Emmanuel Macron hat eine fragwürdige Rentenreform durchgesetzt und dabei den schlimmsten anzunehmenden Unfall für die Demokratie in Frankreich in Kauf genommen. Trotz breitem Widerstand der Gewerkschaften, der Opposition und bröckelnder Unterstützung im eigenen Regierungslager hat er zuletzt mit dem Rückgriff auf eine Verfassungsklausel, die die Verabschiedung des Gesetzespakets per Dekret unter Vermeidung einer Abstimmung im Parlament ermöglicht, durchgepeitscht. Niccolo Macchiavelli hätte dies sicher gelassen zur Kenntnis genommen. Besonders diese letzte Kunstgriff, die “Reform” durchzusetzen, wird als demokratischer Makel mit Macrons Regierung verbunden bleiben.

Ob sich die “Macron-Reform” ähnlich wie “Hartz IV” zu einem sozialpolitischen Desaster der sie durchsetzenden Partei “La République en marche” entwickeln wird, ist in den letzten Wochen immer wahrscheinlicher und aufgrund der letzten Schritte der parlamentarischen Behandlung ziemlich sicher geworden. Dabei lohnt es sich, einen Blick auf die Geschichte dieser eher liberalen Bewegung zu richten, und wie und warum sie entstanden ist. Emmanuel Macron, ursprünglich Sozialist gründete am Ende der Ära des sozialistischen Präsidenten Hollande die Bewegung “La République en Marche” als zunächst eher sozialliberale Partei und Bewegung gegen die in Strukturen erstarrten Sozialisten, die schon 2017 in Gefahr waren, die Präsidentschaftswahlen zu verlieren, gegen die ewige Faschistin und Chefin des “Front National”, inzwischen getarnt als “Rassemblement National”, Marine Le Pen, Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen.

Neuanfang mit neuen Menschen pro Demokratie, pro Europa

Der Kern Macrons Politik in seiner neuen Bewegung, die ihn von Erfolg zu Erfolg und zum Gewinn der Präsidentschaftswahlen trug, war eine einmalige Mobilisierung der jungen, linksliberalen Wähler*innen, die auch selbst bereit waren, Verantwortung zu übernehmen, und den in seit Jahrzehnten zwischen Gaullisten und Sozialisten, Gewerkschaften und Bürokraten erstarrten Zentralstaat in Bewegung zu bringen, Reformen anzustoßen. Inhaltlich ging es den meisten Menschen, die sich engagierten, um ein modernes Europa und eine weltoffene Innenpolitik. Allerdings verstrickten sich die Reformer zum einen – und hier gibt es Parallelen zur Ampelkoalition – in die Niederungen der Realpolitik, Flüchtlingskrise, soziale Verwerfungen, Maßnahmen gegen den Klimawandel und Ukrainekrieg. Besonders die Maßnahmen gegen den Klimawandel brachten die “Gelbwesten”-Bewegung gegen Macron auf und der Faschistin Le Pen viele Stimmen ein. Seine Wiederwahl 2022 wurde deshalb zu keinem Spaziergang und bedeutete für viele die “Wahl des kleineren Übels”.

Rentenreform ohne wirkliche Begründung

Was Macron letztlich dazu brachte, derart rigoros seine Rentenreform durchzusetzen, ist nicht ganz klar. Französische Wissenschaftler*innen rechnen jedenfalls vor, dass es in Frankreich, anders als etwa in Deutschland, wo es nach den Babyboomern der 60er Jahre zu einem drastischen Geburtenrückgang kam, einen ähnlichen demografischen Knick in der Rentenstatistik niemals gegeben hat. Deshalb gebe es keine demografischen Gründe für Macrons Rentenreform. Natürlich erscheint es für Deutsche, die vor wenigen Jahren das Rentenalter auf 67 hochgesetzt haben, fast wie eine Diskussion aus dem Schlaraffenland, wenn Macron die Menschen statt wie bisher mit 62, erst mit 64 in Rente gehen lassen will. Der Schlüssel zu Macrons Härte in dieser Frage ist sein neoliberales Anliegen, für die nächsten Jahrzehnte eine Mitfinanzierung der Renten aus dem Staatshaushalt zu vermeiden, und nimmt damit schon ideologische Züge an.

Rentenreform als Machtfrage

Macron hat diese Reform zur Machtfrage seiner zweiten Amtszeit erklärt. Élisabeth Borne, die Ministerpräsidentin der “Republique en Marche”, hat zuletzt die Reform in den beiden Häusern des Parlaments allein durchkämpfen müssen. Sie war es auch, die den beiden letzten Mißtrauensvoten standhalten musste – mit einer bröckelnden Solidarität der eigenen Partei. Denn trotz Unterstützung der konservativen Partei wies das Parlament das zweite Mißtrauensvotum gegen Macron mit nur neun Stimmen Abstand zurück. Ein für das Regierungslager verheerender Sieg. Denn dieses Ergebnis kam ausschließlich zustande, weil sich die rechten Republikaner auf die Seite der Regierungspartei geschlagen haben. Der gestrige Auftritt Macrons im Fernsehen hat diesen Eindruck in keiner Weise beseitigen können. Er bedauerte in seinem Interview, dass er die Gründe für die Reform nicht überzeugend vermitteln konnte. In der Tat ist genau das Macrons Kernproblem.

Frankreich an der Schwelle des rechten Abgrundes

Kaum waren die Berichte über die Abstimmungen im Parlament verhallt, strömten schon die Oppositionsabgeordneten zu den Protestierenden auf der Straße, die seit Wochen Demos und Blockaden gegen Macron und seine Regierung machen. Das Problem Macrons mit diesem politischen “Erfolg” ist, dass die Methode, mit der er errungen wurde, die demokratischen Ansprüche seiner liberalen Partei oder besser Bewegung desavouiert. Noch schlimmer sind die Alternativen: der linksdemokratische oppositionelle Jean-Luc Mélenchon steht in gewisser Weise auf ebenso verlorenem Posten, wie Bernie Sanders in den USA: zwar erreichte er 2022 bei den Präsidentschaftswahlen 21,7%, aber seine linke Partei ist weit davon entfernt, demokratische Mehrheiten bei der nächsten Wahl bilden zu können.

Weitere Reformen zweifelhaft

Ob es noch überhaupt in Frankreich dringend notwendige Reformen geben wird, wie etwa die Stärkung der Regionen gegenüber Paris oder die Reform des Wahlsystems, steht in den Sternen. Durch die Zusammenarbeit mit den rechten Republikanern hat Macron selbst diese hoffähig gemacht. Macron hat immer wieder bewiesen, dass er ein kluger Intellektueller ist und dass gleichzeitig dies sein größtes Problem ist. Er gilt als arrogant, besserwissend, emphatiearm und beratungsresistent. Das sind keine guten Voraussetzungen, um seine politische Nachfolge – eine dritte Amtsperiode ist ausgeschlossen – zu regeln. In den nächsten Tagen werden Gewerkschaften, Opposition und Gelbwesten weiter mit Demonstrationen und Streiks gegen die beschlossene Rentenreform vorgehen. Ob Macron das aussitzen kann, ist zu bezweifeln, auch wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2027 anstehen. So droht die Salonfaschistin Marine Le Pen, die wohlweislich Kreide gefressen hat, mangels charismatischer Person des linksliberalen Spektrums allein durch Nichtstun nächste Präsidentin Frankreichs zu werden. Die Folgen für die deutsch-französische Achse, die ohnehin schon einen Schlag hat, für die Europäische Union und ihre Binnenpolitik und für den Ukrainekrieg, sollte er bis dahin noch nicht beendet sein, wären unabsehbar.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net