Wer gewinnt in der Ukraine?
Niemals wird so viel gelogen, wie vor, im und nach dem Krieg. Seit Dienstag und dem Besuch des Bundeskanzlers bei Wladimir Putin hat sich die Lage in Europa nicht entspannt, sondern schnell weiter zugespitzt. Zugespitzt auch in der Rhetorik und den offiziellen Erklärungen der westlichen Länder und der NATO. Einer offensichtlichen Ignoranz russischer Forderungen durch den Westen steht eine ebenso ignorante Fortsetzung von Drohgebärden gegenüber. Mit immer neuen Manövern rund um die Ukraine, Demonstration von Seemacht und dem Vorzeigen neuer Atomraketen, Hyperschallwaffen, die ähnlich wie in den 80er Jahren Pershing II und SS 20 die Vorwarnzeit eines atomaren Angriffs von 20 auf etwa sechs Minuten verkürzen. So von der eigenen Potenz besoffen, masturbierte sich die Kreml-Führungselite selbst militärisch in eine politische Sackgasse. Es verdichten sich die Anzeichen von Hybris auf beiden Seiten. Grund genug zu fragen: Wer hat hier möglicherweise wem eine Falle gestellt?
Abenteuerliches Schauspiel des Westens: die Münchener Sicherheitskonferenz
Die “Münchener Sicherheitskonferenz”, zeitweise aufgrund der internationalen hochrangigen Beteiligung ein wirkungsvolles Dialogforum, um zwischen potenziellen Gegnern Spannungen zu erkennen und zu vermeiden, versagte beim letzten Auftritt Ischingers als Leiter aufgrund dessen Eitelkeit. Anstatt den aus Beijing zugeschalteten und im Falle des Ukrainekonflikts ungewöhnlich differenziert argumentierenden Außenminister Chinas genauer nach seiner Einschätzung nachzufragen und damit ggf. Kritik an Putins Taktik herauszukitzeln, vergeudete der früher so kluge Berufsdiplomat Zeit mit voraussehbarem Geplänkel über die Lage der Uiguren.
Auch bei der Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj hörte keiner wirklich hin, denn der forderte unverhohlen Klarheit über die Möglichkeit der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, von der alle wissen, dass sie aufgrund der geostrategischen Situation auf Jahre hin ausgeschlossen ist. Ein klares Nein, so steht da zwischen den Zeilen zu lesen, hätte für ihn und für Putin sofort eine bessere Verhandlungsgrundlage geschaffen. Nur will das niemand klar aussprechen und so flüchten sich die westlichen Verantwortungsträger in die immer gleichen Phrasen von der “Selbstbestimmung der Völker, ihre Bündnisse selbst wählen zu können”. Jedoch verschwiegen sie die Tatsache, dass die umschwärmten Bündnisse auch “nein” sagen dürfen. Wer einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, einen Parteitag der KPdSU oder der KP Chinas zu verfolgen, musste sich daran erinnert fühlen. Im Übrigen muss doch die Frage erlaubt sein, wie die USA reagieren würden, wenn Kuba die Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der Nachfolgeorganisation des “Warschauer Paktes” beantragen würde? Bestimmt nicht mit der Betonung des Rechts aller Völker, ihre Bündnisse frei wählen zu können.
Das Versprechen des Westens, seinen militärischen Machtbereich nicht auszudehnen
Die zweite Legende, die seit Monaten intensiv wiederholt wird, ist die von der NATO und den USA und bestimmten Think-Tanks in USA, Großbritannien und Deutschland verbreitete Falschbehauptung, niemand habe jemals versprochen, die NATO nicht bis an die russische Grenze auszudehnen. Natürlich war es – wenn auch nicht formell schriftlich festgehalten – Konsens der 2+4-Verhandlungen über die Deutsche Wiedervereinigung 1990, dass zwar das wiedervereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein kann, dass aber keineswegs eine NATO-Osterweiterung erfolgt, wie sie dann in den 2000er Jahren vehement vollzogen wurde. Britische Politikwissenschaftler haben Dokumente gefunden, die beweisen, unter welchen politischen Voraussetzungen Michail Gorbatschow der deutschen Einheit zugestimmt hat, und was dies auf die NATO für Auswirkungen hatte. Es gab sie natürlich, die Zusage des Westens, die NATO nicht nach Osten auszudehnen.
Wer profitiert von einer Eskalation?
Russland hat die Ostukraine anerkannt und ist dabei, die okkupierten Gebiete im Osten der Ukraine zu besetzen. Was hat es dadurch wirklich gewonnen? Bringt ihm das mehr Sicherheit? Russland hat vielleicht ein bisschen mehr Ruhe in seinem Vorhof, aber ist in Wahrheit in eine Falle getappt, die internationale Glaubwürdigkeit, Bündnisfähigkeit und einen hohen ökonomischen Preis kosten wird. Noch haben sich die russischen Besetzungen nur auf den Osten der Ukraine beschränkt, aber es ist zu befürchten, dass die Separatisten und Russen auch auf eine Okkupation der gesamten Ostprovinzen zielen werden und das kann Krieg mit der restlichen Ukraine bedeuten.
Begänne Russland wirklich einen Krieg mit der Ukraine, würde dies hunderttausende Opfer zur Folge haben. Denn trotz einer inzwischen auf 150.000 Soldaten angewachsenen Streitmacht der Russen stehen dieser immer noch etwa 209.000 Soldaten der Ukraine gegenüber, zu denen noch etwa 102.000 Grenzschutzkräfte kommen. Über welche erheblichen Waffen die Ukraine auch ohne Waffenlieferungen aus Deutschland verfügt, ist hier nachzulesen. Vielleicht strahlt Präsident Selenskyj deshalb immer noch eine gewisse Ruhe aus. Gleichwohl ist die Situation brandgefährlich, denn Selenskyj lässt eine sechsstellige Zahl von Reservisten mobil machen. Es ist absehbar, dass Putin versucht, die Ostukraine unter Kontrolle zu bringen und darüber hinaus die Ukraine zu destabilisieren. Ob Putin trotzdem angreift, ist offen.
Hat Putin seine Schritte zuende gedacht?
Aber selbst im Falle eines unwahrscheinlichen militärischen Sieges hätte Russland mit der Einnahme der Ukraine nichts zu gewinnen. Eine zerstörte Infrastruktur, die sozialen Lasten einer gegnerisch eingestellten Bevölkerungsmehrheit, Milliardenschulden des maroden Wirtschaftssystems fielen Russland zur Last, dazu Milliardenkredite des IWF, die notwendige Versorgung der Bevölkerung. Dazu keine Mittel, denn die Milliarden, die die Oligarchen Achmetov bis Poroschenko haben, liegen längst bei Credit Suisse oder Offshore-Banken. Hinzu kommen die Sanktionen des Westens, und zwar nicht das lächerliche Einfrieren nicht vorhandener Konten von Dumaabgeordneten im Westen, sondern kein Teil dringend benötigter Maschinenbau- und Medizingeräte aus dem Westen, Autos, Konsumgüter, Infrastrukturgüter von der Straßenbahn bis zum Blockheizkraftwerk. Auch die tödliche Umarmung durch den “Bruderstaat” China kann das nicht aufwiegen. Dazu jährliche Riesenkosten der Unterhaltung für die Besatzungstruppen, sowie ein internationaler Imageschaden ohne Ende.
Die EU ist der große Verlierer
Die EU hat von einer solchen Entwicklung nur Nachteile. Kein Export mehr wie gewohnt, Schlag für VDMA und die Automobilindustrie in Deutschland, Frankreich, Italien, Probleme bei der Finanzabwicklung, mit der Amortisation und Refinanzierung von deutschen Milliardeninvestments. Statt Rohstoffdiversität droht der EU nun erhöhte Rohstoffabhängigkeit von den USA (Frackinggas) und Nahost (Saudis) sowie bei den seltenen Erden (China). Bereits jetzt in der Krise erfolgt die Neutralisierung einer eigenen EU-Außenpolitik zu einem Anhängsel der NATO, eine Disziplinierung, die die politischen Spielräume Deutschlands und Frankreichs einengt. Putin selbst hat – möglicherweise zum eigenen Nachteil – dafür gesorgt die Vermittlerrolle dieser Länder zu desavouieren.
Unter den veränderten Umständen wird die Bundesrepublik nicht mehr darum herum kommen, anstatt die Energiewende voranzutreiben, die von der NATO geforderten, völlig überzogenen 2% Bruttosozialprodukt aufzurüsten. Das bedeutet Geschäfte für die US-Rüstungsindustrie und Verzögerung des Ausstiegs aus den fossilen Energien. Was das innenpolitisch für die EU bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Stärkung oder Schwächung der Querschüsse von Polen, Ungarn? Vor allem aber Oberwasser für das ökonomisch irrlichternde Großbritannien.
The Winner takes it all
Die USA gewinnen dagegen derzeit alles: Fracking-Drecksgas wird endlich in die EU exportiert, Northstream 2 als Wettbewerber ist tot. Gas wird ebenso wie Öl exorbitant teuer, was die USA und die Golfstaaten freut, Russland nichts nützt, weil die Exporte in den Westen voraussichtlich zum Erliegen kommen. Die EU kann wegen der verhängten Sanktionen viele Exportgüter nicht mehr nach Russland exportieren und ungekehrt keine Rohstoffe beziehen. Die EU wird dadurch entscheidend ökonomisch geschwächt und abhängiger von den USA, als bisher. Außenpolitische Spirenzien, wie die von Brandt/Scheel erdachte Entspannungspolitik, werden so mittelfristig von den USA unter Kontrolle gebracht. Der militärisch-industrielle Komplex lässt die Sektkorken knallen. Waffen statt Windräder.
Geopolitisch größere Zusammenhänge
Der Ukraine-Konflikt reiht sich in Zusammenhänge ein: Die Erklärung Chinas zum langfristigen Oberfeind – Biden nennt es “Rivalen” – wird nach der Eskalation des Ukrainekonflikts noch verstärkt. Einerseits deuteten die zweifelhaften Olympischen Spiele in Beijing – Putin an der Seite Xi Jingpings – eine neue politische Kooperationsachse an. Und die Krise in Europa verschärft die US-amerikanischen Argumente, im Südchinesischen Meer müsse die NATO bzw. das neue angloamerkanisch-australische Bündnis mit Neuseeland aktiv werden. Auch das war ja schon mit einem Affront gegen Frankreich und damit gegen einen der wichtigsten EU-Partner verbunden. Statt des französischen U-Boots kaufte Australien im Rahmen der neuen Partnerschaft “AUKUS” mit USA und Großbritannien 2021 plötzlich bei den Amis ein Atomares Submarine ein, diplomatischer Affront erster Güte. Europa und auch der Frieden dort gerät damit zu einem Rad in einem weit größeren strategischen Getriebe, das die europäische Politik bisher nicht bedacht hat. Profiteur der Entwicklung ist dabei zumindest der militärisch-industriellen Komplex – in Ost und West – zulasten der Bekämpfung des Klimawandels.
Aus Sicht der Vereinigten Staaten bedeutet das aktuell: Nach der Ausstattung des Nahen Ostens durch Trumps Rüstungsverkäufe folgen dieser strategischen Logik eine ganze Reihe von fernöstlichen Staaten von Japan über Indonesien bis Indien, zumindest ökonomisch gegen China in Stellung gebracht, um sie in einem zweiten Schritt aufzurüsten. Welche Rolle Europa dabei spielen kann, ist unklar.
Putin Opfer seiner eigenen Hybris?
Putin ist im “realen Sozialismus” aufgewachsen, er ist Geheimdienstler, der gelernt hat, die Welt dialektisch zu analysieren und seine Strategien daraus abzuleiten. Er müsste gelernt haben, seine politischen Schachzüge vom Ende her zu denken. Im Widerspruch dazu hat er “den Minsk-Prozess vernichtet”, wie es Bundespräsident Steinmeier heute formulierte. Stattdessen meint er, ohne die EU Weltpolitik nur mit den USA machen zu können. Deshalb scheint er in die selbst aufgestellte Falle gegangen zu sein, greift auf die Ukraine zu, und liefert freiwillig die Begründung einer neuen globalen Dominanz der USA und brüskiert seine Nachbarn EU, vor allem Frankreich und Deutschland, die ihm jahrelang fair beigestanden haben, russische Interessen zu wahren und ihn fair zu behandeln. Peinlich.
Das Persönliche ist politisch
Das Folgende ist eine unwissenschaftliche, journalistisch zugegeben grenzwertige Kommentierung – ein Ausnahmefall, wie Putin heute sein idiotisches Handeln zu erklären versuchte: Wladimir Putin ist zwei Jahre älter als der Autor – er ist siebzig – ein Alter, in dem Unternehmer, wenn sie nicht völlig starrsinnig sind, ihre Nachfolge geregelt haben. Er dagegen hat sich offengehalten, gegebenenfalls bis 2036 zu regieren, da wäre er 84, wie weiland die leblosen Fossile der Sowjetunion, Andropow und Tschernenko. Putin hat gestern ein geradezu lächerliches scheinhistorisches Theater rund um seinen Bruch des Völkerrechts in der Ostukraine inszeniert.
Er musste sich von dem nur sieben Jahre jüngeren Olaf Scholz, der aber offensichtlich einer ganz anderen Generation der Politik der Zukunft angehört, vor wenigen Tagen frozzeln lassen: “ich weiss ja nicht, wie lange der Präsident im Amt bleiben will, aber zu unseren Regierungszeiten wird sich die Frage des NATO-Beitritts der Ukraine wohl nicht mehr stellen”. Eigentlich genial: ein kleiner diplomatischer Tiefschlag, kombiniert mit einem politisch eindeutigen Angebot, auf die Forderung nach Nichtbeitritt der Ukraine zur NATO elegant einzugehen – aber der psychisch greise Putin scheint nicht fähig, den Kern der Botschaft zu verstehen. Jeder kluge Staatsmann im Vollbesitz seiner Intellektualität müsste das wahrnehmen.
Nicht so der russische Präsident. Putin wirkt äußerlich lange nicht mehr so dynamisch wie früher, macht eher den Eindruck eines senilen, alternden Diktators, der noch einmal Geschichte schreiben möchte. Er wirkt aufgedunsen, verbittert, er inszeniert sich in wechselnden theatralischen Kulissen vom ältlichen Büro mit Tastentelefonen der 80er Jahre bis zum Palast zaristischer Tradition mit marionettenhaften Auftritten seiner Berater. Gemeinsam mit Außenminister Lawrow, belarussischer Marionette Lukaschenko oder mit den Mitgliedern seines Sicherheitsrates. Den Chef seines eigenen Geheimdienstes muss er sogar unter Druck setzen, um seine Zustimmung zur Intervention in der Ostukraine zu erpressen. Putin ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
Roland Appel vielen Dank für seine nüchterne, auf Sachkenntnis beruhende Analyse. Der Beueler Extra-Dienst veröffentlicht damit einen Text von der Qualität, den man in den Blättern, die sich “Qualitäts-Zeitung” nennen lassen, schmerzlich vermisst. Gerade in gefährlichen Zeiten gilt es, bei Vernunft zu bleiben. Ein Grossteil der Medien verliert sich indessen in Zorn und Eifer. Umso mehr Respekt für die, die das journalistische Ethos verteidigen, die sachlich informieren und ernsthaft analysieren. Ihr Extra-Dienst gibt ein bedeutsames Beispiel für diese Haltung, die einen notwendigen Beitrag für die Verteidigung der Demokratie leistet.
Rudolf Schwinn
Zur Zusage, die NATO nicht über Deutschland hinaus auszudehnen, gab es ein Interview mit dem früheren Staatsminister im Auswärtigen Amt, Klaus von Dohnanyi, Darin verwies dieser u.a. auf den früheren US-Botschafter in Russland.
Selbstverständlich habe es die Zusage der US-Regierung gegenüber Moskau gegeben, die NATO nicht gen Osten auszudehnen. Lohnt sich ohnehin das Interview zu hören: Nationale Interessen in der NATO – WDR 5 Neugier genügt Freifläche – WDR 5 – Podcasts und Audios – Mediathek – WDR
Der schreibt in seiem Blog : Since the era of German reunification, Moscow had been repeatedly assured that there would be no enlargement of Nato beyond a united Germany. Then in 1999, the alliance brought in the former Soviet countries of Poland, Hungary and the Czech Republic. Five years later came the ‘big bang’ enlargement, encompassing another seven former communist countries (Bulgaria, Estonia, Latvia, Lithuania, Romania, Slovakia and Slovenia). In February 2007, Putin condemned the dangers of establishing a ‘unipolar world’ and listed a range of strategic and security concerns, including the marginalisation of the UN, the installation of ballistic missile defences in Eastern Europe — and above all Nato enlargement. He stressed that Russia ‘with a thousand years of history’ did not need to be instructed on how to behave in international affairs. How did the West respond? With the accession of Albania and Croatia in 2009, Nato membership rose to 28. The addition of Montenegro and North Macedonian in the last five years has brought that number to 30.
Putin’s Aims in Ukraine | JackMatlock.com
Zu den Versprechungen der US-Regierungen gegenüber Russland, die auch eine Erweiterung der NATO einschließlich Russlands beinhaltete und den schon in den 90er Jahren zunehmender Enttäuschung der russischen Führungen ist gerade an anderer Stelle noch mal folgender, sehr fundierter Artikel von Andreas von Westphalen verlinkt worden:
https://www.heise.de/tp/features/Nato-Osterweiterung-Das-ist-eine-brillante-Idee-Ein-Geniestreich-4009027.html?seite=all