John J. Mearsheimer gilt als der wichtigste aktuelle Vertreter des sogenannten „Machtrealismus“, einer Theorieströmung, der man historisch Macchiavelli und Carl Schmitt und aktuell in Deutschland Herfried Münkler zurechnen kann.
Der Machtrealismus geht davon aus, dass in der Politik vor allem Imperien und Hegemonialmächte zählen, und kleinere Länder (auch die sehr große Ukraine) eine nur eingeschränkte Souveränität haben sollen. Das sei so, weil das einfach „realistisch“ sei, immer schon so war, in der Natur des Menschen angelegt sei oder in den Konkurrenzbedingungen des Staatensystems. Normative, menschen- und völkerrechtliche Erwägungen – zum Beispiel das Selbstbestimmungsrecht der Völker – gelten dagegen eher als politische „Lyrik“ und spielen in dieser Sichtweise keine wirkliche Rolle.
Dieser Logik entsprechend schiebt Mearsheimer die Verantwortung für den Ukrainekrieg den USA und dem Westen zu. Sie hätten eben die imperialen und in der Politik einzig „realistischen“ Interessen Russlands verletzt und die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine in ihren Forderungen nach Selbstbestimmung unterstützt – bzw. zur Freiheit überhaupt erst angestachelt. Putins Reaktion sei nichts anderes als die Quittung für diese „unrealistische“ Haltung. Für die etwas hartgesotteneren unter meinen Leser:innen hier der Link zu einem Vortrag, den Mearsheimer vor kurzem in Italien gehalten hat. Übrigens mit bemerkenswerten Widersprüchen: Die Krim-Annexion von Putin schon 2008 angekündigt – und dann 2014 „spontan“ durchgeführt.
Ein Studienfreund von mir, der OSI-Professor Bernd Ladwig, hat gestern ein Panel mitbestritten, in dem er sehr differenziert die Positionen von Mearsheimer – und in Deutschland eben Münkler – kritisiert. Ich hoffe, der Videomitschnitt wird vom OSI demnächst ins Netz gestellt.
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