Vor noch nicht einem Jahr sind die Ampelkoalitionäre in eine gut und geschickt eingefädelte Koalition gestolpert. Von den ersten Sondierungs-Selfies bis zum Ergebnis und der Ministerienbesetzung haben sie – von kleinen Fehlern abgesehen – alles richtig gemacht. Es gelang ihnen, einen Hauch von Aufbruchstimmung ins Land zu vermitteln, der irgendwie an den sozialliberalen Aufbruch in eine Reformkoalition 1969 erinnerte. Klar: Olaf Scholz ist keineswegs ein Willy Brandt, Lindner kein Walter Scheel mit Mehrheiten einer linksliberalen Partei und Robert Habeck kein grüner Messias, auch wenn ihm das manche so zuschreiben.
Nach fast einem Jahr Regierungszeit, verdammt guten und flexiblen Regierungsbeschlüssen hat die Koalition bis zur Sommerpause gar nicht schlecht regiert – im Rahmen der Möglichkeiten unter Kriegsbedingungen. Bis dahin hatten sich die Populismusparameter der Demoskopie nur zulasten des Kanzlers verschoben. Ursache war eine unglaublich einseitige Berichterstattung der Presse über die angebliche zögerliche Haltung in Sachen Waffenlieferungen der SPD, unterstützt von den beleidigten Leberwürsten Strack-Zimmermann, Hofreiter und Roth (Michael), die bei der Regierungsbildung außen vor blieben.
Grüne und FDP fern der Realpolitik
In der Sommerpause aber erwischte es auch die FDP. Entgegen aller Vernunft entwickelte sie sich wieder zur Klientelpartei, die sich gegen die große Mehrheit der Bevölkerung und gegen wissenschaftliche Fakten als Atompartei profilieren wollte. Angesichts der finanziellen Zukunftsängste spielte Lindner wieder auf dem Klavier der alten Steuersenkungs-FDP. Und der bis dahin in stratosphärischen Umfragehöhen schwebende Robert Habeck tappte in die Falle einer “Gasumlage”, die sich offensichtlich Lobby- und FDP-nahe Beamte seines Hauses ausgedacht hatten, und deren Fußangeln seine grünen Staatssekretäre nicht rechtzeitig erkannten.
Dummes Parteigezänk statt Regierungskunst
Die Gasumlage, für die sich vor Wochen das Kabinett einstimmig ausgesprochen hatte, ist tot, nachdem einer nach den anderen Koalitionspartnern öffentlich davon abrückten, nebst dem verantwortlichen Minister Habeck selbst. Öffentliches Abrücken der einzelnen Partner ist keine Selbstrettung aus der Verantwortung, sondern signalisiert Handlungsunfähigkeit der gesamten Regierung. So entstand eine Krise, zu deren Lösung der Kanzler trotz Corona einen “Doppel-Wumms” zur Rettung der brenzligen Situation erfand. Habeck und Lindner haben daraus nichts gelernt. Der eine nölt weiter, man brauche mehr “Kernkraft” und noch viel länger, und der andere konnte zwar gestern in NRW punkten, aber er tut nicht genug, vor der Landtagswahl in Niedersachsen ist kommendes Wochenende und die von den Bürger*inn*en erwartetenn Klarheit zu schaffen. Was droht, hat Martin Böttger gerade hinreichend beschrieben. Geht alles bis zum Wochenende so weiter, siegt die AfD.
Handlungskompetanz statt Parteilavieren in letzter Minute?
Die FDP und auch die Grünen haben nicht realisiert, dass in Niedersachsen nicht ihre Parteien, sondern die Ampelkoalition als Ganzes zur Abstimmung steht. Ihre Handlungs- und Einigungsfähigkeit wäre das, was die Bürger*innen in Niedersachsen noch überzeugen könnte. Denn nach allen Umfragen reicht es ohne die FDP für rot-grün nur für 48%. Der “Spiegel” schrieb schon, dass Berliner Grüne erwägen, hinter vorgehaltener Hand zur Wahl der FDP aufzurufen, damit auch dort die Ampel eine Chance hätte. Dieser taktische Reflex ist ehrenhaft, aber ein Irrtum. Allein Handlungs- und Einigungsfähigkeit können die Bürgerinnen und Bürger von den Regierungsparteien überzeugen. Deshalb ist es ein tödlicher Fehler der Ampel, dass sie die Einigung über das Hilfpaket 3 auf eine Woche nach der Niedersachsen-Wahl verschoben hat. Am 21.10. wird es keinen mehr überzeugen.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher wussten, dass in der Politik die Eisen geschmiedet werden müssen, solange sie heiss sind. Sie hätten die Ministerpräsidenten zu einer Sonderkonferenz am Freitag um 9.00 zusammen getrommelt und Habeck und Lindner samt ihrer Stäbe seit Mittwoch in einen Keller bei Wasser, Brot, Computern und Handys gesperrt, in dem sie bis Freitag morgen 6.00 Uhr Zeit haben, einen Kompromiss über die Umsetzung der Gas- und Strombremse zu erarbeiten, der eine Chance auf Zustimmung der Länder hat, und so viel Flexibilität enthält, dass er auf die Empfindlichkeiten der meisten Bundesländer eingehen kann. Wenn es gelänge, die Einigung über eines solchen Kompromiss zur Tagesschau am Freitag zu verkünden, wäre das Desaster der verlorenen Landtagswahl und der Handlungsunfähigkeit noch zu verhindern.
Noch wenige Stunden Zeit
Der Kanzler, vor allem aber Grüne und FDP haben offensichtlich den Schuss noch nicht gehört. Die Ampel kann nur gemeinsam bestehen, oder sie wird untergehen.
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