Sie muss gegen Diebstahl und räuberische Erpressung (u.a. “Arbeit”) verteidigt werden
Gegen Ende meiner Berufstätigkeit (2016) habe ich nichts mehr gehasst als Zeitdieb*inn*e*n. Menschen, die unendlich und ungebremst substanzlos schwätzen konnten, aber selbst nie auch nur einen einzigen Satz aufschrieben – dafür war ich ja da. Es war nicht nur deren Faulheit. Es war vor allem Angst vor Verantwortung. Schriftliches Position beziehen verstellt die beliebtesten Politiker*innen*ausreden: “Auf mich hört ja keiner”, “Da bin ich nicht dabeigewesen”, “Mir sagt ja keiner was” und “Ich war immer dagegen”. Heute als Rentner lasse ich mir weniger denn je meine knapper werdende Zeit stehlen. Anderen geliebten Menschen seine Zeit schenken, ist für die meisten das schönste Geschenk. Heute habe ich dem Deutchlandfunk 30 Minuten meiner Zeit geschenkt. Es hat sich gelohnt.
Die intellektuell leistungsstarke Redakteurin Barbara Schäfer, verantwortlich für die Reihe “Essay & Diskurs” hat ein Manuskript der Autorin Marleen Stössel: “Von Zeitgewinn und Zeitverlust” (Audio 29 min; Update nachmittags: jetzt mit Online-Lese-Version) ins Programm geholt.
Weil Sonntag ist, hat im DLF mittags noch niemand die Zeit gefunden, den Text nachlesbar online zu stellen. Das ist zwar auch freitags zu normalen Arbeitszeiten vorprogrammierbar. Aber wer sagts ihnen? Darum erlaube ich mir, um Ihnen einen Anreiz zum nachhören zu geben, hier den Teaser-Text des DLF einzukopieren:
Die Geschäfts- und Arbeitswelt prägt heute das Motto „Zeit gleich Geld“. Paradox ist: In der digitalen Welt entsteht Zeitgewinn bei gleichzeitigem Zeitverlust.
Soziologie und Philosophie, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt das Thema. Zeit haben, Zeit gewinnen, keine Zeit haben oder Zeit verlieren – ständig tauschen wir uns über dieses Erleben aus wie sonst nur noch über das Wetter. Nachrichten erreichen uns über räumliche Fernen hinweg nahezu synchron und sind oft im nächsten Augenblick wieder überholt. Ihre Flut tilgt jeglichen Zeitgewinn, verändert oft die Substanz der Mitteilung selbst. Was uns mit den digitalen Hilfen die Arbeit erleichtern, sie also auch beschleunigen oder gar abnehmen soll, kehrt sich immer wieder ins Gegenteil um: Einsparung von Zeit kostet Zeit. Unser kostbares Gut, Zeit, wird gewogen und aufgewogen nicht in Lebensqualität, sondern quantitativ in Algorithmen und Geld. Was aber ist das für ein Gut, dessen Knappheit wir dauernd beklagen oder als Banner vorgeblicher Wichtigkeit vor uns hertragen?
Marleen Stoessel findet Antworten von Augustinus bis Hartmut Rosa. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitete als Hochschuldozentin, Dramaturgin und Theaterregisseurin und lebt heute als freie Essayistin und Kulturpublizistin in Berlin und veröffentlichte zuletzt das Buch „Lob des Lachens – Eine Schelmengeschichte des Humors” im Insel Verlag.
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