Interview von Gerold Schmidt mit Ana de Ita zu den Folgen des Freihandelsabkommens TLCAN/NAFTA für das ländliche Mexiko
Vor 30 Jahren begannen die Verhandlungen über den Abschluss eines Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (spanisch TLCAN, englisch NAFTA) zwischen Kanada, den USA und Mexiko, das schließlich am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Während die, überwiegend unter internationaler Kontrolle stehende, mexikanische Teilfertigungs- oder Maquilaindustrie durch den vereinfachten Zugang zum US-Markt gewisse Vorteile hatte, war die kleinbäuerliche Landwirtschaft Mexikos nicht annähernd in der Lage, mit den Billigprodukten der hochtechnisierten US-Betriebe zu konkurrieren. Durch TLCAN/NAFTA hat sich in den ländlichen Regionen Mexiko vieles verändert. Neoliberale Poltiker*innen in aller Welt werben für Freihandelsabkommen immer gerne mit dem Argument, sie würden den wirtschaftlichen Fortschritt in den Ländern des Südens befördern und damit auch „Fluchtursachen bekämpfen“. Die Folgen von TLCAN/NAFTA in Mexiko sind ein Lehrstück dafür, dass es genau umgekehrt ist: Freihandelsabkommen befördern Flucht und Migration. Über die Folgen von TLCAN/NAFTA für das ländliche Mexiko sprach Gerold Schmidt mit Ana de Ita vom Studienzentrum zum Wandel auf dem Land in Mexiko.
Was haben die Verhandlungen zum und der Abschluss von TLCAN/NAFTA für den ländlichen Raum bedeutet?
Die tiefgehenden Veränderungen nahmen vor 30 Jahren ihren Anfang. Die Regierung wollte das alte Modell beenden. Sie strebte den Übergang von einer geschlossenen Wirtschaft mit erheblichen Interventionen des Staates zu einer offenen Wirtschaft an. Den neoliberalen Initiatoren dieser Veränderungen war besonders die Struktur des Landbesitzes ein Dorn im Auge. In Mexiko ist die Hälfte des Bodens in Kollektivbesitz. Das heißt, das Land gehört den Ejidos und den Agrargemeinden. Die Salinas-Regierung (1988-1994) machte die Ejidos für die kleine Parzellierung, die Landarmut und fehlende Investitionen und Ressourcen verantwortlich. Damit Ejidos und Landgemeinden in einer geschlossenen Wirtschaft funktionieren konnten, waren zudem staatliche Einrichtungen wie eine Kreditbank für Kollektivdarlehen, Saatgutunternehmen, Kommerzialisierungsinstanzen, Dünger- und Futterunternehmen, fachliche Beratung, eine Landwirtschaftsversicherung nötig. Salinas wollte diese Einrichtungen samt und sonders privatisieren, um den ländlichen Raum zu „modernisieren“.
Eine konkrete Auswirkung war die Reform des Verfassungsartikels 27 und der Agrargesetzgebung, um die Privatisierung des Ejidos zu ermöglichen. Zudem wurde das Ende der Landverteilung durch den Staat verkündet. Seit der mexikanischen Revolution (1910 – 1917) bis 1992 hatte die landlose Bevölkerung ein Recht darauf. Dem Ejido wurde die Möglichkeit gegeben, sein Land an Nicht-Mitglieder zu verpachten, Allianzen mit nationalen und ausländischen Unternehmen abzuschließen. Seit 1992 darf Ejido-Land nun unter bestimmten Bedingungen vollständig privatisiert, sprich verkauft werden. Offiziell sollte dies die Investitionen auf dem Land und die Eigeninitiative der Kleinbauern beflügeln.
Hintergrund der Reformen von 1992 waren jedoch die bereits begonnenen TLCAN/NAFTA-Verhandlungen mit Kanada und den USA. Für den Vertrag sollten alle denkbaren Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Das Ergebnis der Reformen war die praktisch vollständige Privatisierung der staatlichen Unternehmen, die die bis dahin bestehende Agrarstruktur unterstützten. Ejidos und Kleinbäuer*innen standen auf einmal ohne Unterstützung da. Ihnen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht umsonst kam es 1994 zum Aufstand der Zapatist*innen im Bundesstaat Chiapas. In Chiapas war die Agrarreform nie wirklich angekommen. Dort blieben Großgrundbesitz und die Oligarchien immer bestimmend. Das verkündete Ende der Agrarreform drohte diesen Zustand zu zementieren.
Indigene verteidigen ihre Territorien
Was waren die konkreten Auswirkungen von TLCAN/NAFTA?
Mit TLCAN/NAFTA gingen in einer ersten Periode mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze auf dem Land verloren. Vielfach handelte es sich um kleinbäuerliche, familiäre Arbeitskraft. Das bäuerliche Einkommen reichte für diese Mexikaner*innen vom Land nicht mehr aus. Sie mussten sich andere Arbeit suchen, im urbanen Bausektor, als Tagelöhner*innen oder als schlecht bezahlte Bedienstete in nahegelegenen Städten. Eine weitere Folge war die Migration. Sie war ein Ventil für die Probleme in den Dörfern, bis die USA die Grenze immer dichter machten. Heute finanziert sich die Landbevölkerung zu einem großen Teil über die remesas, die Auslandsüberweisungen der Familienangehörigen in den USA. Nach einigen Studien machen die Lohnarbeit in den Städten, remesas und Sozialprogramme inzwischen den überwiegenden Teil der Einkünfte aus. Das bedeutet aber nicht, dass der ländliche Raum überall nur noch eine Wartehalle ist, in der die Menschen so lange bleiben, bis der Absprung möglich ist. Wir finden dort ebenso den Widerstand gegen die Landnahme, gegen den Raub der Naturgüter, gegen Megaprojekte.
2007 wurde mit einer weiteren Reform der Bergbau als Alternative zum Landbau gepusht. Auch die Wassergesetzgebung erfuhr in diesem Kontext Änderungen. Die Folgen sehen wir heute unter anderem in einem Bundesstaat wie Zacatecas. Dort verpachteten Campesinos/as ihr Land US-amerikanischen und kanadischen Bergbauunternehmen. Ihr Land ist zerstört, unbrauchbar für den Anbau, es gibt enorme soziale Konflikte. Der Bergbau macht das Leben in den Dorfgemeinden unmöglich. Vor allen Dingen die indigene Bevölkerung hat daraus ihre Lehren gezogen. Sie verteidigt ihr Territorium gegen aufgezwungene Projekte. 2013 kam dann die große Energiereform. Sie verlieh allen extraktiven Projekten die Priorität vor der landwirtschaftlichen Nutzung. Stauwerke, Tagebau, andere Megaprojekte haben die Menschen aus ihren Territorien vertrieben.
Organisiertes Verbrechen – würdiges kleinbäuerliches Leben kaum möglich
Gleichzeitig fasste das organisierte Verbrechen immer mehr Fuß im ländlichen Raum…
Die fehlenden Alternativen für die Bevölkerung haben den Boden für das organisierte Verbrechen im ländlichen Raum bereitet. Viele junge Leute in den Gemeinden sehen sich nicht mehr als Campesinos, sie haben auch keine Zukunft in den Gemeinden, es sei denn, sie wählen den scheinbar einfachen Weg, sich dem organisierten Verbrechen anzuschließen. Die erhebliche Zunahme der Gewalt im ländlichen Raum hat viel damit zu tun, dass ein Modell zerstört wurde. Es hatte im kollektiven Landbesitz eine Grundlage und konnte sich reproduzieren. Selbst wenn es diese Möglichkeit nicht allen Familienmitgliedern bot, so war es doch eine Option. Heute ist die Option für die Jugendlichen Armut und Elend.
Es gab einen schleichenden Prozess in den vergangenen 30 Jahren. Ohne dass wir es richtig bemerkt haben, ist ein würdiges kleinbäuerliches Leben ohne Entbehrungen kaum mehr möglich. Der ländliche Raum und das bäuerliche Leben stehen im offenen Disput mit den Drogenkartellen um die Territorien. Kartelle und extraktive Projekte gegen dabei oft Hand in Hand. Die Unternehmen setzen den „Narco“ dazu ein, verschiedene Funktionen zu erfüllen: die Opposition ruhigzustellen, sich gegen Projekte wehrende Personen verschwinden zu lassen, Bergwerke auszubeuten und das Material zu transportieren. Das treibt die indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden immer weiter in die Enge. Der ehemals ruhige ländliche Raum ist zu einem aktuell gewalttätigen Raum geworden. Es gibt wenige Orte, die von dieser systematischen Gewalt frei sind. Wo dies so ist, ist das vor allem auf den starken Organisationsgrad auf Gemeindeebene zurückzuführen.
Wie würdest du in Anbetracht der heutige Lage ein kurzes Fazit ziehen?
Die bäuerlichen Bewegungen sind durch ein neoliberales Modell stark geschwächt oder zerstört worden, das sie ohne jegliche Rückendeckung der Konkurrenz mit den transnationalen Konzernen aussetzte. Im Rahmen der Handelsöffnung hatten auch die mittelgroßen mexikanischen Erzeuger keine Chance. Die Großen wurden noch größer und die Kleinen noch kleiner. Letztere flüchteten sich in die Selbstversorgung und Selbstmarginalisierung.
Keine soziale Kohäsion
Die aktuelle Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador hat mehrfach verkündet, die neoliberale Periode beenden zu wollen. Es gibt ein Programm für Garantiepreise, es gibt das Programm Sembrando Vida, also die massive Pflanzung und Obstbäumen und Nutzhölzern. Die Regierung sagt, sie will den Landbau und die ländlichen Gebiete wiederbeleben. Siehst du da positive Aspekte?
Nein. Wenn überhaupt, dass angeblich die Subventionen für die Großproduzenten und die Multis wegfallen sollen. Die Programme für die kleinen Erzeuger bringen nichts, denn sie beziehen keine gemeinschaftlichen Subjekte ein. Für diese Regierung existieren keine Organisationen. Das soziale Subjekt sind jetzt die Individuen. Die Programme zielen eher darauf ab, die Organisierung zu verhindern und zerstören. Der ländliche Raum wird dadurch noch viel schwächer. Die kriminelle Wirtschaft wird auf diese Weise noch mehr wachsen können. Es gibt keine soziale Kohäsion, die die Gemeinde verteidigen kann.
Stattdessen existiert eine politische Klientel, und die Politik beruht auf Subventionen. Aber selbst diese Unterstützung für die Armen ist nicht immer real. Ein Beispiel: Die Garantiepreise greifen auf die Zeit vor der neoliberalen Periode in einer geschlossenen Wirtschaft zurück. Damals hatte der Staat noch ausreichende Kapazität und Infrastruktur, um den Markt für Grundnahrungsmittel zugunsten der Erzeuger*innen und der Verbraucher*innen zu regulieren. Heute sind die Garantiepreise Flickschusterei. In ihren Genuss kommen nur die ganz kleinen Campesinos/as, die ihre Ernte in der Regel für die Selbstversorgung nutzen, nicht für den Verkauf. Die aufgekaufte Menge ist lächerlich. Sie erreichte beim Mais im ersten Jahr nicht einmal ein Prozent der Kleinbäuer*innen mit einer Fläche von weniger als fünf Hektar, im zweiten Jahr fünf Prozent. Das hat nicht die geringste Auswirkung auf die landwirtschaftliche Produktion. Der Bedarf an Subventionen ist unzweifelhaft groß. Aber Programme aufzuwärmen, die in einem anderen makroökonomischen Kontext betrieben wurden, ist eine Dummheit.
Über das Programm Procampo gibt es Produktivitätssubventionen. Dabei werden dieselben Kriterien und Klassifizierungen beibehalten wie unter den neoliberalen Regierungen. Aber die mittelgroßen Erzeuger*innen werden durch einen Federstrich ganz aus dem Programm gekegelt.
Was hältst du konkret vom Programm Sembrando Vida?
Sembrando Vida (Leben säen) ist mit wesentlich mehr Ressourcen ausgestattet. Doch es erreicht nur 420 000 von rund fünf Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen. Auch hier gilt: Das Geld geht nicht an das Ejido, nicht an die Agrargemeinde. Die Subvention erfolgt individuell. Dabei sind die Entscheidungskriterien unklar. Das Programm galt anfangs als durchaus neuartig. Der Bedarf ist zweifellos da. Sembrando Vida wurde auch als eine Unterstützung für die jungen Leute auf dem Land angesehen. Doch in einer Gemeinde kommen zwei Personen in den Genuss des Programms, in anderen zehn. Damit wird keine Organisation gestärkt. Vielfach wird der Wiederaufforstungsaspekt in den Vordergrund gestellt, nicht der Aspekt der Selbstversorgung bei Nahrungsmitteln. Für die Berater ist die Zahl der gepflanzten Bäume wichtig. In manchen Regionen konkurriert das Programm mit der Milpa, dem Maisfeld, das für die Eigenversorgung der Familien wichtig ist.
Das Programm kann auch als Versuch angesehen werden, vorausschauend der Kritik am Transisthmischen Korridor und am Maya-Zug zu begegnen. Diese Projekte implizieren Entwaldung. Die Regierung wird damit argumentieren, dass sie dies mit der Million Hektar kompensiert, die im Rahmen von Sembrando Vida aufgeforstet werden sollen. Ceccam hat aufgezeigt, dass die Programmmittel teilweise auf die Gemeinden entlang der Tren Maya-Strecke konzentriert werden. In den Programmregeln für 2021 wird zudem offen erwähnt, dass die 68 Landkreise im Einzugsbereich des Transisthmischen Korridors unterstützt werden müssen.
Organisierung stärken statt brechen
Welche Schritte müsste es denn geben, damit das ökonomische Überleben im ländlichen Raum eine Zukunft hat, damit die Bevölkerung auf dem Land ein würdiges Leben führen kann?
Noch bestehende bäuerliche Organisierung, die der Ejidos, der Agrargemeinden, der Erzeuger*innen muss gestärkt werden, statt sie zu brechen. Das ist der Weg, ein zukunftsfähiges Leben im ländlichen Raum zu garantieren. Die aktuelle Regierung sagt von sich, nicht neoliberal zu sein. Doch sie hat die neoliberalen Subventionsformen bestehen lassen. Das Bildungssystem, die Schulen müssen funktionieren, das Gesundheitswesen. Es muss vom Staat bezahlte Kliniken und Krankenhäuser geben, Straßen und Wasser. Stattdessen werden die Leute ihrem Schicksal überlassen, ohne Schutz gegenüber denen, die auf deren Ressourcen erpicht sind. Diese haben einen Freibrief. Die in der neoliberalen Zeit reformierten Gesetze erlauben ihnen Straffreiheit. Diese Gesetze müssten entscheidend verändert werden. Sonst ist die Zusicherung, nicht neoliberal zu sein, nur eine Maske.
Es muss auf dem Land öffentliche Dienstleistungen geben, die ein würdiges Leben erlauben, keine individuellen Subventionen, damit du dein Sandwich und drei Aspirin kaufen kannst. Stattdessen wird mit Großprojekten darauf gesetzt, die „Rückschrittlichkeit“ zu überwinden. Es hat früher schon viele Versuche gegeben, die Kleinbauern und -bäuerinnen loszuwerden. Ich sehe das auch unter dieser Regierung. Gleichzeitig gibt es auf dem Land die größten Widerstände. Dabei geht es nicht nur darum, die Dorfgemeinde zu verteidigen, sondern die Umwelt, den Wald, das Wasser. Von diesen Ressourcen hängen wir alle ab. Gegen die Landbevölkerung und vor allem gegen die autochthonen Gemeinden vorzugehen hat einen Preis, den wir alle bezahlen werden.
Das Interview führte Gerold Schmidt im September 2021. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 451 Dez. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
Letzte Kommentare