Fridays for Future reichen ihnen nicht aus. Seit kaum mehr als einem Jahr sind selbsternannte Aktivist:innen unter dem Namen “Extinction Rebellion” oder “Die letzte Generation” unterwegs und wollen mit ihren Aktionen angeblich auf die Untätigkeit der Politik gegenüber dem Klimawandel aufmerksam machen. Sie kleben sich mit ihren Handflächen auf dem Asphalt fest, schmieren eine Straßenkreuzung mit Farbe ein, schmeißen Kartoffelbrei oder Tomatensuppe auf Kunstwerke. Und wundern sich, dass sie keiner so richtig mag.
Wie kommt es dazu? Denn wir wissen doch eigentlich alle: Politik der Parlamente und Regierungen in der Demokratie brauchen Druck von der Basis – das ist eine alte Erkenntnis der politischen Jugendbewegung seit den 70er Jahren. Schon damals formulierten Jusos, Jungdemokraten und auch die Grünen in ihren Grundsatzprogrammen und Strategiepapieren folglich, dass neben Parteipolitik die “Basis” zu mobilisieren entscheidend sei. Demonstrationen, Hausbesetzungen, und Menschenketten führten zu einer solidarischen Anti-AKW-, Frauen-, Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Volkszählungsboykott, Sitzblockaden von Raketendepots, das wissen wir inzwischen alle, brachten den notwendigen Druck der Gesellschaft auf, um die von Wirtschafts- und Lobbyinteressen umstellten Regierungen soweit zu stärken, dass sie nicht völlig einknickten. Und sogar das Bundesverfassungsgericht erkannte an, dass Sitzblockaden ziviler Widerstand sein könnten, der Straftaten begeht, um auf ein ethisch höheres Ziel aufmerksam zu machen.
Außerparlamentarischer Druck benötigt Solidarität
Außerparlamentarische Arbeit bedarf der strategischen Überlegung, ob die Aktionsformen Solidarisierungen erreichen oder die Protagonisten eher isolieren und spalten. Die Diskussionen darüber sind insbesondere in Deutschland aufgrund der Entwicklung der Alt-68er hin zur Rote Armee Fraktion (RAF) jahrzehntelang geführt worden und sehr vertraut. Die RAF verstand sich fatalerweise als selbsternannte Elite, die sich im Dienste vorgeblich höherer Ziele wie Antikapitalismus und Antikolonialismus anmaßten, Menschen zu ermorden, ein Gemeinwesen zu terrorisieren und auf perverse Weise dafür zu sorgen, dass der Staat in Reaktion auf diese Angriffe Freiheitsrechte aller Bürger:innen einschränkte. Rasterfahndung, Schleierfahndung, großer Lauschangriff, maschinenlesbare Personalausweise und Pässe, Einschränkungen der Verteidigerrechte, Kollektivstraftatbestände § 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) und § 130a (Werbung und Billigung von terroristischen Straftaten) Strafgesetzbuch waren die Folgen des Terrors der RAF und trafen Unschuldige, bis sie nach 1980 von der sozialliberalen Koalition und Gerhart Baum als Innenminister wieder abgeschafft wurden. Eine selbsternannte “Avantgarde” von in besten Zeiten etwa 30 Menschen hatte einer ganzen Gesellschaft indirekt durch ihr Handeln Freiheitseinschränkungen in großem Stil aufgezwungen.
Aus den Erfahrungen der RAF gelernt
Können etwa gezielte Regelverstöße eher abschrecken oder Sympathien erzeugen? Anti-AKW-Bewegung, Hausbesetzende, Friedensbewegung, Frauenbewegung und die Volkszählungs-Boykottbewegung haben diese Fragen lange und intensiv diskutiert. Aufgrund der Erfahrungen der 68er Bewegungen, innerhalb derer sich das Umfeld der späteren RAF radikalisierte, indem sie immer wieder und redundant in den gleichen Kreisen gleiche Strategiediskussionen führten, in denen Verzweiflung über die gesellschaftlichen Verhältnisse, Gewaltbereitschaft und Glaube an die eigene elitäre vor der Geschichte allein richtige Haltung zu einer terrorbereiten Hybris zusammenflossen, haben die sozialen Bewegungen der 80er und 90er Jahre immer die Gewaltfreiheit vornean gestellt und auf die Friedlichkeit auch der politischen Mittel geachtet. Dieses Wissen und diese Erfahrungen scheinen inzwischen verloren gegangen zu sein.
Auch Freiheitsrechte können durch Regelverstöße gefährdet werden
Es gab einmal eine Zeit, in der Menschen einfach ihre Flugkarte vorgezeigt haben, über das Rollfeld gegangen sind und anschließend einfach das Flugzeug betreten haben. Ich habe das als Kind in den 60er Jahren auf meinem ersten Flug von Köln nach Berlin-Tempelhof und zurück wirklich erlebt. Seitdem haben Flugzeugentführer, Terroristen, die Flugzeuge und sich selbst in die Luft sprengen und Erpresser dafür gesorgt, dass wir alle und unser Gepäck bis auf die Knochen durchleuchtet, unsere Kleidung durchsucht, wir im Zweifelsfall abgetastet und vermeintlich verdächtige Gegenstände wie ein zu großer Parfümflacon konfisziert und vernichtet werden. Als ich mit meiner Lebensgefährtin 1997 in den USA war, haben wir auf dem Rückflug 10 Flaschen Wein aus Utah im Handgepäck in der Fluggastkabine nach Deutschland importiert – heute undenkbar.
Sicherheit vor Freiheit
Es sind nicht nur Terroranschläge, es sind auch Regelverstösse, die nicht auf breite Solidarisierung und Akzeptanz stoßen, die Freiräume und Freiheitsrechte einschränken können. Ich habe mich damit abgefunden, bei jedem Flug durch eine Vielzahl unsäglicher, zum Teil die persönliche Integrität verletzender Kontrollen gehen zu müssen. Es geht den Staat einen Scheißdreck an, ob ich ein künstliches Hüftgelenk habe, wieviele Dildos ich mitführe, welche Zahnimplantate ich trage und ob ich an Schlafapnoe leide und deshalb ein entsprechendes Gerät in meinem Handgepäck mitführe. “Danke” an alle terroristischen A-löcher, die dafür gesorgt haben, dass ich das alles offenlegen muss.
Freiheit der Museen in Gefahr – und was noch?
Muss ich dank der elitär-bürgerlichen Demo-Yuppies der “letzten Generation” demnächst damit rechnen, dass ich nicht nur Taschenkontrollen, Prüfung meines Fotoapparates auf Echtheit, Durchleuchtungen wie im Flughafen und Abstände, Plexiglasflächen, Versiegelung von Kunstwerken, Videoüberwachung und ggf. handgreifliches Personal auch im Museum in Kauf nehmen muss? Muss ich hinnehmen, dass Orte der Erkenntnis und Kontemplation deswegen zum Ort der polizeilichen – oder schlimmer – privatunternehmerischen Sicherheitsüberwachung werden? Ich will das nicht. Ich will nicht hinnehmen, dass immer mehr selbstverständliche Freiräume unserer freiheitlichen Gesellschaft durch Idioten gefährdet werden, die die Konsequenzen ihrer politischen oder pseudo-politischen Aktionen nicht reflektieren. Sekundenkleber ist ganz bestimmt nicht die Lösung gegen Auswüchse des Kapitalismus, sondern mehrt im besten Falle den Gewinn der Firma Henkel. Und genau dort endet auch die Legitimation der selbsternannten “letzten Generation” und schlägt in billigen Aktionismus um – den niemand braucht.
Ich bin da eher der Meinung des Kollegen Matthias Dell:
https://www.deutschlandfunk.de/kolumne-die-mediale-logik-hinter-suppenwuerfen-dlf-d9fe006f-100.html
(Audio 4 min).
Auch dieser Medienprofessor weiss, wie heute der Hase läuft:
https://www.deutschlandfunk.de/wie-berichten-die-debatte-zur-letzte-generation-aus-medienethischer-sicht-dlf-0c002e28-100.html
(Audio 6 min).
Die strategischen Überlegungen sind einerseits richtig. Ich halte es auch für wahrscheinlich, dass junge Aktionist*inn*en da noch einiges dazulernen können.
Die Vergleiche, wie es früher einmal war, dagegen hinken. Das ist zu bescheidwisserisch.
Ich habe leider meistens nicht die Zeit mir 10 Minuten lange Radiobeiträge (oder Podcasts) anhören zu können. Und oft nichtmal die technischen Möglichkeiten. Da ärgert es mich immer, wenn die Produzenten keine Transkripte anbieten. Weil ich einfach viel schneller lesen kann, als hören… (sowas lässt sich eigentlich durch geeignete Software mit sprichwörtlich einem Knopfdruck bereitstellen.) Schade, denn so werde ich jetzt trotz deines Kommentares nicht erfahren, wie der Hase läuft und die strategischen Überlegungen nachzuvollziehen ist mir auch nicht gegönnt… Müsste mir eine:r vielleicht mal “Bescheid” sagen.