Die Bundesregierung ist verärgert über die Absicht der Europäischen Kommission, Atomenergie als nachhaltige Investition einzustufen und damit den Finanzmärkten eine positive Orientierung zu geben. Deutschland protestiert gegen diese Regelung, hat aber wohl kaum Chancen, sie zu verhindern. Deutschland ist offenbar stolz auf seine Vorreiterrolle beim Ausstieg aus der Atomenergie.
Wenig stolz kann Deutschland auf seine Rolle bei der atomaren Bewaffnung sein. Hier zählt Deutschland zu jenen Staaten, die beharrlich daran festhalten und sich einen Einsatz vorstellen können. Bekanntlich lagern in Büchel in der Pfalz rund 20 US-amerikanische Atomraketen, die im Einsatzfall auch von deutschen Tornado-Flugzeugen ins Ziel gebracht werden sollen. Obwohl die Grünen seit Jahrzehnten gegen diese Stationierung protestieren und Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, die nukleare Teilhabe Deutschlands und damit diese Stationierung im Mai 2020 in Frage stellte, findet sich nichts dazu im Koalitionsvertrag.
Ganz im Gegenteil: Die nukleare Teilhabe Deutschlands in der NATO wird bekräftigt. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.“ Es wurde sogar vereinbart, „ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado zu beschaffen“, um die nukleare Teilhabe Deutschlands zu gewährleisten. Wenn die Grünen – falls sie sich trauen – künftig wieder in Büchel gegen die dortigen Atomraketen protestieren, dürften sie dies nur mit ganz schlechtem Gewissen tun.
So wird auch nachvollziehbar, warum Deutschland nicht dem Atomwaffenverbotsvertrag beigetreten ist und – auf Beschluss der früheren schwarz-roten Koalition – bislang noch nicht einmal als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz teilgenommen hat. Folgt man dem Koalitionsvertrag, so soll sich dies jetzt ändern. Deutschland will Beobachter werden, aber – so heißt es ausdrücklich – „nicht als Mitglied“. Das würden die USA wohl nie gestatten.
Der Atomwaffenverbotsvertrag wurde 2017 von 122 Nationen in der UN-Generalversammlung gebilligt und im Januar 2021 wirksam, nachdem 50 Mitgliedstaaten ihn ratifiziert hatten. Er trat dann 90 Tage später in Kraft. Die Nuklearmächte lehnen den Vertrag ab (wie könnte es anders sein), ebenso Deutschland und andere NATO-Mitglieder.
Anders ist es beim Atomwaffensperrvertrag von 1970, der die Weiterverbreitung von Atomwaffen untersagt. Hier ist Deutschland Mitglied, genauso wie die offiziellen Atommächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Allerdings traten Israel, Indien und Pakistan, die gleichfalls über Atomwaffen verfügen, nicht bei; Nordkorea ist 2003 wieder ausgetreten. Die fünf Atommächte verpflichten sich, anderen Staaten keine Atomwaffen zu überlassen und ihre Atomwaffen nur „zu defensiven Zwecken, der Abschreckung und der Vorbeugung von Krieg“ zu verwenden. Die übrigen Staaten sagen zu, nicht nach Atomwaffen zu streben. Anfang 2022 haben die fünf Atommächte anlässlich der Vorbereitung einer geplanten Konferenz zur Überprüfung der Umsetzung und Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags ihre Absage an die Weiterverbreitung von Atomwaffen bekräftigt, weil ein Atomkrieg nie gewonnen werden könne und nie geführt werden dürfe.
Nukleare Teilhabe bedeutet also die reale Einbindung Deutschlands (und anderer Staaten) in die atomare Abschreckungspolitik der NATO. In fünf Mitgliedsländern der NATO, die offiziell als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten, lagern geschätzt 150 taktische Atomwaffen. Sie stehen unter US-Kommando, werden im Ernstfall jedoch von europäischen Flugzeugen und Piloten eingesetzt. Früher gab es in Deutschland noch drei weitere Stationierungsorte, nämlich Nörvenich, Memmingen und Ramstein.
1999 hat die NATO ein neues strategisches Konzept beschlossen und darin ihre Nukleardoktrin bestätigt. Darin heißt es unter anderem: „Einzig Nuklearwaffen machen die Risiken jeglicher Aggression unkalkulierbar und unannehmbar. Sie sind daher nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die Wahrung des Friedens.“ Sie sollen „dafür sorgen, dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren werden.“
Daraus wird deutlich, dass die NATO an der Option auf den atomaren Erstschlag festhält. Während des Kalten Kriegs hatte die NATO noch offen erklärt, dass Atomwaffen zur Gegenwehr gegen einen überwältigenden konventionellen Angriff erforderlich sein könnten. Die USA, Großbritannien und Frankreich behalten sich darüber hinaus vor, auch dann atomar zu antworten, wenn „Schurkenstaaten“, die keine Atomwaffen besitzen, ihre vitalen Interessen irgendwo auf der Welt durch den Einsatz von chemischen oder biologische Angriffen verletzen.
Auch der Atomwaffensperrvertrag könnte die Nuklearmächte nicht am (Erst)Einsatz von Atomwaffen hindern. Er besagt nämlich, dass diese zur Defensive, zur Abschreckung und zur Vorbeugung eingesetzt werden dürfen. Da ist ein breiter Interpretationsspielraum für die Akteure gegeben.
Unter Präsident Obama hatte es in den USA einen Trend gegeben, auf den atomaren Erstschlag zu verzichten und sich zu „No First Use“ zu bekennen. Donald Trump stoppte diese Überlegung. Präsident Biden erwägt eine Erklärung, dass die Atomwaffen nur zu fest definierten Zwecken eingesetzt würden, unter anderem als Reaktion auf einen nuklearen Angriff. Verbündete der USA, darunter Großbritannien, Frankreich, Japan, Australien und Deutschland, haben sich jedoch gegen eine solche Anpassung ausgesprochen, weil dies ihren Schutz schwächen würde. Auch gegen Obamas Pläne hatte es schon Widerstand gegeben. Vor allem Japans Protest überrascht, da das Land einst selbst unter einem Atomschlag leiden musste. Somit bleibt China die einzige Atommacht, die erklärt hat, nicht zuerst Atomwaffen einzusetzen.
Die Bundesregierung weiß also, dass sie mit ihrem Bekenntnis zur NATO-Doktrin und ihrer nuklearen Teilhabe die Option eines atomaren Erstschlags unterstützt. Zwar können wir nicht davon ausgehen, dass die USA ihre Atomwaffen heute ebenso leichtfertig einsetzen wie in Hiroshima und Nagasaki, doch muss und soll die Drohung ernst genommen werden. Wenn sie nur auf dem Papier stünde, wäre die Abschreckungswirkung rasch verflogen.
Gegen eine Beteiligung an Atomwaffeneinsätzen sprechen nicht nur politische und ethische Gründe, sondern auch rechtliche. Die nukleare Teilhabe mit der Option des Ersteinsatzes verstößt gegen die Menschenrechte, vor allem gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, laut Bundesverfassungsgericht „das Grundrecht der Grundrechte“, und gewiss gegen die die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts, die nach Art. 25 des Grundgesetzes für Deutschland verbindlich sind.
Die nukleare Teilhabe Deutschlands verstößt auch gegen den Nichtverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag), dem Deutschland beigetreten ist. Art II verpflichtet jeden Vertragsstaat, „Kernwaffen …. oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.“ Es besteht wohl kein Zweifel, dass die in Büchel praktizierte Teilhabe eine mittelbare Verfügungsgewalt über Atomsprengkörper darstellt.
Die nukleare Teilhabe verstößt zudem gegen Art. 3.1 des 2+4-Vertrags, dem 1990 geschlossenen völkerrechtlichen Vertrag zur Deutschen Einheit zwischen BRD, DDR, USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Dort heißt es: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird.“
Ganz eindeutige Verbotsregelungen für den Umgang mit Atomwaffen enthält das Kriegswaffenkontrollgesetz, ein Ausführungsgesetz zu Art. 26 Abs. 2 des Grundgesetzes, das den Umgang mit zur Kriegsführung bestimmten Waffen regelt. § 17 des Gesetzes verbietet die Entwicklung, die Herstellung, den Erwerb, die Überlassung, die Ein- und Ausfuhr von Atomwaffen und die Förderung solcher Handlungen. Leider hat das Gesetz einen entscheidenden „Fehler“. Seine §§ 5, 16 und 27 enthalten Ausnahmebestimmungen bzw. Befreiungen zugunsten der Bundeswehr, der NATO und ihrer Mitgliedstaaten und für Verpflichtungen aus zwischenstaatlichen Verträgen.
Es ist erstaunlich und bedrückend, dass die Bundesregierung, die sich in ihrem Koalitionspapier wiederholt zum Frieden bekennt, an der nuklearen Teilhabe und damit an der Option zum (Erst)einsatz von Atomwaffen festhält. Es ist nicht erkennbar, welche spezifischen deutschen Interessen dies unter den heutigen Bedingungen rechtfertigen können. Ein Verzicht auf die nukleare Teilhabe ist möglich. Kanada, Griechenland und die Türkei haben den Auszug bereits vollzogen. Von der Ampelkoalition dürfte man eigentlich konkrete Schritte zum Abbau von Spannungen, Drohungen und Feinbildern erwarten:
# Aufkündigung der nuklearen Teilhabe,
# Abzug der in Büchel stationierten Atomraketen,
# Verzicht auf die Anschaffung neuer Flugzeuge für den Einsatz von Atomwaffen,
# Distanzierung von der NATO-Doktrin des atomaren Erstschlags,
# Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag.
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