Als in der Politik noch wirkliche Schwergewichte tätig waren, wurden nicht nur Bekenntnisse abgegeben, sondern die gegenseitigen Interessen hinterfragt und – zur Vermeidung von Unfällen – geachtet. Die Instrumentarien galten generell, national und international. Klaus Matthiesen, Fraktionsvorsitzender der SPD im NRW-Landtag und mein Gegenspieler als Grünen-Fraktionschef von 1995-2000, beherrschte diese Kunst. Er wusste, dass man niemals seinem Gegenüber das Gesicht rauben darf, wenn man morgen noch weiter mit ihm regieren will, und einer seiner wenig feinen Sätze war: “Wenn ich heute die Affen auf die Bäume jage, muss ich auch wieder wissen, wie ich sie morgen wieder herunterbekomme.”
Das Spiel analysierten in den 90er und 00er Jahren fähige Journalist*innen wie der legendäre Ulrich Horn (WAZ), Heinz Tutt (KStA), Annette Morczinek und Christa Cloppenburg (WDR) in NRW und auf Bundesebene Ferdos Forudastan (TAZ, FR), Günter Bannas (FAZ), Heribert Prantl und Hans Leyendecker (Süddeutsche), Ada Brandes (StZ) oder Hans-Peter Schütz (Südwestpresse). Ihnen allen wäre das Spiel nicht entgangen, das in den letzten Wochen allen voran die FDP in Sachen Atomenergie gespielt hat – wider besseres Wissen in der Sache, aber um dem Koalitionspartner Schaden zuzufügen, ihn in die “ideologische Ecke” zu drängen, weil sie den Wiedereinstieg in die Atomenergie verweigerten. Dabei hatte Christian Lindner, der sich offensichtlich nicht von der Vorstellung lösen kann, dass “seine” FDP eine rechte Blockpartei sein muss, die sie längst nicht mehr ist, in der Bundesregierung nahezu isoliert, in der Folge in Niedersachsen eine Wahlschlappe kassiert, die ihresgleichen sucht und nun so berechenbar ist, wie die Querschläger einer Kneipenschießerei im “Wilden Westen”.
Züge, die scheinbar aufeinander zurasen
Lindner hatte seine vermeintlichen Wähler*innen auf die Bäume gejagt. Nach der verlorenen Niedersachsenwahl saß er im tiefsten Loch, das er seiner FDP selbst gegraben hatte. Die Grünen hatten seine unsinnigen Provokationen satt und auf ihrem Parteitag eine Lösung beschlossen, wie alle gesichtswahrend aus der Situation hinauskommen würden. Robert Habeck hatte das eher drohend “Geschlossenheit und Offenheit” genannt, Jürgen Trittin hatte mit dem Stichtag 15.4.2023 und dem Verbot des Zukaufs neuer Brennelemente eine kleine Stütze für Habecks Rückgrat eingezogen, mit der die SPD sowieso leben konnte. Nun ging es nur noch darum, Lindners “Affen von den Bäumen” zu bekommen. Also ordnete der Kanzler an, was die Grünen nie gebilligt und dem Habeck niemals hätte zustimmen können, und auch die FDP nicht: Trittins Beschluss + das dritte AKW. Und die Erlaubnis für die FDP, ihre totale Niederlage beim Wiedereinstieg in die Atomkraft als “Sieg” verkaufen zu dürfen. Welch ein durchsichtiges Manöver!
Wie clever ist die Bundespressekonferenz wirklich?
Und alle – von der panzerbegeisterten Helene Bubrowski, Reinhard Müller (FAZ), über die SZ, und viele andere Mitglieder des Berliner “Raumschiffs”, schrieben brav den gesichtswahrenden Sieg der FDP herbei – meinen die das wirklich? Eine uralte Weisheit der Politikwissenschaft war einmal: wenn der Kanzler von der Richtlinienkompetenz Gebrauch machen muss, ist die Koalition am Ende. Das mag 70 Jahre für Zweierkoalitionen gegolten haben – aber die Ampel besteht aus drei Partnern. Und worum es hier ging, war nicht, zwei Koalitionspartner zur Raison zu bringen. Es ging darum, nach außen eine Lösung zu finden, die den Grünen ermöglicht, einem für sie insgeheim günstigen Kompromiss nicht zustimmen zu müssen und der FDP und Lindner zu helfen, seine politische Niederlage in der Sache als Sieg verkaufen zu können. Also, ich weiss ja nicht, ob Champagner am Sonntag auf der Liste der Getränke im Kanzler*innen*amt stand – aber ich würde jede Wette darauf abschließen, dass die drei Jungs an der Regierungsspitze genau das am Sonntag abend abgesprochen und mal wieder genüsslich den Mund gehalten haben.
Regierungskunst braucht Finten und Geheimnisse
Natürlich spekulierten die Berliner Journalist*innen und vor allem die professionellen Scholz-Kritikerinnen von Handlungsunfähigkeit, letztem Mittel und so weiter – Friedrich Merz bemühte auch ewiggestrige Weisheiten, mit denen er die Koalition ans angebliche Ende redete. Meine Einschätzung ist dagegen die, dass – aus welchen Gründen auch immer – sich die drei Koalitionsspitzen gegenseitig den Arsch gerettet haben, und deshalb die Opposition und die überwiegend schlechten Journalist*inn*en in Berlin sich noch wundern werden, wie stabil diese Koalition bleibt und wie lange sie regiert. Was bringt mich zu einer solchen Vermutung?
Wenn eine neue Konstellation regiert, gilt: “hinter jeder Ecke steht einer”
Rot-Grün in NRW ab 1995 galt als “Modell” für Rot-Grün im Bund. Deswegen war alles, was wir damals gemacht haben, unter verschärfter Beobachtung. Garzweiler II, bis heute in Gestalt von Lützerath Symbol der Umweltbewegung gegen den Energieriesen NRW, war hoch umstritten und Wolfgang Clement, damals unser Koalitionspartner als Grüne, versuchte alles, um die Interessen der RWE gegen unsere Umweltministerin Bärbel Höhn durchzusetzen. Irgendwann stellten wir als Grüne Mitglieder des Koalitionsausschusses fest, dass alles, was wir besprachen, beim Koalitionspartner landete. Also verabredeten wir alle, beide Landesvorsitzende, beide Fraktionsvorsitzende und die Umweltministerin ohne unseren damaligen Bauminister Michael Vesper einzubeziehen, eine Sitzung in Bärbel Höhns Ministerium, die zuvor verabredet, in eine interne Scheinabstimmung über die Weiterführung der Koalition mündete. Alle bis auf einen stimmten für Beendigung der Koalition. Niemand erfuhr bis heute von diesem Treffen und seinem Inhalt. Aber es vergingen keine 24 Stunden und Wolfgang Clement lenkte in wichtigen Kernfragen ein, über die zuvor monatelang verhandelt wurde.
Wat lernt uns dat?
Auch wenn Robert Habeck, eher ein Anhänger der geschmeidigen Regierungslehre – “offen und geschlossen” – ist, der gerne Christian Lindner durch dessen eigene Leidenskurve in den Medien aufzeigt, dass er unrecht hat, was sicher einer gewissen Nachhaltigkeit dient, diesen aber in einem ideologisch diffusen Wirtschaftsliberalismus bestärkt, müssen die Regierenden im Haifischbecken Berlin zu phantasievollen Mitteln greifen, um das politische Überleben der Ampel und aller ihrer Teile sicherzustellen. Dabei ist die FDP, die sich konstant weigert, sich linksliberalen Themen und Wähler*innen zu öffnen, das allergrösste Problem, indem sie sich selbst im Weg steht. Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, aber auch Konstantin Kuhle und Otto Fricke, wissen sehr wohl, was ich meine.
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