Es war schon eine recht eigenwillige Konstellation, die die Delegationsreise des französischen Staatspräsidenten Macron nach China gemeinsam mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Nach allem, was ich als Politikwissenschaftler, als Vorstandsmitglied von Jugend- und Studentenorganisationen der Regierung während des “kalten Krieges” gelernt habe, wäre es mir äußerst schwer gefallen, eine diplomatisch angemessene Einschätzung des Protokolls dieses Besuches in China zu leisten. Da reiste einerseits der Präsident Frankreichs als Staatsoberhaupt des neben Deutschland wichtigsten EU-Staates mit einer riesigen Wirtschaftsdelegation an, daneben die Präsidentin der EU-Kommission, also praktisch die Notarin europäischer Politik. Einer europäischen Politik, die derzeit allerdings keinerlei abgestimmte Linie oder Position hat.
Das Ergebnis war dementsprechend nicht verwunderlich. Der französische Präsident wurde von Xi Jinping mit allen diplomatischen Ehren als Staatspräsident empfangen, seine wirtschaftspolitische Delegation bekam die gewünschten Kontakte und konnte Kontrakte abschließen. Ursula v.d. Leyen wurde die Möglichkeit gegeben, ihren politischen Senf dazu zu geben, der im Kern dem Zielen der Reise Macrons widersprach, aber mangels realer Machtposition auch nicht weiter störte. Hinzu kam, dass das chinesische Protokoll den französischen Präsidenten deutlich als wichtiger behandelte und hervorhob, als die EU-Kommissionspräsidentin. Wer in diplomatischen Dingen einigermaßen erfahren ist und nicht völlig stümpert, hätte diese gemeinsame Reise von vornherein ablehnen müssen.
Ohne abgestimmte europäische Position zu China
Aber wie der Überfall des Aggressors Russland auf die Ukraine die zivilisatorischen Errungenschaften des endenden 20. Jahrhunderts beiseite gefegt hat, gelten anscheinend diplomatische Gepflogenheiten und Rücksichtnahmen auf die Gesamt-EU für diese Kommissionspräsidentin nicht. So, wie sie ohne wirkliches politisches Mandat nach Kiew reiste und der Ukraine gegen jede Vernunft und Realitätstauglichkeit die EU-Mitgliedschaft anbot, reiste sie nun wurschtig und unüberlegt außerhalb jeden abgestimmten Mandats mit Macron nach China, um dort die EU eher zu blamieren, als zu repräsentieren. Von der Leyen sah offensichtlich ihre Aufgabe darin, die Positionen Macrons (un-)diplomatisch zurecht zu rücken. Ob sie dabei für sich selbst sprach, für die Kommission, für ganze Union, für die Visegrad-Staaten, für die Rechte in Ungarn oder in Polen, für Deutschland – die Chinesen können es sich aussuchen, es ist aber auch dank ihres unabgestimmten Auftretens politisch irrelevant. Und sie konterkarierte damit genau das, was Macron anstrebt: die eigenständige Artikulation europäischer Interessen.
Macrons Alleingang innereuropäisch nicht gelungen
Auch Macron muss sich die Kritik gefallen lassen. bei dieser gemeinsamen Aktion europapolitisch nicht besonders geschickt gehandelt zu haben. Europas interne Meinungsbildung findet nun mal nicht über Pressekonferenzen statt. Denn es ist ein Unterschied, wenn Macron oder der Kanzler alleine nach China fahren und anschließend erklären, was sie im Interesse ihres Landes und der EU für richtig halten und das anschließend zu einer gemeinsamen EU-internen Positionsbildung nutzen. Macron hat leider etwas elitär-napoleonisches an sich, was ihm schon bei der innenpolitischen Rentendiskussion auf die Füße gefallen ist. Die mangelnde europäische Position ist nur möglich, weil die Achse Paris-Berlin schon lange nicht mehr funktioniert. Wenn Macron wirklich will, was er erklärt hat, dass Europa eine eigene, unabhängige Stimme entwickeln soll, muss er zuerst mit Scholz das deutsch-französische Verhältnis reparieren und beide müssen eine Strategie entwickeln, vor allem die Abweichler hinter sich zu bekommen.
Eine europäische Position erfordert gemeinsame Interessen
Es mag ja sein, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine scheinbar zur Einigung von NATO und Europa beigetragen hat. In Wirklichkeit setzt sich jedoch fort, was sich bereits seit Jahrzehnten angebahnt hat, dass die überwiegend rechtslastigen bis antidemokratischen Regierungen in Ungarn, Polen und Teilen des Baltikums und der Visegrad-Staaten in wechselnden Koalitionen die EU als ökonomische Subventionskuh betrachten, die man nach Belieben melken und trotzdem demokratische Regeln verletzen kann. Das fängt bei der gerechten Verteilung von Flüchtlingen an und hört beim Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit auf. Angesichts des Ukraine-Krieges kam noch die politische Erpressungsstrategie Polens und des Baltikums hinzu, Deutschland zu Flugzeug- und Panzerlieferungen öffentlich zu nötigen. Dies gehört zu den zweifelhaftesten Manövern europäischer Unsolidarität. Hier liegt ein wichtiges Feld der Diplomatie Von der Leyens brach, der z.B. gute Kontakte zu Viktor Orban nachgesagt werden, und hier versagt sie im Kernbereich ihres eigenen Jobs. Nicht auszudenken, welchen Schaden sie anrichten könnte, sollte sie wirklich Nachfolgerin des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg werden.
Macrons Aufschlag trotz kleiner Fehler richtig
Seit Monaten läuft im Windschatten des Ukraine-Konflikts, der die USA jeden Tag mehr Milliarden Dollar für Material und Munition sowie intern strategisch gebundene Manpower kostet, die Feindbilderklärung gegenüber China. Was eigentlich angesichts von 30 Jahren Globalisierung wie ein Treppenwitz der Geschichte erscheinen müsste, wird von der Biden-Administration auf die Spitze getrieben. Plötzlich hat Amerika die Folgen seiner eigenen ökonomischen Strategie entdeckt, die sich ökonomisch mehr und mehr gegen sich selbst zu richten beginnt. Außer den USA hat diese Strategie in ähnlicher Weise Großbritannien praktiziert. Außer fünf Formel 1-Teams und vielen Whiskybrennereien gibt es heute kaum noch produzierende Industrie im Vereinigten Königreich. Das Land ist weitgehend de-industrialisiert – bis auf den Finanzplatz London. Deshalb suchten die Tories im “Brexit” die Flucht nach vorn, um quasi als “Flugzeugträger der US-Finanzindustrie” vor Europa zu ankern und mit allen Rechten, aber ohne jegliche Pflichten die EU und ihre Wirtschaft als Spekulationsplatz aussaugen und ökonomisch durch Dumpingsteuern übertrumpfen zu können. Diese Versuch ist durch das ökonomische Desaster des Brexit vorerst gescheitert.
Die Folgen der Globalisierung schlagen zurück
Die USA haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Politik der Verlagerung von Produktion in Billigländer, allen voran China betrieben. Apples iPhones, IBMs Laptops (heute Lenovo) und Gebrauchsgüter von der Kaffeemaschine bis zu 75% der Autoteile werden fast ausnahmslos in China für den US-Markt hergestellt. Die neoliberalen Marktideologen glaubten lange, dass Walmart, Safeway und Amazon an der Spitze der Wertschöpfungskette die westliche Welt beherrschen könnten, während die chinesischen Sklaven weiter für die Profite der Handelsketten schuften. Inzwischen hat China diesen Gap aufgeholt, nicht zuletzt durch eine kluge ökonomische Strategie. Wer in China ein Unternehmen gründet, muss es als Joint-Venture mit maximal 49% Beteiligung des Investors gestalten. Der/die HR-Manager/in (Personalchef) muss zwingend Chinese sein, Gewinntransfers ins Ausland werden kontrolliert und reglementiert. Expansionen, Steigerungen der Produktivität und der Löhne bis in die Details des Businessplans werden von der chinesischen Administration vorgegeben und geprüft. Aber ist das China wirklich vorzuwerfen, wenn westliche Unternehmen auf diese Bedingungen eingehen? Trump würde es “China first” nennen.
China wahrt seine Interessen und baut sie aggressiv aus
Meine Erfahrung in China-Projekten würde ich folgendermaßen auf den Punkt bringen: wenn der chinesische Partner fragt: “Was machen wir beide zusammen?” meint er: “Was machen wir beide zusammen für mich?” Aber ist das wirklich verwunderlich im Kapitalismus? Alle führenden Länder des Welthandels haben genau so ihre Karriere als Exportnationen begonnen. Und nun kommt da die Volksrepublik China und erdreistet sich als bevölkerungsstärkstes Land des Planeten, ein ökonomischer Riese zu werden, der den Status des “Entwicklungslandes” längst abgeschüttelt hat? Es ist ja legitim, wenn im Wettstreit der Wirtschaftssysteme die USA darauf reagieren, dass ihnen auf dem Weltmarkt neben Japan und Deutschland ein weiterer Konkurrent gegenübertritt. Aber hat der sich derzeit anbahnende Konflikt USA-China noch mit Ökonomie zu tun oder wird er zum ideologischen Kampf um Taiwan stilisiert? Sind die USA deswegen etwa bereit, einen Krieg gegen China zu führen?
Die Rolle Formosas im Wandel der Geschichte
Manche Menschen meiner Generation kennen Taiwan noch von Konserven mit “Formosa-Spargel” der 60er Jahre in unseren Delikatessgeschäften, die sich wie die Champignons auf den Tischen der Mittelschichten ausbreiteten. Formosa oder Nationalchina war die Insel, auf die sich nach dem Sieg Mao Tse Dongs 1949 in der Volksrevolution der faschistische Diktator Chiang Kai-Shek zurückzog. Nach dem Koreakrieg und gemäß der “Domino-Theorie” der USA mag es möglich gewesen sein, dass für das UNO-Mitglied China das rechtsextreme Regime auf Formosa sprach. Spätestens nach Nixons Reise in die Volksrepublik 1972 war diese Farce auch aus westlicher Sicht zu Ende. Dass 1971 statt einer Einparteien-Provinzdiktatur der Koumintang die sozialistische Zentralregierung in der UNO aufgrund der Resolution 2758 anerkannt wurde, war folgerichtig und wurde nicht ernsthaft kritisiert. Schon damals wie heute vertrat die Regierung in Beijing die Ein-China-Politik, nach der Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet wurde. Daran hat sich nichts geändert. Geändert hat sich allerdings, dass Taiwan sich inzwischen zu einer Demokratie mit freien Wahlen und Pressefreiheit gewandelt hat.
It’s economy, stupid !
Entscheidend für den Westen aber ist die immens gewachsene ökonomische Bedeutung Taiwans als strategischer Standort eines erheblichen Anteils der Halbleiterproduktion weltweit. Die Lieferkettenprobleme der europäischen und amerikanischen-Automobilindustrie während des Corona-Lockdowns und jüngst die Probleme Russlands im Ukraine-Krieg, Chips für die Waffen- und Kriegsproduktion zu gewinnen, machen das mehr als deutlich. Russland, das z.B. versucht, über die Türkei die entsprechenden Embargos der EU und NATO-Staaten zu umgehen, aber auch der “Inflation Reduction Act”, mit dem die USA versuchen, Chipproduktion wieder in die USA zurückzuführen, machen die ökonomische Bedeutung klar, die Taiwan im “Wettstreit” zwischen China und den USA hat. So erklärt sich, was die wirklichen Triebkräfte der wachsenden Kanonenbootpolitik auf Seiten der USA und auch Chinas sind.
Europas eigenständige Rolle ist ökonomisch richtig und friedenssichernd
Vor diesem Hintergrund ökonomischer Interessen wird klar, dass der aktuell zur Demokratiefrage hochstilisierten Taiwan-Politik massive strategisch-ökonomische Interessen der USA zugrunde liegen, von denen sich die Europäische Union durch eigene ökonomische Anstrengungen abkoppeln muss, um nicht in einen folgenschweren, langfristigen Konflikt hinein gezogen zu werden. Aufgrund der Größe und künftig abzusehenden Rolle Chinas bleibt für die Europäische Union die Entwicklung einer eigenständigen, gemeinsamen und möglichst einheitlichen Haltung gegenüber China alternativlos. Das bedeutet keinen Verzicht auf die Förderung und Forderung demokratische Werte, aber auch nicht die Instrumentalisierung derselben, um ökonomische Interessenkonflikte zu ideologischen Freiheitskämpfen umzudeuten, wie es die USA derzeit versuchen.
Europas Rolle zur Deeskalation eines drohenden globalen Konflikts
Nur ein starkes und einheitlich handelndes Europa kann eine Zuspitzung der sich derzeit formierenden Machtblöcke eines neuen “kalten Krieges” vermeiden und könnte dazu beitragen, eine Eskalation des drohenden Taiwan-Konflikts zu entschärfen. Hier wird die deutsche und die französische Politik wieder von der Realität eingeholt, Ohne deutsch-französische Einigung auf eine gemeinsame Chinastrategie und eine Durchsetzung dieser in der EU droht Europa in der Tat zum machtlosen Beobachter der US-Politik einerseits und zum Spielball von Chinas Diplomatie gegenüber europäischen Einzelstaaten andererseits zu werden, das seine Politik auf eine zerstrittene Europäische Union nach dem Prinzip “Teile und Herrsche” ausrichten kann.
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