Europa braucht eine eigene geopolitische Strategie – Emmanuel Macron wird für seine Aussagen, Europa solle von den USA unabhängiger werden, stark kritisiert. Dabei hat er richtige Punkte erwähnt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seinen Äußerungen zum Verhältnis zwischen der EU, den USA und der Volksrepublik China einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zumindest bei den transatlantisch ausgerichteten Eliten in den Nato-Staaten. Dabei hat Macron nur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht, nämlich den bisherigen fatalen außenpolitischen Kurs der EU, im Schlepptau der USA, infrage zu stellen.

Die USA verlangen von Europa, gemeinsam mit ihnen einen neuen Kalten Krieg gegen Peking zu starten. Dieses für Europa hochriskante Unterfangen, welches nicht nur den Weltfrieden sondern die politische und ökonomische Stabilität des Kontinents ernsthaft gefährdet, wird von der politischen Klasse Berlins größtenteils willfährig umgesetzt.

Jenseits des Rheins sind die Franzosen sicherlich die weit profunderen Denker, wenn es um die Bereiche Geopolitik und historische Perspektiven geht. Gerade im direkten Vergleich zu den Deutschen, wo es im politischen Berlin nicht nur an Kompetenz fehlt, sondern auch ein geistiges Vakuum sichtbar wird.

Die strategische Rivalität zwischen China und Russland

Macron wies darauf hin, dass ein Krieg zwischen den USA und der Volksrepublik im Bereich des Wahrscheinlichen liege. Er kommt zur Erkenntnis, die EU solle sich nicht auf eine Seite schlagen, zumindest nicht „blind“ auf die der USA.

Dr. Peter Rudolf von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin sieht den chinesisch-amerikanischen Konflikt, welchen er als Weltkonflikt interpretiert, wie folgt gegliedert: Das amerikanisch-chinesische Konfliktsyndrom setzt sich aus mehreren Elementen zusammen. Ihm zugrunde liegt eine regionale, aber auch zunehmend globale Statuskonkurrenz.

Diese Konkurrenz um Einfluss mischt sich mit einem ideologischen Antagonismus, der auf amerikanischer Seite inzwischen stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Da sich die USA und China als potentielle militärische Gegner sehen und die Planungen danach ausrichten, prägt auch das Sicherheitsdilemma die Beziehungsstruktur.

Die strategische Rivalität ist besonders an der maritimen Peripherie Chinas ausgeprägt, dominiert von militärischen Bedrohungsvorstellungen und der amerikanischen Wahrnehmung, China wolle in Ostasien eine exklusive Einflusssphäre etablieren. Die globale Einflusskonkurrenz ist aufs Engste mit der technologischen Dimension der amerikanisch-chinesischen Rivalität verwoben. Es geht dabei um die Vorherrschaft im digitalen Zeitalter. Für die internationale Politik birgt die sich intensivierende strategische Rivalität zwischen den beiden Staaten die Gefahr, sich zu einem strukturellen Weltkonflikt zu verdichten. Dieser könnte eine De-Globalisierung in Gang setzen und zwei Ordnungen entstehen lassen, die eine von den USA dominiert, die andere von China.

Für Europa sei es nun „höchste Zeit“ aufzuwachen

Schon im Herbst 2019, im Vorfeld des 70. Geburtstages der Nato, hatte Macron sich in einem Interview mit dem britischen Magazin „The Economist“, einem Sprachrohr des liberalkapitalistischen Establishments angelsächsischer Prägung, geäußert: „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato.“ Europa stehe am Rande eines Abgrunds und müsse anfangen, strategisch über sich selbst als geopolitische Macht nachzudenken, sonst „haben wir nicht mehr die Kontrolle über unser eigenes Schicksal“.

Für Europa sei es nun „höchste Zeit“ aufzuwachen, sagte der französische Präsident in dem Interview. Macron kritisierte, dass es „keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren Nato-Verbündeten gebe. In dem Interview plädierte Macron dafür, dass Europa seine militärische Souveränität wiedererlangen muss. Dies ist zweifelsohne richtig und von beklemmender Aktualität. Der französische Präsident orientiert sich hier anscheinend an einer gaullistischen Strategie.

Macron auf De Gaulles Spuren?

Charles André Joseph Marie de Gaulle, der wohl einflussreichste Staatsmann Frankreichs – vielleicht auch Europas – im 20. Jahrhundert plädierte für ein starkes Europa, vom Atlantik bis zum Ural, unter Einschluss von Moskau. Schon früh erkannte der General im Amt des Staatsmannes, dass diese Vision im schroffen Gegensatz zu der Strategie der USA stand.

Als sich de Gaulle im März 1966 den Strukturen der Nordatlantikpakt-Organisation (Nato) entzog, liefen die Vorbereitungen für diesen Coup unter strengster Geheimhaltung. De Gaulle hatte nur seine Außen- und den Verteidigungsminister eingeweiht.

Erst unmittelbar hatten die übrigen Minister erfahren, dass Paris seine militärische Mitarbeit in der Nato beenden werde. In einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Lyndon Baines Johnson erklärte der französische Staatsmann, dass Frankreich beabsichtige, „seine volle nationale Souveränität auf seinem Territorium“ wiederherzustellen und sich auch nicht mehr an der „integrierten Kommandostruktur des Bündnisses“ zu beteiligen.

Paris zog daraufhin am 1. Juli 1966 seine Truppen unter Nato-Befehl zurück. Formell blieb das Land Mitglied des Bündnisses, aber das Nato-Hauptquartier war immerhin gezwungen, von Paris nach Brüssel umzuziehen und seine Truppenverbände größtenteils in die Bundesrepublik zu verlagern. De Gaulle störte sich zunehmend an der angloamerikanischen Dominanz im Bündnis, das heißt: der Herrschaft der USA, die bis heute anhält.

„Wenn es zu verhindern gilt, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert, kann nur eine politische Lösung den Frieden wiederherstellen.“ Diese weisen Worte von De Gaulle, welche der damalige französische Präsident am 1. September 1966 in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh äußerte, gegen die US-Militärintervention in Vietnam, sind von zeitloser Aktualität.

De Gaulle warb damals für ein Abkommen, das „die Neutralität der Völker Indochinas wie auch deren Selbstbestimmungsrecht gewährleisten sollte“. Präsident Macron äußerte dazu folgerichtig, als er analysierte, dass Amerika eine andere Sicht auf die Welt und eine andere Geografie habe, was bedeuten kann, dass unsere Interessen nicht übereinstimmen und darum die internationalen Beziehungen Europas nicht ausschließlich auf den Vorgaben Washingtons ruhen dürfen.

Europa in Gefahr

Denn was hat es der EU gebracht, ihre außenpolitischen Zielsetzungen bedingungslos unter den Oberbefehl Washingtons zu stellen? Für Europa hat sich daraus keine friedliche und stabile geopolitische Perspektive ergeben. Von Nordafrika über den Nahen Osten hin zum Balkan und die Ukraine ist Brüssel mit geopolitischen Brennpunkten in der unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert. Welche Werte eine „werteorientierte Außenpolitik“ darstellen, welchen sich Annalena Baerbock verpflichtet fühlt, wird zur Stunde deutlich. Im Krisenfall hat dieses Konzept nichts zu bieten außer Lippenbekenntnissen.

Was für einen Entstehungsprozess wir aktuell erleben und durchleben, weiß niemand zu sagen. Was die momentane Ausgangslage angeht, erscheint aber ein Zitat des französischen Schriftstellers Paul Valéry von beklemmender Aktualität. „Et nous voyons maintenant que l’abîme de l’histoire est assez grand pour tout le monde“ (Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle).

Über Ramon Schack / Berliner Zeitung:

Dieses ist ein Beitrag aus der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) und darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.