Vor fünfzig Jahren wurde der erste Organspendeausweis ausgegeben. Anlass war, dass im Hamburger Uniklinikum seit März 1970 neun Nieren verpflanzt wurden, von denen nur eine von einem Spender aus der Nähe Hamburgs kam, die anderen jedoch aus dem Ausland stammten. Hamburg reagierte und gab ab 3. November 1971 Spenderausweise für Organtransplantationen aus. Die Karte enthielt eine rechtsverbindliche Einverständniserklärung, dass im Falle eines unstrittig festgestellten Todes Organe entnommen werden dürfen (zunächst nur Nieren).
Soweit das Verfahren, wie es sich bundesweit durchgesetzt hat. 84 % der Deutschen stehen einer Organspende generell positiv gegenüber (repräsentative Umfrage der Bundesregierung), aber nur 39 % verfügen über einen Organspenderausweis. Leider sind es nicht mehr, denn auf eine Million Bürger/innen kommen jährlich nur rund 16 Organentnahmen. Trotz vieler Werbung sind das viel zu wenig. Täglich sterben drei Menschen, die eine Organspende hätte retten können. Daher gibt es lange Wartelisten mit Kranken, die auf eine Organspende warten. 2020 gab es 9.500 wartende und 930 Organspenden.
Dieser Mangel liegt vor allem daran, dass in Deutschland jahrzehntelang die sogenannte Zustimmungslösung galt, wonach Organe nur entnommen werden dürfen, wenn die/der Spendende zu Lebzeiten das Einverständnis erklärt hat. Seit Anfang 2012 gilt die Entscheidungslösung, die aber nicht mehr ist als eine erweiterten Zustimmungslösung. Neu ist, dass die Bürger/innen regelmäßig mit ergebnisoffenen Informationen versorgt werden, um sie zu einer Entscheidung zur Organspende zu motivieren. Eine Pflicht zur Entscheidung besteht nicht. Der nationale Ethikrat hat eine Erklärungspflichtregelung vorgeschlagen, von der er die größte Klarheit über den Willen der Betroffenen erwartet. Danach würden alle Bürger/innen verpflichtet zu erklären, ob sie einer Organspende zustimmen oder widersprechen. Die Erklärung könnte auch beinhalten, dass man sich nicht äußern will.
Die höchste Zahl an Organspenden erbringt die Widerspruchslösung, wie sie in den weitaus meisten europäischen Staaten gilt (auch in überwiegend katholischen wie Polen und Spanien). Hat die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Organspende nicht ausdrücklich widersprochen, so können Organe zur Transplantation entnommen werden. In einigen Ländern haben die Angehörigen das Recht, einer Organentnahme zu widersprechen, wenn keine Entscheidung der verstorbenen Person vorliegt. Bei Auslandsaufenthalten gilt die dortige Regelung. Die Wirkung der Widerspruchslösung zeigt sich in den Organspenderzahlen: Spanien 48 Spender/innen pro eine Mio. Einwohner, Portugal 34, Italien 28, Frankreich 30 und Deutschland nur 11,5.
Einer/m verstorbenen Spender/in können fünfzehn verschiedene Organe und Gewebe entnommen werden. Neben Herz, Lunge, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse u.a. auch Darm, Haut, Hornhaut, Knochen, Knorpel, Sehnen und Gewebe. Bis zu sieben Leben können damit gerettet werden. Wegen der knappen Ressourcen gibt es strenge Regeln für Organtransplantationen. Organspenden dürfen nicht bezahlt werden, es gibt keine Entschädigungen, ein Handel damit ist verboten (bekanntlich führt dies zu kriminellen Organvermittlungen im Ausland). Auch Lebendspenden sind zulässig, allerdings nur zwischen Menschen, die verwandt sind oder sich in einer anderen Form nahestehen.
Eine besondere Bedeutung hat die Warteliste. In sie werden Patient/innen aufgenommen, die aus medizinischen Gründen eine Transplantation benötigen. Ausschlaggebend ist der zu erwartende Erfolg und die Bedeutung der Transplantation für das Überleben und die Lebensqualität der Patient/innen. Für jedes zu verpflanzende Organ gibt es individuelle Bedingungen. Die Wartelisten werden von dem jeweiligen Transplantationszentrum geführt; in Deutschland gibt es etwa fünfzig solcher Einrichtungen.
Die Transplantationszentren geben die erfassten Daten an die gemeinnützige Stiftung Eurotransplant weiter, in der acht europäische Staaten zusammenarbeiten. Eurotransplant sichtet die Wartelisten, prüft die Dringlichkeit, ermittelt die geeigneten Empfänger/innen und besorgt den internationalen Austausch der Spenderorgane. So soll eine möglichst effektive Nutzung der gespendeten Organe und der Versorgung der Patient/innen gewährleistet werden.
Der eklatante Mangel an Spenderorganen und die positiven Erfahrungen jener Länder, in denen die Widerspruchslösung gilt, haben nach langen Diskussionen 2019 im Deutschen Bundestag zu einem Gesetzentwurf zugunsten einer doppelten Widerspruchslösung geführt. Antragsteller waren u.a. die Parlamentarier Spahn und Lauterbach. Bei der Widerspruchslösung lassen sich Nichtspender/innen in ein Register eintragen oder halten dies auf einem Organspenderausweis oder einem anderen Dokument fest. Zusätzlich werden noch Verwandte befragt, ob der Verstorbene ihnen gegenüber eine Spende abgelehnt hat (daher der Name „doppelte Widerspruchslösung“).
Dem stand ein Gesetzentwurf zugunsten einer modifizierten Entscheidungslösung („Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“) gegenüber, u.a. formuliert von Annalena Baerbock. Die Abstimmung erfolgte am 16. Januar 2020; dabei erhielt die Entscheidungslösung 432 Stimmen bei 200 Gegenstimmen und 37 Enthaltungen. Eine Fraktionsbindung gab es bei der Abstimmung nicht. In der vorhergehenden Lesung hatten noch 261 Abgeordnete gegen diese Regelung gestimmt.
Damit haben sich Abgeordnete durchgesetzt, die aus moralischen, religiösen oder esoterischen Motiven eine Lösung favorisiert und beschlossen, die jährlich tausende von Toten in Kauf nimmt. Eine Anhängerin der Widerspruchslösung brachte es auf den Punkt mit der Feststellung, dass abgewogen werden muss zwischen der Unverletzlichkeit des Leichnams und der Rettung von Leben. Mit seiner Entscheidung hat die Bundestagsmehrheit Schwerkranke und deren Angehörige, die Hoffnungen auf ein neues Gesetz gesetzt hatten, massiv enttäuscht.
In der Debatte wurde gelegentlich der irrige Eindruck erweckt, die Widerspruchslösung führe zu einer unentrinnbaren Pflicht zur Organspende. Das ist natürlich nicht so. Die Widerspruchslösung stellt die Selbstbestimmung und die persönliche Entscheidungsfreiheit nicht in Frage. Sie zwingt nicht zur Zustimmung, aber sie zwingt zum Nachdenken und zum Entscheiden. Sie wird auch jenen Menschen gerecht, die an das Ewige Leben glauben und daher befürchten, nach einer Organspende dort unvollständig anzukommen. Man muss ihnen wegen der Glaubensfreiheit und aus Toleranzgründen eine ablehnende Haltung zubilligen. Um diese sicherzustellen, reicht die Widerspruchslösung.
Um den Mangel an Organspenden zu überwinden oder zumindest zu lindern, hat sich der Nationale Ethikrat 2007 in einem ausführlichen Gutachten um eine geeignete Lösung bemüht. Ihm erscheint es „unvertretbar, Möglichkeiten des Helfens und Heilens wie die Organtransplantation nicht zu nutzen und sie erkrankten Menschen vorzuenthalten.“ Diese Beistandspflicht ergibt sich für ihn “aus dem elementaren Gebot der Nächstenliebe oder der Mitmenschlichkeit …., die einem von schwerer Krankheit oder dem Tod bedrohten Person geschuldet ist.“ Daher könne „die Verweigerung der Organspende nicht voll und ganz in das Belieben des Einzelnen gestellt werden.“ Dieser solle auch überlegen, wie er die Transplantation als möglicher Organempfänger beurteilen würde.
„Die Bereitschaft zur postmortalen Organspende“, so der Ethikrat, „ist ethisch als die objektiv vorzugswürdige Alternative anzusehen.“ Der Aufschub einer bewussten Entscheidung stelle keine menschlich befriedigende Antwort dar“, darum rufe der Ethikrat „zu einer verantwortlichen und frühzeitigen eigenen Urteilsbildung“ auf. Gleichwohl müsse dabei bleiben, dass niemand rechtlich oder moralisch dazu genötigt werden darf. Ein allgemeines Verfügungsrecht der Gesellschaft über den menschlichen Körper bleibe mit dem Prinzip der Selbstbestimmung unvereinbar.
Als Konsequenz seiner Bewertung spricht sich der Ethikrat für eine Kombination der Erklärungs- mit der Widerspruchslösung aus und fordert den Staat auf, dafür ein geregeltes Verfahren zu entwickeln. Angesicht des Vorrangs für Helfen und Heilen sei es legitim, unschlüssiges Verhalten hintan zu stellen und der möglichen Lebensrettung Vorrang einzuräumen. Weiter heißt es, dass „Ein solcher Weg zugleich geeignet ist, …. Forderungen nach finanziellen Anreizen zur Organspende abzuwehren.“
Dem Ethikrat ist bewusst, dass sein Vorschlag in das Selbstbestimmungsrecht eingreift. Dennoch hält er ihn für vereinbar mit den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes (Achtung der Würde des Menschen, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit). „Verfassungsrechtlich geschützt“, so der Ethikrat, sind „nicht nur die Rechte potentieller Organspender und ihrer Angehörigen, sondern auch die Belange derjenigen, die für ihr Überleben oder die Behandlung ihrer Krankheit auf ein Spenderorgan angewiesen sind.“ Leider ist diese überzeugende Analyse und Argumentation offenbar bei den meisten Abgeordneten auf taube Ohren gestoßen.
Manche Organspender/innen vertreten die Auffassung, dass ihre Organe nur solchen Personen transplantiert werden sollten, die selbst Organspender/innen sind. Sie sehen nicht ein, jemandem zu helfen, der in einer ähnlichen Notlage selbst nicht spenden will. Für diese Haltung wird der Begriff „Solidaritätslösung“, „Reziprozitätsmodell“ oder „Clublösung“ verwendet. Die Vertreter/innen dieser Haltung sehen als unfair an, wenn sich jemand als Organspender/in verweigere, selbst aber auf die Spendenbereitschaft anderer vertraue. Um einer derartigen „Trittbettfahrermentalität“ entgegenzuwirken, schlagen sie gesetzliche Regelungen vor. Spendenverweiger/innen sollten überhaupt keine Organe zur Verfügung gestellt werden oder sie sollten auf der Warteliste nachrangig behandelt werden. Zumindest sollte es Organspender/innen ermöglicht werden, den Kreis der potentiellen Empfänger/innen ihrer Organe derart einzuschränken, dass potentielle Spender/innen bevorzugt werden.
Ein Solidaritätslösung würde gewiss die Zahl der Organspender/innen steigern. Nach der geltenden Rechtslage bestehen jedoch Probleme, eine der genannten Bedingungen durchzusetzen. Ein entsprechender Zusatzvermerk, wie er auch schon seit Jahrzehnten auf dem Spenderausweis des Autors steht, würde wahrscheinlich keine rechtliche Bindung entfalten. Vertreter/innen der Clublösung wird zudem vorgehalten, dass sie damit einem vom Tod Bedrohten Hilfe verweigern würden, weil er sich in der Vergangenheit falsch verhalten hat. Dagegen kann man einwenden, dass die Organspende nicht verloren geht, sondern einem anderen Schwerkranken zugute kommt.
Welche Möglichkeiten unsere Rechtsordnung bietet, zeigt § 323c des Strafgesetzbuchs: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Offenbar erlauben unsere Gesetze es, jemanden ohne dessen vorherige Zustimmung zur Hilfe für den Mitmenschen zu verpflichten, sogar unter Androhung einer Strafe. Das hätten diejenigen Abgeordneten erwägen sollen, die die Widerspruchslösung abgelehnt haben.
Nun wird man Hilfe bei Unglücksfällen und Organspende nicht unbedingt gleichsetzen können. Obwohl das Erfordernis und die Zumutbarkeit, wie es § 323c verlangt, offenkundig gegeben sind. Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob die Entnahme von Organen von einem verstorbenen Menschen wirklich ein so tiefgreifender Einschnitt ist, dass man sie nur bei Wahrung anspruchsvoller Voraussetzungen zulässt. Wenig Verständnis verdienen diejenigen, die sich zwar für eine Feuerbestattung, nicht aber für eine Organspende entscheiden. Und man muss sich fragen, ob diejenigen, die die Widerspruchslösung ablehnen, guten Gewissens Spenderorgane aus Ländern annehmen wollen, in denen diese Lösung gilt.
Die Bandbreite des Rechtssystem zeigt auch das Konstrukt der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677-687 BGB). So kennt die medizinische Praxis zumindest drei Fälle, bei denen weder mit dem Patienten noch mit seinen Angehörigen ein Aufklärungsgespräch geführt oder ein Behandlungsvertrag geschlossen wird, und dennoch Ärzte tätig werden: Schwere Unfälle, wenn die/der Verunglückte nicht ansprechbar ist; Atem- und Herzstillstand; misslungene Selbstmordversuche. In den Fällen eins und zwei handeln die Ärzte nach dem mutmaßlichen Willen der Person, im Falle drei sogar dagegen.
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