schwarze. Wir müssen die Felder bewässern, damit neue Marielles aufblühen. Sie werden eine Rolle spielen, bei der Forderung nach einer neuen Politik. Marielle Franco, die Schwarze Stadträtin aus Rio de Janeiro, die von Milizen umgebracht und zu einem landesweiten Symbol für den Kampf gegen Rassismus und für Frauenrechte wurde, hat nicht umsonst zwei Themen in ihrer Arbeit priorisiert: die öffentliche Sicherheit und die Förderung von Frauenrechten.
Das alles ist keine leichte Aufgabe. Eine großartige Sprecherin der amerikanischen Feminismus- und Antirassismus-Bewegung, Angela Davis, hat uns gewarnt: „In einer rassistischen Gesellschaft reicht es nicht, kein Rassist zu sein. Man muss Antirassist sein.“ Für Brasilien trifft sie damit den Nagel auf den Kopf. Und von Heinrich Böll stammt ein weiteres passendes Zitat: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ Wir müssen Lösungen finden, die über die individualisierte und konsumorientierte Gesellschaft hinausgehen, in der wir leben. Wir müssen uns denjenigen anschließen, die sagen #BlackLivesMatter oder #VidasNegrasImportam.
Die Autorin ist Projektkoordinatorin für Menschenrechte in Rio de Janeiro für die Heinrich-Böll-Stiftung. Zuerst erschienen auf www.boell.de, die Autorin hat den Beitrag für die ila aktualisiert. Übersetzung: Kirsten Grunert. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 449 Okt. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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