Die automatische Weiterleitung der Daten kurdischer Vereine an Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt ist rechtswidrig. Zu diesem Schluss kommen die Wissenschaft­lichen Dienste des Bundestags. Die Abgeordnete Gökay Akbulut (Linke) hatte im Juni eine Stel­lungnahme zu diesem Thema beantragt. Seit den 1960er Jahren müssen Vereine mit überwiegend ausländischen Mitgliedern Name und Anschrift ihrer Vorstände sowie die Satzung bei den örtlichen Behörden einreichen. Diese reichen sie weiter an das Bundes­verwaltungsamt (BVA) in Köln, wo ein zentrales Ausländervereinsregister entstand. Seit 1994 muss dieses Amt alle eingehenden Informationen über kurdische Vereine automa­tisch an den Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt weiterleiten.

Wie die Wissenschaftlichen Dienste nun feststellten, ist diese Praxis rechtlich nicht haltbar. Eine Weitergabe der Daten wäre nur zulässig, wenn „in jedem Einzelfall vor der Übermitt­lung der Daten“ festgestellt würde, dass ein kurdischer Verein verdächtige Bestrebungen ver­folgt. Auch ein „allgemeiner Gefahrenverdacht“ reiche nicht aus. Die Datenweitergabe an Sicherheitsbehörden ist vor allem deshalb brisant, weil der Verfassungsschutz die Da­ten vermutlich an den türkischen Geheimdienst weiterleitet. Noch ist nicht bekannt, wel­che Konsequenzen die Regierung ziehen will.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sind zwar eine weitgehend unbekannte, aber wichtige Institution zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Schon mehr­fach haben sie mit ihren Gutachten Regierung und Politik vor Rechtsverstößen bewahrt oder zumindest gewarnt. Ihre Gutachten genießen hohe fachliche Anerkennung. Sie sind zumeist fundierter und objektiver als Gutachten, die bei Anwält/innen oder Fach­wissenschaftler/innen in Auftrag gegeben werden und bei denen nicht selten deutlich wird, wer sie bestellt hat.

Ungeachtet ihres niedrigen Bekanntheitsgrads sind die Wissenschaftlichen Dienste, ge­schaffen Anfang der 60er Jahre, eine wirksame Institution. Rund 100 Mitarbeiter/innen sind dort tätig, davon mehr als 60 mit wissenschaftlicher Ausbildung, zumeist Juristen, aber auch einige Historiker, Politik- und Naturwissenschaftler. Die WD gliedern sich in zehn Abteilungen: Geschichte + Politik / Auswärtiges, Völkerrecht, Menschenrechte, Ver­teidigung / Verfassung + Verwaltung / Haushalt + Finanzen / Wirtschaft, Verkehr, Landwirt­schaft / Arbeit + Soziales / Recht / Umwelt, Bildung, Forschung / Gesundheit, Familie, Se­nioren, Frauen, Jugend / Kultur, Medien, Sport / Europa.

Die WD sollen es der/dem einzelnen Abgeordneten ermöglichen, sich unabhängig von der Kompetenz und Haltung der Bundesregierung unparteiisch zu anstehenden Themen zu in­formieren. So soll der Wissensvorsprung der Exekutive gegenüber der Legislative ausge­glichen werden. Die WD sind daher zur politischen Neutralität verpflichtet, ihre Ausarbei­tungen geben ihre Auffassung und nicht die der Bundesregierung, des Bundestages oder seiner Organe wider.

Für die Abgeordneten sind die Gutachten des WD ein sinnvolles Hilfsmittel bei der Kontrol­le der Regierung und bei der Gesetzgebung. Rund 80% der Abgeordneten nutzen diese Unterstützung. Eine Obergrenze für die Zahl der Anfragen, die ein Abgeordneter einbrin­gen darf, gibt es nicht. Den Texten wird ein hoher juristischer Sachverstand und ein großes Gewicht im parlamentarischen Geschehen zugemessen. Sie sind wissenschaftlich voll zi­tierfähig. In der Regel forschen die WD nicht selbst, sondern werten den Stand von For­schung, Gesetzgebung und Rechtsprechung aus. Dabei können sie auf die mit 1,4 Mio. Exemplaren drittgrößte Parlamentsbibliothek der Welt zugreifen.

Aufträge können sowohl Abgeordnete als auch Gremien des Bundestags erteilen, die Gut­achten dürfen nur für mandatsbezogene Tätigkeiten genutzt werden. Die Anträge werden in der Reihenfolge des Eingangs bearbeitet. In Ausnahmefällen werden die WD auch für die Bundesregierung, für Landesregierungen und für Abgeordnete aus den Landtagen und dem Europäischen Parlament tätig. Fast alle Landtage verfügen über eigene wissenschaftliche Dienste. Auf der Basis von Gegenseitigkeit werden die WD auch auf Ersuchen anderer Parlamente tätig, vor allem aus der EU. Gelegentlich erstellen die WD aus eigener In­itiative Kurzinformationen zu aktuellen Themen.

Im Jahresdurchschnitt erhalten die WD mehrere tausend Anfragen pro Jahr, 2021 waren es 1752. In vielen Fällen können die WD nach einer Abfrage bei Datenbanken unmittelbar eine Auskunft erteilen. Dabei gibt es verschiedene Formen der Auftragserledigung wie Ausarbeitungen, Sachstände, Dokumentationen oder Fachbeiträge. Redemanuskripte werden nicht erstellt. In Ausnahmefällen werden Aufträge an externe Wissenschaftler ver­geben. Nach einigen juristischen Auseinandersetzungen gilt seit 2015, dass die Ausarbei­tungen der WD öffentlich zugänglich sind und frühere Gutachten eingesehen werden kön­nen. Neue Texte können vier Wochen lang ausschließlich von den Antragsteller/innen ge­nutzt werden, danach werden sie auf der Internetseite des Bundestages aufgelistet. Inso­fern sind die Texte der WD auch ein geeignetes Nachschlagewerk.

Aktuelle Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes zeigen die Bandbreite der The­men, die dort vorgelegt und bearbeitet werden. Von April bis Juni 2022 gab es u.a. folgen­de Gutachten: Erhöhung des Mindestlohns, Sterbehilfe – Patientenverfügung – Vorsorge­vollmacht, russische Anerkennung von Donezk und Luhansk, Kirchenfinanzierung in ande­ren Staaten, Zwangsräumung bei Hausbesetzungen, Völkermord an Uigur/innen oder Ci­ty-Maut. Die Übergewinnsteuer bewerten die WD als zulässiges „Instrument zur Deckung eines außergewöhnlich hohen öffentlichen Finanzbedarfs in Krisen- und Kriegszeiten”.

Eine verbindliche Wirkung entfalten die Gutachten der WD nicht. Aufgrund der Qualität der Ausarbeitungen und bei Nutzung der Öffentlichkeit ist es jedoch nicht selten, dass sie den politischen Fortgang beeinflussen. Hier ein Beispiel: Lange Zeit vertrat die Bundesregie­rung die Ansicht, der Atomwaffenverbotsvertrag widerspräche dem Atomwaffensperrver­trag (in dem Deutschland Mitglied ist). Deshalb könne sie den Verbotsvertrag nicht unter­zeichnen. Die WD stellten klar, dass dem nicht so ist. Seitdem nimmt Deutschland beim Atomwaffenverbotsantrag (zumindest) eine Beobachterrolle wahr.

Im Mai 2019 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen einen umstrittenen Antrag mit dem Titel „BDS-Bewegung entschlossen entge­gentreten – Antisemitismus bekämpfen“. Dabei ging es um die propalästinensische Bewe­gung “Boycott, Disinvestment, Sanctions” (BDS), die sich gegen die israelische Besat­zungspolitik richtet. Der Bundestag verurteilte deren Aktivitäten und bewertete sie als anti­semitisch. Er appellierte, keine Organisationen und Projekte zu unterstützen, “die zum Boy­kott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen”. Eine Ausarbei­tung der WD sorgte indes für Klarheit: Dieser „schlichte Parlamentsbeschluss“ entfalte keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane, er sei nicht mehr als “eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte”. Durch ihn würden z.B. “Kom­munen nicht verpflichtet, Personen oder Organisationen, die die BDS-Bewegung …. unter­stützen, die Nutzung öffentlicher Räume zu untersagen”.

Rücksichtnahme auf außenpolitische und strategische Überlegungen der Bundesregierung müssen und dürfen die WD nicht nehmen. So haben sie 2018 den von Deutschland für „erforderlich und angemessen“ erklärten Militärschlag der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Syrien als völkerrechtswidrig eingestuft. Anlass zu Diskussionen und Interpretationen bietet sicherlich auch die Einschätzung der WD, dass Deutschland durch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine in Verbindung mit der entsprechenden Aus­bildung ukrainischer Soldaten zur Kriegspartei wird.

In manchen Fällen folgt die Regierung bewusst nicht den Erkenntnissen des Wissen­schaftlichen Dienstes. Als sich Anfang 2019 in Venezuela der Putschist Guaido zum „Über­gangspräsidenten“ ernannte, hat sich Deutschland den USA angeschlossen, Guaido aner­kannt und sich an Sanktionen gegen das Land beteiligt. Dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages diese Schritte als Verstöße gegen das Völkerrecht eingestufte, hatte keinerlei Konsequenzen. – Beim Registermodernisierungsgesetz von 2021, das eine allgemeine Bürgernummer ein­führte, verwarfen Bundesregierung und Bundestag die ver­fassungsrechtlichen Bedenken des WD (und anderer Institutionen). Das Gesetz liegt nun­mehr auf Antrag der Humanistischen Union beim Bundesverfassungs­gericht.

Angaben über das Ausmaß, in dem die Gutachten des WD Einfluss auf das Regierungs­handeln ausüben, liegen nicht vor. Laut Pressestelle der WD sind „die Ausarbeitungen al­lein zur Nutzung für die Abgeordneten im Rahmen ihres Mandats bestimmt. Darüber ha­ben sie keine Rechenschaft abzulegen (Art. 38 GG).“ Daher dürfte es auch kaum Möglich­keiten der statistischen Erfassung geben.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.