Warum der Populismus immer wieder neue „Momente“ erlebt
In diesem Text geht es um eine Frage, die in Studien über die politische Praxis in Lateinamerika selten gestellt wird: die Frage nach der Endlichkeit des Populismus. Immer wieder wird Populismus als zeitlich begrenztes politisches Phänomen beschrieben. Das führt zu weiteren Überlegungen, zum Beispiel darüber, warum zur Beschreibung dieser zeitlichen Begrenztheit etwas so Flüchtiges wie der Moment gewählt wurde. Das bringt uns unweigerlich zu der alten philosophischen Frage nach der Dauer eines Moments. Anders gesagt, es geht um die Frage, wie lange der Populismus anhalten wird. Denn wenn Populismus ein Moment ist, dann ist klar, dass er nicht ewig andauern und auch nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden kann. Dann würde es sich nicht mehr um einen populistischen Moment handeln, sondern um etwas anderes. Das Wort ‚Moment‘ kommt vom lateinischen Wort movimentum, das sich auf die Dauer einer Bewegung bezieht. Ich mache diese Klarstellung, weil sie eine interessante Nuance in die Frage einbringt: Es geht nicht so sehr um die Dauer des Populismus, sondern um die Dauer der populistischen Bewegung.
Am 10. Juni 2016 veröffentlichte Chantal Mouffe einen wichtigen Text in der spanischen Zeitung El País mit dem Titel: „El momento populista”. Mit der Aufforderung, über die aktuelle Situation aus dem Blickwinkel des Populismus nachzudenken, steuerte sie einen originellen Beitrag zur öffentlichen Debatte in Europa bei. Mouffe schaffte es mit diesem Beitrag, etwas zu erklären, woran in anderen Bereichen des politischen Denkens fast ein Jahrzehnt lang gearbeitet worden war: die Wechselbeziehung zwischen den politischen Kräften als umkämpfte Grenze zwischen denen an der Spitze und denen an der Basis zu betrachten. Schließlich zeigten die soziale Mobilisierung in Europa, das Entstehen neuer politischer Kräfte und die Erosion des klassischen europäischen Zweiparteiensystems, dass die von Konsens ausgehenden und die posthistorischen Narrative der Politik überholt waren. Aber es ging nicht nur darum, die Grenzen der alten Narrative aufzuzeigen, sondern auch darum, in der Mobilisierung der Menschen von unten das Entstehen eines neuen politischen Subjekts zu sehen, das in der Lage ist, populare Forderungen in die Demokratie einzubringen. Was Mouffe mit dieser Hypothese, die sie später in ihrem Buch „Für einen linken Populismus“ ausführlicher darlegte, vorschlug, bestand darin, der europäischen Konjunktur eine politische Orientierung zu geben. Ich verwende hier das Wort „Konjunktur“, weil es wichtig ist, den Begriff des „populistischen Moments“ zusammen mit dem Begriff der „Konjunktur“ zu denken, denn nur so ist es möglich, die Bedeutung dieses Ausdrucks im europäischen Kontext vollständig zu verstehen.
Denken innerhalb der Konjunktur
Wenn wir der von Niccolò Machiavelli initiierten Tradition folgen, die in den 1970er-Jahren von Althusser aufgegriffen und erweitert wurde (und jetzt auch von Mouffe), ist politisches Denken nichts anderes, als „das Denken innerhalb der Konjunktur” (Mouffe) zu praktizieren. Machiavelli schrieb, dass diese Art des Umgangs mit politischen Problemen auf die verità effetuale delle cose (eigentliche Wahrheit der Sache) abziele.
Die theoretische Wahrheit wird also von der Konjunktur beeinflusst, ihre Wirksamkeit hängt von dem politischen Problem ab, das sie aufwirft. Es sei darauf hingewiesen, dass Mouffe diesen Ansatz, den Althusser auf der Grundlage von Machiavelli entwickelt hat, aufgreift und ihn für die Theorie des populistischen Moments verwendet. In diesem Sinne wird sie auf dem interventionistischen Charakter der Theorie bestehen und den Unterschied zwischen der Theorie „über die Konjunktur“ und der Theorie „innerhalb der Konjunktur“ betonen. Während ersteres eine Sichtweise von außen meint, die Mouffe ablehnt, interpretiert letzteres auf eine zeitgenössische Weise die machiavellistische Aufforderung, an der verità effetuale der Sache des Populismus zu arbeiten,
Oligarchie gegen Demokratie
Es ist vielleicht interessanter, über die „eigentliche Wahrheit“ des Populismus nachzudenken, wenn wir über die rein europäische Szene hinausgehen. Schließlich handelt es sich nicht um eine kurze Episode, die bald wieder verschwindet, sondern um eine unterbrochene Bewegung, die im historischen Kampf zwischen oben und unten, oder anders gesagt, zwischen Oligarchie und Demokratie, immer wieder auftritt. Ich wähle das Wort „Unterbrechung“ und nicht „Moment“ (vielleicht wäre der „Moment“ so etwas wie eine Erscheinungsform dieser Unterbrechung), weil es uns das Bild von zwei gegensätzlichen Bewegungen zur gleichen Zeit bietet: Unterbrechung und Kontinuität. So wird die Ausgangsfrage dieses Artikels, die Kurzlebigkeit des Populismus, in einen breiteren zeitlichen Rahmen gestellt, der – ohne die Bedeutung des Konjunkturellen aufzugeben – eine nichtkonjunkturelle Wahrheit des Populismus aufzeigt und eine andere Lesart vorschlägt. Vor allem, weil sich die Unterbrechung seiner Kontinuität – der Sturz des Populismus ins Vergessen – und die Kontinuität seiner Unterbrechung – seine Rückkehr auf die politische Bühne als Alternative zum Bestehenden – stets wiederholen wird.
Es ist nicht leicht, die Frage zu beantworten, warum der Populismus immer wieder auftaucht und verschwindet und warum die Debatten über den Populismus immer wieder neu entstehen. Sicher ist jedoch, dass jedes Mal schnell Stimmen laut werden, die den Untergang des Populismus verkünden. Mit anderen Worten: Das politische Denken hat nicht aufgehört, immer wieder den Tod des Populismus zu verkünden – als ob, trotz der ständigen Denkanstrengung des Vergessens, etwas in der Materialität der Politik selbst den Populismus wieder ins Spiel bringt. Dieses Wort, ‚Populismus‘, drängt sich immer wieder auf, wenn man versucht, es in der großen Truhe der unbenutzten Begriffe des politischen Lexikons zu verstauen. Aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass eine Truhe sowohl als Sarg als auch als Schatzkiste benutzt werden kann, also um einen Toten zu begraben oder einen Schatz aufzubewahren. Oder vielleicht beides zugleich. Das, was stirbt, ist in der Lage, ein Geheimnis zu bewahren, das von uns heute entschlüsselt werden kann. Wir sollten nicht vergessen, dass die Etymologie von arcón (Truhe) mit der von arcano verwandt ist, was Geheimnis oder Mysterium bedeutet, also etwas, das verschlossen und verborgen bleibt.
Wir könnten uns fragen, was im Populismus verborgen bleibt oder was das Geheimnis ist, mit dem er jedes Mal auf das Feld der Politik zurückkehrt, wenn sein Untergang angekündigt wird. Wir könnten uns sogar fragen, warum so viel Interesse daran besteht, seinen Tod zu verkünden, welche uneingestandenen Ängste er auslöst.
Das Geheimnis seiner Stärke und Verdammung
Das Wort Populismus hat eine Tendenz in Richtung von lo popular – ein Adjektiv, das übersetzt werden kann mit beliebt, populär, volksnah oder das, was dem pueblo, dem Volk, der Bevölkerung gehört. Der Populismus als politische Kiste enthält also das Geheimnis der Bevölkerung. Und vielleicht ist dies das Geheimnis seiner Stärke und seiner Verdammung, vielleicht ist dies der Grund, warum er so widersprüchlich diskutiert wird, weil er die Grenze zwischen denen, die oben, und denen, die unten sind, als Kampfgebiet entgegengesetzter Kräfte aufzeigt. Wenn der Populismus immer wieder erneut auftritt, wenn er trotz der Versuche, ihn verschwinden zu lassen, fortbesteht, dann wahrscheinlich deshalb, weil sich die unteren Schichten dagegen wehren, von den oberen Schichten beherrscht zu werden, weil die oberen Schichten nicht aufhören, die unteren Schichten auszuplündern und von jeglicher Teilhabe auszuschließen. Populismus kann letztlich als die Art und Weise verstanden werden, auf die die Plebejer um die res publica streiten, die öffentliche Sache, die die Oligarchen für sich allein behalten wollen.
Daraus ergibt sich folgende Frage: Wer hat eigentlich festgelegt, dass es einen „Linkspopulismus“ und einen „Rechtspopulismus“ gibt? Dahinter steht ein Ethos, ein liberaler Ethos, denn wenn es einen linken Populismus und einen rechten Populismus gibt, gibt es einen erwünschten und einen unerwünschten Populismus. Dieser liberale Standpunkt entscheidet darüber, er legt fest, wer vom „richtigen Weg“ abweicht. Diese Entscheidung scheint mir zunächst nicht strategisch zu sein, aber sie wirft eine Reihe ontologischer (1) Probleme auf, denn Populismus ist nicht nur eine politische Strategie, sondern hat auch eine ontologische Dimension. Populismus versteht das Ser (Sein, Wesen) des Politischen auf eine bestimmte Art und Weise, seine Funktionsweise hat nichts damit zu tun, wie die Identifikationsprozesse beim sogenannten Rechtspopulismus ablaufen. Für mich ist dieser nichts anderes als Faschismus, denn der Rechtspopulismus geht davon aus, dass es ein Substrat gibt, eine festgelegte Identität, die bedroht ist (durch die Indigenen, die Schwarzen, die Frauen, die Migrant*innen, die Elite), und deshalb müssen diese störenden Elemente beseitigt werden, damit sich die Gesellschaft wieder neu erfinden kann. Dieser Neofaschismus geht also von einer geschlossenen Ontologie aus. Im Gegensatz dazu gibt es bei dem Populismus, den wir als links bezeichnen, den wir aber auch einfach Populismus nennen können, eine ontologische Offenheit, es gibt keine vorher konstituierte Identität, es gibt kein Substrat, das von außen bedroht wird, sondern im Gegenteil, alles ist noch zu tun, es entsteht im Handeln, die Ausgeschlossenen entwickeln gemeinsam ihre Ziele. Diese beiden Logiken: einerseits die Idee eines Substrats und einer Identität, die sich aus sich selbst erneuern muss, andererseits die Idee einer ontologischen Unbestimmtheit als etwas Kommendes, sind zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen, die in der Praxis auf sehr unterschiedliche Weise verkörpert werden. Ich bin dafür, den Rechtspopulismus als Neofaschismus und den Linkspopulismus als Populismus zu bezeichnen.
Es geht mir mit meinen Ausführungen zur Zeitlichkeit des Populismus darum, zwei Illusionen zu zerstören. Einerseits die Illusion des Unilateralismus, das heißt, die populistische Bewegung in einer einzigen Richtung (und in einem einzigen Moment) zu betrachten, als eine Art Vorwärtspfeil, der durch die Kraft der Geschichte verschwinden wird. Auf der anderen Seite die historistische Illusion (eng verwandt mit der ersten), der zufolge politische Transformation bedeutet, die Vergangenheit zu überwinden und ad acta zu legen. Angesichts dieser beiden Illusionen ziehe ich es vor, den Populismus als eine „Aufhebung“ zu betrachten, also als eine gleichzeitige Kraftloserklärung und Bewahrung. Anders ausgedrückt: darüber nachzudenken, was verloren gegangen und was bewahrt worden ist, seit sich in Europa so etwas wie ein populistischer Moment angekündigt hat.
Internationalistisch denken
Ich möchte einige Aspekte hervorheben, über die nachzudenken für die Zukunft interessant sein könnte.
Erstens: Das neue Ausbrechen des Populismus zeigt uns, wie drängend wichtig es ist, internationalistisch zu denken, das heißt zu verstehen, dass die Kämpfe überall auf der Welt viel mehr gemeinsam haben, als wir normalerweise anerkennen. Zweitens: Politische Vorstellungen, die in einem Land oder auf einem Kontinent entstehen, können anderen Ländern oder Kontinenten als Inspiration dienen. Drittens: Die Solidarität und die Koordination der unteren Schichten untereinander sind von entscheidender Bedeutung, um sich gegen den neuen Prozess der Oligarchisierung zu wehren, der uns von zwei Seiten in die Zange nimmt. Auf der einen Seite ein elitärer und ausschließender Liberalismus, der zwar ab und zu auf bestimmte populare Forderungen eingeht, der aber sehr von seiner privilegierten Rolle als Garant der Marktdemokratie überzeugt ist. Auf der anderen Seite eine internationale extreme Rechte, die sehr daran interessiert ist, populare faschistische Bewegungen ins Leben zu rufen als Instrument der Herrschaft und Radikalisierung der Plünderung, der Gewalt und der Ungleichheit. Trotz ihrer Unterschiede sind die beiden politischen Kräfte nur zwei Seiten derselben Medaille: eine Oligarchie, die auf dem Rücken der Bevölkerung regiert.
Aber zwischen diesen beiden historischen Kräften steht – und hierbei denke ich vor allem an Lateinamerika – wieder einmal eine Bevölkerung, die sich engagiert. In einigen Fällen aufgrund der Wiederaneignung gewisser Regierungserfahrungen, die durch das Erstarken der Rechten unterbrochen wurden, wie im Falle Boliviens und Argentiniens. In anderen Fällen entsteht ein neuer Horizont daraus, dass die Menschen ihre historische Verantwortung wahrnehmen, eine andere Beziehung zur Natur zu entwickeln, wie in Chile und Kolumbien, wenn wir Glück haben. Beide Länder galten bisher vor allem als Laboratorien des weltweiten Liberalismus, deren Bewohner*innen zwischen Markt und Krieg zerrieben wurden und die seit 2019 laut und deutlich sagen, dass sie auf der Straße sind – hasta que la dignidad se haga costumbre (bis die Würde zur Gewohnheit wird).
Zuerst erschienen in: https://www.lafionda.org/tecnopolitica/; Übersetzung: Laura Held; Luciana Cadahia arbeitet als außerordentliche Professorin am Instituto de Estética der Katholischen Universität Chile in Santiago. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 455 Mai 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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